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Zehntes Kapitel.

Ein frostiger, stürmischer Novemberabend senkte sich über die Stadt. Schwerer Nebel wogte durch die Straßen. So dicht war er, daß man kaum fünf Schritte weit sehen konnte.

Trotzdem stand Klementine v. Teck wohl schon eine Stunde lang an Fenster und starrte in das graue Einerlei hinaus. Ihre Augen waren von Tränen verschleiert.

Endlich wandte sie sich nach dem Zimmer zurück, einem dürftigen Raum von recht bescheidener Ausdehnung. Ihre Augen wanderten unbewußt über die armseligen Möbel hin, während ihr Ohr lauschte.

Die Tür zum Nebenzimmer war handbreit offen. Ganz leise schlich Klementine zu ihr hin, und ganz leise fragte sie: »Bist du wach?«

»Ja, Klemi, komm herein! Ich habe großen Durst!«

Sie betrat das Zimmer. Im Bette, das an dessen Hinterwand stand, lag ihr Bruder.

»Mein armer, lieber Ernst!« sagte das Mädchen zärtlich, und sich über ihn beugend gab sie ihm Wasser zu trinken.

Man mußte den Baron genau ansehen, um ihn wiederzuerkennen, so elend, so verfallen sah er aus. Während seiner vielwöchentlichen Krankheit war ihm ein dichter Bart gewachsen, tief lagen seine Augen in den Höhlen, und wachsbleich war sein Gesicht. Der Arme war kaum noch der Schatten seiner früheren Erscheinung.

Er streckte seine abgemagerte Hand der Schwester entgegen und bat: »Bitte, mach Licht! Es ist gar so traurig, im Finsteren zu liegen.«

»Gleich, gleich wird es hell sein,« entgegnete sie und zündete rasch eine Lampe an.

Diese beleuchtete auch hier eine nur sehr bescheidene Einrichtung, ein schmales Bett, einen Kleiderschrank, ein Sofa und zwei Stühle. Aber auch auf das Bastkörbchen fielen die freundlichen Strahlen, welches auf dem Tische stand und mit köstlichem Obst gefüllt war.

»Gewiß war Kern wieder hier,« meinte der Kranke, es erblickend.

Klementine nickte. »Er ist so gut!« sagte sie bewegt. »Jetzt kann ich es dir ja sagen. Fast täglich ist er hier gewesen, um sich nach deinem Befinden zu erkundigen, und all das schöne Obst, das ich dir geben durfte, hat er gebracht. Auch sein Bruder ist schon ein paarmal nach Wien hereingekommen, um nach dir zu sehen. O, es gibt doch auch recht gute Menschen! – Aber sag, wie geht es dir heute? Du hast, meine ich, zum ersten Male wieder so recht tief und gesund geschlafen.«

Ernst reichte ihr die Hand. »Ja, ich glaube, ich werde wieder gesund werden,« sagte er. »Mir ist's endlich wieder ganz klar im Kopfe, und die Müdigkeit ist auch nimmer so arg.«

»Gott sei Dank!« fuhr sie fort, »übrigens habe ich schon seit Tagen keine große Sorge mehr um dich gehabt, und gestern sagte der Doktor, daß er nicht mehr zu kommen brauche.«

»Der Mann ist wohl für sein Honorar besorgt?«

»Sei nicht bitter, Ernst. Er ist übrigens bereits bezahlt. Keßler hat das übernommen. Er war zweimal hier. Jetzt ist er leider selber krank.«

»Was fehlt ihm denn?«

»Ich weiß es nicht.« Klementines Stimme klang recht gepreßt, was Ernst zum Glück nicht merkte, und da eben die Frau, bei welcher sie wohnten, hereinkam und meldete, Herr Kern wäre wieder draußen, fragte die Baronesse lebhaft: »Er darf doch hereinkommen?«

Ernst nickte.

Da eilte sie hinaus. Auf ihrem kurzen Wege seufzte sie schwer auf.

Als Franz Kern bei ihrem Bruder saß und den Kranken auf seine liebe Art aufheiterte, schlich sie sich in ihr Zimmer und setzte sich still in einen Winkel. Sie war ja so froh, daß Ernsts Genesung nun so gut wie sicher war, aber daneben gab es noch so viele bange und schwere Sorgen. Die Armut, die wirkliche Armut, die sie jetzt kennen gelernt und vor der es fast kein Entrinnen gab – nein, diese Not, wie die peinigte, wieviel Demütigendes sie mit sich brachte! Wieviel sie sich selbst versagen mußte, daran dachte Klementine kaum, aber wieviel sie ihrem lieben Kranken hatte versagen müssen – das hatte ihr so furchtbar weh getan.

Als er, gleich nachdem sie das Vaterhaus hatten verlassen müssen, zusammengebrochen war, da wäre sie am liebsten mit ihm gestorben. Aber man stirbt nicht so schnell. Selbst der tatsächlich dem Tode sehr nahe Ernst kämpfte gegen ihn an und sträubte sich gegen das Sterben. Und sie mußte den Bruder doch pflegen und lernte, so dicht neben der Todesgefahr stehend, das Leben auch wieder lieben und schätzen.

Es war ja freilich fast nichts, fast gar nichts für sie geblieben. In trotzigem Stolz hatten sie der Furie, die sie verderben wollte, selbst das Letzte noch hingeworfen, worauf ihnen sogar das mitleidlose Gesetz ein Recht gegeben hatte, und so waren sie mit zwei Koffern und nicht ganz dreihundert Kronen aus dem Vaterhause gegangen.

Ernsts Krankheit hatte das bißchen Geld rasch verzehrt. Ihn ins Spital zu geben, dazu hatte sich Klementine nicht bestimmen lassen. Franz Kern wie Doktor Keßler fanden ihr Handeln ebenso unpraktisch wie – begreiflich. Und weil sie es begriffen, halfen sie ihr in zartester Weise es durchzuführen. Keßler nahm in einer Art, die sie nicht verletzen konnte, den Arzt und die Medikamente auf sich, und Franz Kern kam fast täglich, um nach dem Kranken zu sehen und um ihm und seiner Schwester zarte Aufmerksamkeiten zu erweisen.

Aber vor einer Woche war der alte Keßler erkrankt. Eine Lungenentzündung hatte ihn niedergeworfen, und heute nachmittag hatte Klementine ein Telegramm von Keßlers Wirtschafterin erhalten, in welcher ihr die Frau meldete, daß der Doktor in der verwichenen Nacht verschieden sei.

Ein treuer Freund weniger!

Das bedeutete in solch trauriger Lage sehr – sehr viel!

Die arme Baronesse wurde in ihrem Sinnen gestört. Sie hörte, wie Kern sich verabschiedete. Sie stand auf und zündete ihre Lampe an, denn sie wußte, daß Kern noch zu ihr hereinkommen werde.

In der Tat trat er bereits in ihr Zimmer. »Ich will Ihnen nur eine gute Nacht wünschen, Baronesse,« sagte er laut, indessen er die Verbindungstür schloß. Dabei schaute er traurig auf das junge Mädchen.

Sie verstand seinen Blick. »Wieder nichts?« fragte sie.

»Wieder nichts!« antwortete er. »Alle, bei denen ich in Ihrem Namen wegen Sprach- und Musikstunden anfragte, wollen Zeugnisse sehen.«

»Die Leute haben nicht unrecht,« entgegnete Klementine sanft. »Warum auch sollen Unfertige den Fertigen das Brot wegnehmen.«

»Aber Sie gehen dabei zu Grunde!« meinte er erregt. »Das wäre doch noch der einzig mögliche Verdienst für eine Dame Ihres Standes.«

Ihre Hand auf Kerns Arm legend, entgegnete sie: »Lieber Freund, lassen Sie uns vor allem vergessen, daß ich einem gewissen Stande angehöre. Arbeiten will ich, verdienen muß ich – das allein ist maßgebend. Mit dem Stundengeben scheint es nicht zu gehen, ich muß also an eine Beschäftigung denken, für welche auch nichts gelernt habende Baronessen sich eignen. Vor ein paar Tagen sagten Sie, daß neue Probierfräulein von Ihrer Firma gesucht würden.«

»Aber Baronesse!«

»Kommen Sie nur nicht ganz außer sich, lieber Herr Kern!« lächelte sie den wie vor etwas Schrecklichem jäh Zurückweichenden an. »Ich rede da wohlüberlegt. Wohl weiß ich, daß ich da Bitterem entgegengehe, aber was bleibt mir anderes übrig?«

»Gräfin werden!« sagte Kern leise und ihren Augen ausweichend.

»Sie raten mir das in sehr unsicherer Art. Das beweist mir schon, daß Sie selber nicht daran glauben, daß ich Ihren Rat befolgen kann. Übrigens – was wissen Sie vom Grafen?«

»Ich habe ihn gestern gesprochen.«

»Als ich von hier wegging, erkundigte er sich bei der Hausmeisterin nach dem Ergehen Ihres Herrn Bruders. Da sagte die Frau, daß ich gerade von ihm käme und so die beste Auskunft geben könne. Wir gingen dann miteinander bis zur Ringstraße und –

»Und redeten von unserem Elend!« fiel Klementine ein.

»Wir redeten von Ihnen, von Ihrer Gefaßtheit, Ihrem Mut, und ich brauchte überhaupt dem Grafen nichts weiter zu sagen, denn er wußte schon, was über Sie beide hereingebrochen war, und beklagte es tief, daß er sich Ihnen nicht als Helfer anbieten darf.«

»Das hat er Ihnen gesagt? Er ist ein so lieber, guter Mensch!«

»Der glücklich wäre, wenn Sie seine Frau würden. Baronesse, überlegen Sie –«

»Da gibt es nichts zu überlegen. Sie wissen doch, daß ich verlobt bin, daß Eugen mir seine Laufbahn opfern will.«

»Aber Sie werden zu Grunde gehen, ehe Sie seine Frau werden können. Der Herr Oberleutnant muß noch wenigstens ein halbes Jahr in seiner Stellung bleiben, und ob er dann gleich eine andere finden wird –«

»Vielleicht kann ich das Glück, Eugens Frau zu sein, nicht abwarten,« sagte Klementine nach einer langen Pause, »vielleicht werde ich inzwischen von diesem Jammerleben aufgerieben; jedenfalls aber kann ich, an einen geliebten Mann denkend, einen ungeliebten nicht heiraten, und so muß ich daran denken, mir die Freiheit und uns das Leben zu erhalten, solange es irgend geht. Sie können es übrigens immerhin wissen: ich verfüge nur noch über neunzig Kronen.«

»Großer Gott!« fuhr es ihm heraus, und weil er unwillkürlich an ihren natürlichen Beschützer dachte, setzte er rasch hinzu: »Und der Herr Oberleutnant –«

»Weiß das selbstverständlich nicht,« fuhr sie rasch fort, »und darf es nicht erfahren, daß wir am Ende unserer Mittel sind. Er wird mir erst helfen dürfen, wenn er mein Mann ist.«

Mit sehr großer Bestimmtheit sagte sie es und mit sehr hocherhobenem Kopfe.

Der wackere Kern war ganz rot geworden, und schüchtern sagte er: »So soll ich wirklich mit dem Chef reden?«

Klementine reichte ihm die Hand. »Ich bitte Sie darum. Es wird ein wahrer Freundschaftsdienst sein, den Sie mir da leisten. Glauben Sie aber auch, daß solch ein Posten für mich zu erreichen ist?«

Unwillkürlich prüften seine Augen ihre Gestalt, worüber ihr das Blut zu Kopfe schoß und ihre Lippen sich fest schlössen.

Dies merkend sagte er hastig: »Aber natürlich, Baronesse – natürlich. Man wird froh sein, Sie zu bekommen – mit einer solchen –«

»Figur« hatte er sagen wollen, aber schnell änderte er den Ausdruck und sagte: »mit einem so vornehmen Äußeren. – Übrigens,« setzte er rasch hinzu, »werden Sie zweifellos bald zur Empfangsdame vorrücken. Der nächste freiwerdende derartige Posten ist Ihnen sicher, denn Sie beherrschen außer dem Deutschen ja noch drei Sprachen, und das schätzt man in einem Geschäfte, wie das unserige eines ist, sehr. Also gleich morgen rede ich mit meinen Chefs oder noch besser mit Fräulein Vogel. Abends bringe ich Ihnen dann Nachricht, und am ersten Dezember können Sie schon – meine Kollegin sein.«

Sie reichte ihm wortlos die Hand.

Als er gegangen war, stand sie noch lange an der Stelle, an der sie sich von ihm verabschiedet hatte. Ihre Blicke waren auf das Licht der Lampe gerichtet, aber sie sahen trotzdem nichts.

»Probiermamsell!« flüsterte sie vor sich hin – »Probiermamsell!«

Dann richtete sie sich hoch auf. Ein Ausdruck herrlichen Stolzes durchleuchtete ihr hübsches Gesicht, und ein Ausdruck innigster Güte lag in ihren Augen.

»Lieber, lieber Ernst,« flüsterte sie, »du, der du so treu für mich gesorgt hast, der du solch schwere Last für mich getragen hast – du sollst wenigstens nicht allein weiterkämpfen!«

Ein paar Minuten später saß sie neben Ernst und plauderte lieb und herzlich mit ihm. Er ahnte nichts von ihrem Plane, von diesem Vorhaben, das nur die äußerste Not ihr auszwang.


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