Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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LIV.

Zu dieser Zeit glaubte Elisa an ihrem Körper eine Art von Lähmungserscheinungen zu beobachten, es war ihr oft, als hätte sie das Empfindungsvermögen verloren. Von jeher sehr erfroren, hatte sie oft im Schlafsaal in kühlen Nächten unter der Kälte gelitten. Jetzt aber empfand sie diese Kälte nicht mehr. Empfindungen des Schmerzes, die durch die brutalen Berührungen mit der Umwelt ausgelöst wurden, machten keinen unmittelbaren Eindruck mehr auf sie, sie schienen aus weiter Ferne zu kommen und sie kaum zu berühren.

Bald machte sich diese Empfindungslosigkeit des Körpers auch in ihrem Seelenleben bemerkbar. Sie fühlte ihre Gefangenschaft kaum noch als Strafe. Sie zermarterte sich nicht mehr das Hirn, unmögliche Zufälle auszuspinnen, die vielleicht ihre Strafe abkürzen könnten. Sie vergaß darüber nachzudenken, daß ihre Strafe bis an ihr Lebensende dauern sollte. Schließlich begann sie sogar, sich mit diesem qualvollen Schweigen abzufinden, es hinzunehmen wie die Ruhe eines Lebens, in welchem sich ihre Gedanken in einer Art feiger Ohnmacht hindämmern durften, ohne daß ein Wort aus ihrem Munde oder aus dem Munde eines anderen sie aufgestört hätte. Sie empfand geradezu ein schmerzhaftes Gefühl, wenn der Direktor plötzlich eine Frage an sie richtete; und die Notwendigkeit, sogleich darauf antworten zu müssen, versetzte sie in ängstliche Verlegenheit. Elisa hatte sich allmählich daran gewöhnt, nur leise murmelnd zu reden, mit Kehl- und Lippenlauten, die unverständlich blieben. Sie bemühte sich nicht einmal mehr den Schein einer Erinnerung in die «selige, dunkle Nacht ihres Denkens zurückzurufen . . . Sich erinnern, das bedeutete jetzt eine Anstrengung, eine Mühe für Elisa!

Das Gefängnis hatte breite, enggewundene Treppen, über welche die Sträflinge in Viererreihen mit klappernden Holzschuhen hinabtrippelten. Seit einiger Zeit hatte Elisa auf der Treppe Angst vor dem leeren Raum unter ihren Füßen und vor der Kolonne von Frauen, die hinter ihr nachgebraust kam. Zur selben Zeit, da diese seltsame Furcht sich äußerte, wurden ihre Finger so ungeschickt, daß ihr häufig Gegenstände aus der Hand fielen. Elisa wunderte sich auch ein wenig darüber, daß sie, die einen so heiklen Magen hatte und früher oft ihre Portion unberührt gelassen hatte, jetzt alles Essen mit tierischer Gefräßigkeit verschlang.


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