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11. Kapitel

Da saßen nun die drei Liebhaber Lolas, stumm nebeneinander, alle drei dieselbe Vision in der Seele, alle drei in gleichem Maß unglücklich: wer hätte das gedacht? Beneidet nicht jeder den andern, obwohl oder gerade weil jeder immer zu stolz gewesen war, auszukundschaften, was für einen »Erfolg« die andern bei dem jungen Mädchen genossen? Drei junge Leute, in der lasterhaftesten aller Straßen Europas, Pigalle, saßen um vier Uhr früh, im Trubel der ausgekochten Ausbeuter der Liebe, blaß und verzehrten sich bei dem Gedanken an Lola, eine Tänzerin im Kaukasischen Schloß. Alle drei hatten die größten Chancen, alle drei mußten doch eigentlich, jeder in seiner Art, die Herrschaft über das rebellische Herz des Mädchens an sich gerissen haben. Oder?

Es waren die drei Typen des modernen Jünglings, die die drei Geistesrichtungen von Ost-, Mittel- und Westeuropa personifizierten. Der Russe, der Mitropäer, der Franzose.

Über des Mitteleuropäers Edmund Vergangenheit hörten wir schon genügend. In der Schweiz bricht die westliche Kultur jäh ab, selbst der welsche Teil, trotz seiner Sympathie für links, kann sich der Gefühlsaustrahlungen von rechts nicht erwehren. Und Edmund vollends, an deutschen Universitäten gebildet, von deutscher Literatur durchtränkt, leugnete selber nicht, ihres Geistes zu sein. Das seltsamste und schönste Wort, das er nach Paris importieren wollte, war ja »Ideal«. Das Wort, in diesem largen Sinn gebraucht, nämlich, daß jeder Mensch sein Ideal haben soll oder mag, ist unbekannt sowohl in Frankreich wie in Rußland. Ideal tröstet oft den Erdgebundenen und verleiht ihm seelische Flügel. Mit einem Ideal ist leichter zu leben als ohne. Und es gibt keinen Deutschen ohne ein Ideal. Dazu muß aber schnell hinzugefügt werden, daß Ideal keineswegs nur etwas Abstraktes bedeutet wie »Tugend« oder »Musik«, sondern sich mit gleichem Recht mit irdischen Gütern befaßt. So können zwei Aussprüche großer Deutscher als Ideale, das heißt, als Wegweiser, vielleicht sogar als Gesetze in einem Volk gewirkt haben, das von jeher auf Kommandos von oben gehorcht hat, solche Kommandos zu seiner Lebensführung geradezu brauchte: einen Satz wie »Koche mit Gas!« in gleichem Maße wie Kants Ausspruch vom »gestirnten Himmel über mir und dem Sittengesetz in mir«.

Der Mitropäer bedarf solcher Richtlinien, weil eben das Sittengesetz in ihm nicht gefestigt ist, weil es für ihn keine innere Grundwahrheit gibt, sondern lediglich eine geschriebene und vorschriftsmäßige, in der Bibel oder im Bürgerlichen Gesetzbuch oder in einem Klassiker nachzuschlagen. Bevor der mitteleuropäische Mensch eine Handlung begeht, schaut er auf seinen Vorgesetzten oder auf seinen Vater. Wie unsicher wird er in einem unvorhergesehenen Fall! Zum Beispiel in der Liebe. Nicht nur die deutsche Moral, auch die deutsche Literatur hat noch keine endgültigen Richtlinien aufgestellt, wie sich ein »anständiger« Mensch in der Liebe benehmen soll. Es gibt dort noch keinen Stendhal. Es gab Werther, einen typischen Idealträger, den Mann, der alles tat, um seine Liebe zu bezeugen, aber die Hauptsache vergaß, nämlich mit der Geliebten zu schlafen. Damit hätte er aber sein ganzes Unglück und gleichzeitig das ganze Problem seines Volkes aus der Welt geschafft.

Dies ist der Schlüssel zum siebenmal verschlossenen Kämmerchen der deutschen »Seele«. Es wird zu viel herumgedacht, herumgeträumt, herumgesehnt, mit Ideal und mit Ideen gewirtschaftet, von Himmel ist die Rede und von Hölle. Nur auf das Einfache kommt man nicht: hier ist eine Tür, drück' auf die Klinke, sie ist ja gar nicht verschlossen! Sei einfach, einfach, einfach!

Warum ist aber Edgar, der Franzose, dort vor seinem Vermouth so verstört? Er behauptete doch gestern brutal, er habe sie »gehabt«? Es war eine Lüge. Er ist ein Zyniker und hat seine sämtlichen Götter heimlich vergiftet. Er hat nichts mehr in sich und kann nichts mehr geben. Realismus trügt. Man hält Ehrlichkeit für eine gewisse Gesundheit. Der Westeuropäer lebt unmittelbarer und logischer, er lebt. Und wenn er lebt, denkt er nicht. Er denkt entweder vorher oder nachher. Am besten vorher. Und daher ist er in seinem Auftreten so sicher. Er weiß. Viele Generationen und Jahrhunderte haben ihm übrigens die besondere Haltung für jeden Einzelfall ins Blut mitgegeben. Er braucht nichts zu lernen, er hat das meiste in sich. Also bedarf er keiner Probleme. Die ganze Zeit kann mit Lachen und Witzen ausgefüllt werden. Das Leben ist da. Und was gibt es außer dem Leben? Nichts. Der Franzose braucht kein Ideal, denn er ist sein eigenes Ideal, in ihm dauern Rabelais, Descartes und Stendhal weiter. Er ist ein hochgeborener Erbe und braucht sich seine Güter nicht zu erkämpfen. Aber vielleicht ist das sein Pech? Geht es ihm, wie allen Erben, zu gut? Hat er es zu leicht im Leben? Und wird das langweilig, was von Grund aus so sicher ist? Das ist die Tragik des jungen Nachkriegsfranzosen. Die Welt hat sich um 1930 herum maßlos verschlechtert. Er sieht die andern und sich. Er empfindet Ekel an sich und den andern. Das ist ein seltsamer, wenn man so sagen darf, realistischer Weltschmerz, der mit dem von 1830 nichts gemein hat. Der heutige ist sozial gefärbt. Der neue, junge Franzose begann zu zweifeln. An sich? Nein, denn niemals war er herrischer und selbstsicherer. An Gott? Welche banale, nebensächliche Frage! An der Welt und ihrer sozialen Ordnung? Gewiß, aber!! Nein, er zweifelt an seiner Bestimmung. Seine Inquiétude ist mit keiner Hoffnung und mit keiner Tat zu stillen. Er ist unglücklich, weil er weiß: er stirbt. Die westliche Kultur hat ausgespielt. Er lebt als Leichnam in einer Ruine. Es ist sinnlos, weiter Kinder zu zeugen in diesem Zustand, sinnlos, einen alten oder einen neuen Gott anzurufen, sinnlos zu lieben, sinnlos zu arbeiten. Amerika, Rußland, China, die Neger, Asien und Afrika erobern Paris. Und wie einen Furunkel, den man lange Tage wie eine Blumen wärmen und pflegen muß, bis er ausbricht und reife, gelbe Dolden trägt, so pflegt der junge Franzose seinen Zynismus, der nichts ist als ein einfaches, wissenschaftliches, realistisches Wissen vom Tod. Ein mit dem Krebs behafteter Chirurg operiert sich selber. So ungefähr ist der neue Franzose revolutionär. (Während dem zeitweilig revolutionären Deutschen unter seinen »Idealen« die Fahnen, meinetwegen die roten, wichtiger sind als die Freiheit!) Und dieser hübsche, intelligente, reiche Edgar hat Lola nicht »gehabt«? Und warum brüstet er sich dessen? Aus Übermut und ränkesüchtiger Verachtung des Lebens. Er, der an keinen Gott, an kein menschengegebenes Gesetz, nicht mal an sich glaubt, er sollte an eine Frau glauben? Und wer nicht glaubt, wie soll der lieben? Und wer nicht liebt, wie soll der geliebt werden? Auch in der Liebe kennt die Französin das Ideal nicht. Frankreich ist bestimmt das Land, das den Filmdiven und den Valentinos am wenigsten Porto- und Photospesen verursacht. Nicht nur für Revolutionäre, auch für die Liebenden in Frankreich ist eine große Gottheit die Vernunft. Und wahrscheinlich ist dieses Volk, in dem am meisten von Liebe gesprochen wird, das unpassionierteste.

Französinnen konnten sich, vielleicht sogar mit leicht snobistisch gefärbter Bewunderung, einem Edgar hingeben, wie einem modernen Geistesheros: die westliche Frau, im Charakter selbständig, liebt noch die materielle Unterwerfung (die auch materielle Sicherung bringt), während die östliche, wenn sie liebt, aus ihrer Seele einen Teppich für den Erwählten macht. Eine Lola, bei der jedes Haar eine Antenne war, mußte durch den kaltschnäuzigen, wenn auch noch so geistreichen Ton abgestoßen werden. Sie war zu klug, um eine Statue ohne Seele anzubeten, zu klug und zu stolz. Sie ließ sich vom eleganten Causeur und charmanten Zweifler in die Barkreise an der Madeleine gerne einführen, aber beherrschte seine Frechheit mit einer königlichen Einfachheit. Sie war ein Mensch, voll und warm, das heißt ein unerhörtes Naturwunder für die greisen Kinder der Zivilisation.

Also blieben alle Chancen für Ewersejeff?

Dort lag er, fast bewußtlos vor Schmerz, an die Schulter der schwindsüchtigen Tänzerin gelehnt, betrunken von Eifersucht und Verzweiflung, diesen hundertgradigen Wodkas. Seine Zeitungen waren wie schmutzige Wäsche unter die Bank gerollt. Den Hut hatte er tief über die Augen gleiten lassen. Dann und wann gab ihm das Mädchen einen Schluck Likör in den kindlich offenen Mund. Dort lag er, hoffnungslos, der Russe, der die Russin liebte. Auch er nicht? Er hatte noch nie etwas anderes für die Eroberung Lolas getan, als gelitten. Auch das genügt einer Frau offenbar nicht. Vom ersten Augenblick an hatte er gelitten, als er in das kleine Hotelzimmer der Blechkins getreten war, und vom ersten Augenblick an hatte er die Partie verloren. Es war zwischen ihm und Lola nie ein Wort, nie ein Blick gewechselt worden, die überhaupt die Möglichkeit eines gegenseitigen Gefühls enthüllt hätten, aber sämtliche Begleiterscheinungen deuteten auf seine Niederlage, vor allem das mütterliche Mitleid der Madame Blechkin, die vom ersten Tag an den »entfernten Verwandten« als ihren Schützling adoptiert hatte. Wehe den Liebenden, die den Müttern zu gut gefallen. Fast ohne sein Zutun war Ewersejeff in die Familie aufgenommen, ohne seinen Willen in die alltäglichen Probleme der Wirtschaft und in die vergrabensten Liebesgeheimnisse der Tochter eingeweiht worden. Und wehe den Liebenden, die zu viel vom Herzen der Geliebten erfahren! Er durfte in Nummer 5 ein- und ausgehen wie zu Hause, bei Tag und bei Nacht sich einen Tee kochen, er sah Lola beim Zähneputzen und wie sie sich die Strümpfe flickte, und half ihr beim Aufsetzen eines drohenden Liebesbriefes an den Vater Sergejs.

Wie bitter war sein Schweigen gewesen in den ersten Stunden, in denen er sich Edmund gegenüber befunden hatte, über dessen langjähriger Gunst in der Schweiz er genau orientiert war. Bis zu diesem Tag hatte er an die Keuschheit des Verhältnisses zwischen Lola und ihm wenig geglaubt. Nun aber hatte er sich vergewissert, daß es noch andere Dumme gab außer ihm, er hatte Edmund verziehen, daß er existierte. Daß es zu einer Freundschaft zwischen diesem Mitropen, wie er die Mitteleuropäer nannte, und ihm kommen würde, erschien ihm kaum möglich. Er haßte nichts so sehr wie die schwächliche und sentimentale Brudergüte. Die Russische Revolution hatte mit derartigen Talmipropheten endgültig abgewirtschaftet. Beim Spiel erkennt man die Menschen besser als im Kampf. Ein paar Pokerrunden hatten ihm das rechte Antlitz Edmunds und des Pazifismus gezeigt: Schwäche.

Und auch er, Anton Antonowitsch Ewersejeff, ein Revolutionär, und von welchem Kaliber! Auch er hat alle alten Formen abgestreift. Auch er verachtet das Kulturglück. Auch er zersetzt alles mit salziger Ironie. Warum reicht er dann Edgar nicht die Hand? Weil zwischen beiden ein Unterschied besteht wie zwischen Leben und Tod. Der Franzose stürzt sich ins Chaos und dankt ab. Der Russe steigt erst aus dem Chaos und ringt um die Form. Von allen Feinden, die Edgar zu stürzen hat, ist Gott das leichteste Opfer. Den wirft er kurzerhand über Bord, ohne Diskussion. Sein Volk hat längst dessen Prozeß erledigt. Aber vor allen Feinden, die der Russe verschont, ist Gott: denn er will erst noch leben. Sein Nihilismus ist nicht ungläubig, sondern fatal. Sein Nihilismus ist gläubig.

Drei Jünglinge in diesem dumpfen Café von Montmartre: die drei Gesichter Europas. Drei Liebende, drei Revolutionäre.

Aber zum großen Symbol gestaltete sich kurz vor fünf Uhr das Auftreten Lolas, in einem blendend purpurnen Samtcape, frisch und rosig aufgeblüht wie die gerade hinter dem Sacré-Cœur aufknospende Morgensonne. Sie war die einzige, die nicht müde schien, obwohl sie die einzige war, den drei Männern gegenüber, die die ganze Nacht hindurch für die Erhaltung von Mutter und Kind getanzt und gesungen, das heißt, gearbeitet hatte. Wie eine Fee aus Gaze und Geheimnis trat sie durch den verrauchten und stickigen Raum, von Männern angelächelt und zuweilen roh angehalten, und ging wie schwebend zu der Ecke, in der die drei Unglücklichen hockten. Mit einem Maiglöckchenstrauß (es schien als ob die Glöckchen läuteten) schlug sie einem jeden leicht auf die Schulter und gebot, ihr zu folgen. Vor der Türe hielt ein großer viersitziger, silbern und golden angestrichener Rolls Royce, den ihr ein Amerikaner samt dem livrierten Chauffeur für diese Nacht geliehen hatte.

»Wir wollen die Sonne im Bois de Boulogne aufgehen sehen«, befahl sie.


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