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18. Kapitel

Wie ein Verbrecher schlich sich Edmund die knarrende Treppe des Hotels des Grands Hommes hinauf. Um keinen Preis wollte er mehr jemand Bekannten treffen. In zwanzig Minuten war sein Koffer gepackt. Darunter keine einzige Erinnerung an seine Pariser Erlebnisse dabei, keine Photographie, kein Theaterprogramm.

Er riß das Fenster auf. Noch einmal das Panorama in sich aufnehmen, das ihm so oft als die ideale Landschaft seines Lebens gegolten hatte. Jeder Mensch hat eine solche. Für viele ist es der Elterngarten, oder der Hügel über der Vaterstadt, wo hinter Rosenhecken und im Gesumm der Ligusterfalter die erste Zigarette oder der erste Kuß genossen wurden, für andere ist es ein Zimmer, in dem von einem alten Lehrer Visionen des alten Ägypten auf die Tapete projiziert wurden, für Proust war es die Kirche von Combray, für Edmund war es dies: im grellen Mondlicht, wie aus hellgelber Pappe geschnitten, der beleuchtete Teil des Pantheons, und weiter, wie abbröckelnd, die schiefe Front der Bibliothèque Ste. Geneviève, und der fast umfallende Turm der alten Kirche daneben: halluzinatorisch grell, phantastisch real wie ein Bild von Chirico.

Der Platz unten war vollkommen still. Provinzhaft still. Man hörte den Wind schleichen. Man hörte schon einen Hahn irgendwo krähen. Zwei Studenten kamen jetzt über den Platz: sie sprachen nicht allzulaut, und doch verstand man aus ihrem Gespräch die Namen Pascal und Descartes. Und wieder schien sich die Kuppel des Pantheons zu drehen, wie ein Karussell, auf dem die Grabsteine der »unsterblichen Männer« die Pferdchen ersetzten.

Darauf schloß Edmund das Fenster schnell, nahm seinen Koffer und schlich wieder die Treppe hinunter, verhandelte leise und hastig mit Madame Topaze, die er geweckt hatte (er hatte fünfzehnmal läuten müssen ehe diese, ganz erschrocken, in Nachtjacke und Pantoffeln angeschlürft kam) und zahlte ihr einen weiten Überschuß, um ja nicht lange aufgehalten zu werden. Ein Telegramm riefe ihn sofort ins Ausland zurück.

Draußen war es angenehm kühl. Er nahm einen Wagen bis zur Gare de l' Est und hatte sich vorgenommen, in den ersten abfahrenden Zug zu steigen und sich so vom Schicksal den Weg in die weitere Zukunft weisen zu lassen: es konnte ihn nach Riga, nach Bukarest oder nach Sils Maria führen. Es war aber schon kurz nach Mitternacht, und vor fünf Uhr fuhr kein bedeutender Expreß mehr ab.

So ward er wieder, wie in der Nacht seiner Ankunft, aus den grauen, ungastlichen Bahnhofshallen auf den schwarzen, traurigen Vorhof verstoßen, und in demselben Café wie damals bestellte er dasselbe bittere Getränk.

Die Tische waren leer. Nur in der äußersten Ecke, am Fenster, saß eine einsame Frau, beinahe ungeschminkt, mit in der Mitte gescheiteltem Haar, genau wie Lola, ganz schwarz. Sie war ziemlich stark gebaut, hatte aber so viel Schmerz in den Zügen, daß sie eher zart und zerbrechlich anmutete. Handtasche, Handschuhe, Hut lagen neben ihr auf der Bank. War sie eine Reisende, war sie eine Professionelle?

Der geübteste Männerblick hätte es nicht entscheiden können.

Edmund, der soeben in den ersten besten Expreß einsteigen wollte, fand jetzt auch den Mut, in das erste beste Menschenschicksal einzusteigen.

Er hatte die Inspiration, die nur die Dichter im Augenblick des Schaffens und die sehr Gedemütigten in der Nähe des Todes haben, und sagte zu ihr, indem er sich ihr schräg gegenüber setzte:

»Sie haben einen unwürdigen Geliebten verlassen, denn man muß groß sein, um Ihrer würdig zu werden. Sie haben die Wahrheit für die Liebe geopfert. Sie sind in die weite, enge Welt hinausgelaufen, mit nichts als Ihren brennenden Augen und Ihren wogenden Haaren, um die undurchsichtige Nacht zu beleuchten. Wir stehen beide am Ende und am Beginn. Jede Stunde ist Ende und Beginn. Aber die meisten der Menschen wagen nicht, aus ihrem Kreis herauszutreten. Welchen Weg nehmen Sie um fünf?«

Die Unbekannte lächelte und sagte mit einem fremden Akzent:

»Nach Cythera, Monsieur!«

»In welchem Lande liegt dein Cythera? Bist du Rumänin, aus einem Dorf der Räuber? Bist du Brasilianerin, die Tochter eines Kaffeekönigs? Bist du Türkin, des Schleiers noch kaum entwöhnt? Ich kenne dich. Ich kenne dich. Du hast eine warme, braune Schulter, im Schatten kühlen Zypressenhaars. Laß mich den wehen Kopf daran lehnen, und Quellen der Heimat rauschen hören. Fremde Frau, sei Mutter dem müden Wanderer. Willst du?«

Sie willigte ein. Sie gingen zusammen in eines der zehntausend kleinen Hotels von Paris, wo unten ein enges Büro steht, mit einer Katze, einer pappenen Palme und dem schwarzen Brett mit den silbernen Schlüsseln, die alle zu einer Kammer des Glückes führen. Der rote Treppenteppich war arg zerfranst, geheiligt von den Füßen all derer, die hoffend und bebend ein steiles Paradies erstiegen hatten. Das Zimmerchen war nackt wie die Klausen der Nonnen, damit an den Wänden Platz sei für die Fatamorganen der Nacht. Und wer weiß, einmal konnte sich eine Wand auftun und den echten Himmel und die Sterne hereinlassen!

Das Wunder erfüllte sich. Maria liebte ihn. Sie wurde ihm Mutter, Geliebte und Kind. Sie schenkte ihm ihr schwarzes Haar und ihre weißen Arme. Er weinte vor Glück, zum erstenmal in seinem Leben. Die Morgenzüge fuhren ab nach Riga, Bukarest und Sils Maria, ohne Edmund. Er blieb in Paris, heiratete und fand eine anständige Stellung als Redakteur an einem Abendblatt. Lola, Edgar und Madame de Tizac erfuhren nie wieder etwas von ihm, denn sein Pseudonym war gut gewählt, und Paris ist eine Wüste.

 Claire und Yvan Goll

Claire und Yvan Goll, Berlin 1927

 

Nachwort von Thomas Spring aus Urheberrechtsgründen gelöscht. Re.

 


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