Edmond de Goncourt
Die Dirne Elisa
Edmond de Goncourt

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XLII.

Zu leben und doch fürchten zu müssen, im Gedächtnis der anderen gleichsam eine Tote zu sein, sich von denen, die unsere Verwandten, Freunde und Bekannte waren, verlassen zu sehen, zu zweifeln, ob ein einziger liebevoller Gedanke uns beklagt, sich nicht mehr zur Menschheit gehörig zu fühlen, durch das Fortleben in den mitleidigen Gedanken eines anderen, sein Leiden allein tragen zu müssen, sich ohne das Echo eines tröstenden Wortes ganz aus dem Bereich des Mitfühlens gerückt zu sehen, das uns in schier untröstlichen Schmerzen aufrichtet und zum Leiden Mut gibt: das war das Los Elisas, die zwei Jahre lang nicht ein einziges Mal ins Sprechzimmer gerufen worden war, die keinen einzigen Brief erhalten hatte, nicht ein einziges Lebenszeichen von all denen, die ihr als Kind, als junges Mädchen oder als Frau im Leben begegnet waren.


Es hatte ihr wahrlich Mühe genug gekostet, sechzig Tage lang, zwei ganze Monate lang nicht straffällig zu werden, um von der Gefängnisverwaltung endlich das wertvolle und ersehnte Blättchen Briefpapier zu bekommen, das folgende Aufschrift trug:

      Gefängnis zu Noirlieu, den ...

Die Korrespondenz wird beim Eingang
und Abgang gelesen.
...................................
...................................
Nr.................................
Mädchenname........................
Frauenname.........................
Saal...............................
...................................
...................................
Die Sträflinge dürfen nur alle zwei
Monate einmal schreiben, vorausgesetzt,
daß sie innerhalb dieser
Zeit nicht bestraft worden sind.
...................................
...................................

In wilder Sehnsucht nach einem zärtlichen Wort, die das Leiden hervorbringt, hatte Elisa mehrere Briefe geschrieben an alle die, die ihren Namen trugen, sie hatte unter dem Vorwand von Familienangelegenheiten – das war die einzige Korrespondenz, die erlaubt war – um die Übersendung eines armseligen kleinen Stückchen Papiers gebettelt, um ein paar geschriebene Worte, die ihr sagen sollten, daß man sie noch nicht ganz vergessen hatte. Aber von nirgends war eine Antwort gekommen. Niemand war so barmherzig gewesen, ihr das Almosen einer einzigen Zeile hinzuwerfen. Schweigen überall und Vergessen. Die Gefangene hatte manchmal das Gefühl, als sei sie lebendig begraben und in manchen Augenblicken kam ihr das Gefängnispersonal ganz unwirklich vor, erschien ihren Augen wie die Spukgestalten eines wüsten Traumes ... Nichts von den Seinen zu wissen, nichts von irgendeinem anderen Menschen zu wissen, was war das für ein Leben. Von dem Wunsche geplagt zu werden, zu hören und zu sehen, was draußen geschieht, das Interesse bewahrt zu haben für die menschlichen Dinge, das Bedürfnis eines jeden Individuums, etwas von den Ereignissen zu erfahren und Anteil zu nehmen, um all diese Sehnsucht und Neugier niemals befriedigen zu können! Niemals! Oh, was war das für eine Folterqual dieses Dahinleben, ohne zu wissen, was draußen in der Welt geschah! Jahr für Jahr dahingehen zu fühlen und das Maß des Unbekannten und Ungewußten wachsen zu sehen als eine Last, die sich auf den Grund seines eigenen Ichs immer schwerer niedersenkt. Es gab Tage, da Elisa ihr Herzblut dafür hergegeben hätte, um etwas von draußen zu erfahren. Was eigentlich, das wußte sie selber nicht. Nichts besonders Interessantes, nichts, was sie persönlich anging, aber nur irgend etwas, damit ein Lichtstrahl des Tags, des Lebens, das da draußen wogte, in ihre Finsternis falle. Manchmal blieb sie bei ihrem mechanischen Rundgang im Gefängnishof plötzlich stehen und ihre Ohren horchten nach den schweren Schritten der Leute, die draußen vorbeigingen, nach dem Kindergeschrei, das sich in der Ferne verlor, als ob diese Schritte, dieses Schreien ihr etwas Neues sagen könnten. Zwei- oder dreimal im Laufe von fünf Jahren trug ihr die Musik eines Leierkastens, der zufällig in der Nähe der Gefängnismauern aufgestellt war, ein paar Töne zu, den Refrain eines Gassenhauers, das war alles, was während dieser langen Zeit von dem rauschenden, tönenden Leben da draußen zu ihr gedrungen war. Eines Tages hatten die Glaserer im inneren Hof ein Fenster eingeschnitten und Elisa fand auf dem Pflaster ein Stück Zeitungspapier, das von einer Tabaksdüte stammte und erst ein Jahr alt war. Sie las diese drei, vier, etwas sarkastischen Pariser Tagesneuigkeiten, die darauf standen, und im Arbeitssaal legte sie diesen Zeitungsfetzen vor sich hin und ihr Nähzeug darauf, als brauchte sie es zum Einpacken desselben. Und immer wieder verschlangen ihre Augen ein paar dieser armseligen Zeilen mit der Inbrunst, mit der eine Andächtige in ihrem Gebetbuch liest.

Einen ganzen Monat lang machte dieser Fund sie glücklich. Dann senkte sich wieder die Nacht mit ihrer schwarzen Unkenntnis der Dinge über sie.

Mit eifersüchtiger Neugier beobachtete sie ihre Saalgenossinnen, die mit dem Abglanz eines kurzen Glückes aus dem Sprechzimmer kamen, wohin sie eben mit düsteren und traurigen Mienen gegangen waren. Unter ihnen befand sich die Schwester einer ihrer Kolleginnen aus dem Haus in der Avenue de Suffrén, die nur regelmäßig alle sechs Monate zu Besuch kam.

Einmal, da diese Gefangene am Vortag wieder ins Sprechzimmer gerufen worden war, näherte sich ihr Elisa, in dem leidenschaftlichen Wunsch, irgend etwas von draußen, von jenseits der Gefängnismauern zu erfahren. Als sie die Treppe herabstieg, machte sie, als hätte sie einen ihrer Holzschuhe verloren, näherte sich dabei dem Mädchen und drückte ihr ein kleines rundes Stück Karton in die Hand.

Elisa hatte heimlich mit unendlicher Geduld und Geschicklichkeit aus dem Vaterunser und dem Ave-Maria ihres Gebetbuches Buchstaben ausgeschnitten und sie, zu Worten vereint, mit Brot auf dem Boden einer alten Pappschachtel aufgeklebt. Alle sechs Monate, wenn ihre ehemalige Kollegin zu Besuch kam, bat Elisa die Gefangene um Nachrichten und erhielt auf die gleiche Weise die Antwort.


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