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Da stand Edmund nun auf den großen Boulevards von Paris, mit einer sogenannten guten provinziellen Erziehung, mit seiner klassischen Bildung, mit seinem ästhetischen Sinn und schließlich mit einem Ideal im Herzen, das er wie eine Kostbarkeit mitgebracht hatte, wie andere junge Leute früher die goldene Uhr des Vaters, die man im Leben nie veräußern will. Da stand er und merkte, daß alle die von ihm angesammelten Erkenntnisse in demselben Maß entwertet waren wie die dreiprozentigen Consols der entsprechenden Länder: denn die nunmehrige Weltmoral forderte sieben Prozent.
Eine Rettungsmöglichkeit seiner Persönlichkeit hatte er gleich am ersten Tag seines Aufenthaltes erwogen, nach der Diskussion mit seines Bruders unheimlichen Freunden und auch nach dem Diner bei der fremden Dame, die er Mutter nennen mußte: fliehen, zurück in die gemütliche Kleinheit, in die angenehme Wärme der Gewohnheit. Aber bevor er seinen Stolz bewältigt und seine Neugierde gestillt hatte, bevor er überhaupt zur Besinnung gekommen war, hatte Lola die Maske des Schicksals für ihn aufgesetzt. Was denn sollte er anderswo suchen? Und würde ihm jetzt noch sonstwo auf der Erde, sei es im naturnahen Orient, sei es im kaltherzigen Amerika, die Ruhe wiederkommen, nachdem ihm das beizende Gift des Zweifels eingeträufelt worden war?
Also dann zu den Zweiflern übergehen? Das heißt, in die Lehre dieser jungen Menschen, von denen einige beinahe seine Söhne sein konnten? Auch das nicht! Zum erstenmal gestand er sich, daß man sich gehen lassen könne, warten was da wird, feige sich dem Leben ausliefern und eventuell – eine Niederlage ertragen. Das ist die erste Stunde des Alters in einem Mann.
Nun hatte er plötzlich Zeit, viel Zeit, viel zuviel Zeit: ein Gefühl, das er seit der Kindheit nicht mehr genossen. Er besaß eine kleine Rente, mit der er langsam leben konnte, aber frei. Entgegen seiner einstigen Gewohnheit, früh aufzustehen, tat er sich jetzt einen Zwang an, um liegen zu bleiben und somit den ersten peinlichen Teil des Tages, an dem der Mensch sich selbst gegenübergestellt ist und wohl oder übel, sei es nur des Scheitels wegen, vor den Spiegel treten muß, zu versäumen. Das war aber eine schlechte Berechnung. Denn im Bette, halbwach, überfielen ihn die leidigen Gedanken um so schamloser. Da läutete er hastig nach dem Morgenkaffee und erkundigte sich nach Nummer 15. »Das russische Fräulein ist heute früh um neun heimgekommen, sie ist weiß wie Schnee und ganz krank«, meldete das Zimmermädchen.
Edmund stürzte hinunter und fand die Aussage bestätigt. Madame Blechkin stand am Bett, die Hände, in denen sie eine Arzneiflasche und einen Löffel hielt, flehend emporgereckt. Sergej kniete, legte die schlaffe Hand der Mutter auf seinen Kopf und betete. Am Fenster stand Ewersejeff und grinste: Edmund sah ihn zum erstenmal so respektlos. Doch als er ihn fragte, was los sei, verzog dieser böse den Mund. Aber was war das? Edmund war nicht erschrocken, sondern ein bißchen froh über das, was passierte, und er mußte, auch er, das Lächeln verhalten: denn nun würde Lola ihm endlich länger gehören als bisher. Er würde ihre Gegenwart mit Ewersejeff teilen, gut: aber er hätte Zeit, ihre Hand in seine Hand zu nehmen; ihre Augen in seine Augen, und vielleicht, wer weiß, ihr Herz wieder in das seine. Illusionen sind das Manna der Armen.
Zu Mittag wußte man, daß Lola Kokain genommen hatte. Frau Blechkin heulte und meinte, sie werde sterben müssen. Ewersejeff geriet in eine unbeschreibliche Wut und schrie, als wäre er der Vater im Haus und alle Verantwortung läge auf seinen Schultern. Edmund schwieg; er hatte es gleich geahnt.
Seit jener Morgenfahrt in den Bois de Boulogne hatte sich im Benehmen Lolas vieles geändert. Wie eine, der kein anderer Ausweg bleibt, hatte sie die Einladungen zu ausgesuchten Orgien angenommen, denen sie sich früher immer entzogen hatte. Wie eine, die an der Liebe für ewig verzweifelte. Zuhause, im Benehmen zu Mutter und Kind war sie zwar immer die Gleiche geblieben, ließ von dem Luxus, der ihr zu Gebote stand und den sie über alles verachtete, nichts in das ihr heilige Familienzimmer dringen, und überschüttete nur, wann sie konnte, jeden mit Geschenken. Der Mutter kaufte sie seidene Tücher, Sergej Dampfmaschinen und große Aeroplane, Ewersejeff einen neuen Anzug, und jeden Abend gab es Kaviar, Lachs und Gänseleber. Es kam ihr nur darauf an, den Lieben zuhause (welche Ironie, dies »zuhause«) kleine Freuden des Lebens zu bereiten. Für sie selber war der Tanz und die Fete eine Sklaverei. Sie trug immer ein einfaches schwarzes Samtkleid mit einer gelben Rose an der Taille, aber die Kavaliere kämpften umsonst um sie. Damals, in der Nacht mit dem purpurnen Cape und dem gold und silbernen Rolls-Royce hatte sie nur mit Hilfe eines gutmütigen Gönners einen vorübergehenden Spaß getrieben, lediglich zur Belustigung der drei Kameraden – man weiß, wie es ausging. Im übrigen erzählte sie nie von ihren Erlebnissen, klagte nicht und protzte nicht, genau wie eine Arbeiterin, die aus dem Atelier kommt, und auch über die Kokaingeschichte blieb sie hartnäckig stumm.
Und wie durch einen geheimen Pakt gebunden, stellte auch niemand Fragen an sie. Es wäre ein Eingriff in ihre Freiheit gewesen, und die Freiheit war das einzige und letzte Gut dieser Menschen. Selbst eine bornierte Mutter wie die Blechkin fühlte das. Man spürte auch, daß auf einer solchen Freiheitsbasis ein Mensch eigentlich nichts Böses begehen konnte. Und vielleicht, so überlegte Edmund oft bei sich selber, ist die einzig mögliche Freiheit der Menschen nur unter solchen Umständen realisierbar, wo auch kein Blick und kein stummes Wort eine Schranke ist.
Lola brauchte lange Tage, um sich zu erholen. Edmund wich nicht von ihrem Lager, froh darüber, daß er nicht ins ungastliche Paris hinaus mußte. Denn seine letzten Versuche, sich mit der großen Stadt zu befreunden, waren ziemlich fehlgeschlagen. In den Museen, im Invalidendom, in den Folies-Bergère wie in der Bibliotheque Nationale, überall hatte er das gleiche Gefühl der Langeweile gespürt, wie die Leere, die ein Hungernder im Magen hat. Sie boten ihm nämlich alle nicht, wonach sein ganzes Wesen schrie: Leben und Liebe. Die Geschichte, die Kunst, die Bücher sind tot für den, der das Bedürfnis hat, sich aufzureißen und sein stagnierendes Blut über Steine und Wolken zu schütten. Die Nähe dieser unerreichbaren Frau, sie allein war Grund zum Leben. Mochte sie ihn wie einen wertlosen Schulknaben behandeln, sich über seine Kragen lustig machen, ihn ungeduldig abweisen, wenn seine ungeschlachten Hände die halbgeöffnete Lilie einer ihrer Hände zerdrückten, und ihm Gänge in die entlegensten Viertel von Paris auftragen, wegen eines Schuhs oder einer Wurstspezialität, nur um ihn eine Zeitlang los zu sein: er hielt sich noch für bevorzugt. Er, der nie gelernt hatte, etwas für andere zu tun, und dem Leben gegenüber gestanden war, wie ein verzogener Knabe seiner Mutter, von der er alles verlangt und der er nichts schuldig zu sein behauptet: er fand in den alten Kommoden seines Gefühls unermeßliche Schätze von Fürsorglichkeit und Ergebenheit und, was ihn am meisten wunderte, unerhörte Vorräte an Geduld. Ihm war wie einem lange Jahre Ferngereisten, der in das verlassene Elternhaus heimkehrt, und unerwartete Schätze in Kammern und Kellern vorfindet. Er wurde der Gebende, er der immer nur genommen hatte. Er wurde still an diesem Bett, er der immer nur in Apfelhainen oder in Cafés auf der Suche nach dem Unfindbaren herumgelaufen war: dasjenige nämlich, das nirgendwo anders steckt als in uns selber. Nicht die Natur und nicht die Kultur können dich glücklich machen, wenn in deinem Blut das Feuer schlecht brennt, das des Gefühls; denn dann frierst du immer. Selbst lohender Jubel oder Zorn einer tausendköpfigen Menge, in die er die Worte von Freiheit und Gerechtigkeit und Menschenliebe geworfen hatte, wie ein Millionär Kupfermünzen unters Volk, hatten ihn nicht gelöst.
Als Edmund von einem seiner Botengänge wieder in Lolas Zimmer trat, saß Edgar am Bett, an seinem eigenen gewohnten Platz. Lola schien verändert, lachte, wie man sie seit Beginn ihrer Krankheit nicht hatte lachen hören. Edmund war darüber so enttäuscht, daß er vergaß, seinen Bruder zu begrüßen, und wie ein fremder Besucher bei einem Arzt, der wartet, daß er an die Reihe kommt, sich in die Mitte des Zimmers setzte. Erst mit viel Ironie gelang es den beiden anderen, ihn aufzurütteln, so daß er langsam seinen Mantel auszog und seinen Stuhl bis ans Fußende vorschob. Während er sich so dem Bereich der Wirklichkeit näherte, merkte er, wie sich gleichzeitig die Hände Edgars und Lolas auf der Bettdecke fanden. Brennender empfand er seine Einsamkeit als vorhin unter den zehntausend Passanten des Boulevard des Capucines.
Auch er hatte seit Wochen auf diesem Stuhl gesessen, aber Edgar hatte ihn heute von Anfang an zehn Zentimeter nähergerückt (und was machen zehn Zentimeter im Herzen eines Liebenden aus!). Edgar hatte von vornhinein die Hand des Mädchens genommen, als sei es natürlich, während er selber es nur in ganz feierlichen Augenblicken gewagt hatte. Zum erstenmal seit Lolas Krankheit kam Edgar – und siegte.
Edmund fühlte zehnfach seine Schwerfälligkeit, als trüge er ein dickes Eisbärenfell wie die Eskimos, das ihn in seinen Bewegungen behinderte. Er nahm jedes Wort und jede Geste ernst, er der Mitropäer. Edgar jonglierte auf dem gespannten Drahtseil aller Möglichkeiten und riskierte was? Was riskiert man, aus dem Fenster zu springen, wenn man die Sehnen einer Katze besitzt?
Und Edmund begann, sich langsam zu hassen. Sich zu hassen, statt die beiden andern. Er hatte bereits den Grad der Selbstbetrachtung erreicht, an dem der Mann die Schuld immer sich selbst, und nicht mehr den andern zuschiebt. Auch das ist ein Grund zur Schwäche. Einsicht macht schwach, im Kampf mit Dritten. Stark sind nur die blinde Wut und der taube Haß. Stark ist nur der, der sich nicht kennt und die andern verkennt. Edmund protestierte innerlich nicht gegen das Benehmen des Bruders und der Geliebten, sondern gegen das Schicksal, das ihn so ungeschmeidig hatte werden lassen.
Das Schicksal konnte man in diesem Fall auch seine Mutter nennen: aber eine hier ganz unbeteiligte Person. Warum hatte sie ihn in Mitropa erziehen lassen, wo die Aufrichtigkeit den Vorrang hat vor dem Gefühl, wo die Gesundheit vor der Schönheit kommt?
Wie anders war die Erziehung Pariser Kinder, die von Anfang an auf den Umgang mit Menschen abgerichtet wurden, ohne nach dem Sinn der Natur zu fragen! Wo alles auf die Grazie und die Beweglichkeit ankam und einer plumpen Naivität wenig Reiz beigemessen wurde. Da schon von Zivilisation die Rede ist, dann schon ganz! Die Kultur, die auf halbem Wege noch mit der Natur liebäugelt und mit den felltragenden Urvätern, ist nur halbes Mittel. Sensibilität, also schon eine körperliche Verfeinerung, ist der Ertrag der Zivilisation, nicht aufgeklebte Geistigkeit. Und Sensibilität ist jedermann, auch dem Volke zugänglich, ohne den Besuch hoher Schulen.
Was konnte er tun gegen Edgar? Nichts. Nicht einmal Mitleid mit sich selber war ihm beschieden, nur eine wilde Bitterkeit. Er konnte ihm nicht böse sein, der da in seinem Recht war und im Besitz unersetzbarer Fähigkeiten.
Wie anders auch benahm sich Ewersejeff, der Fatalist, dem Fall gegenüber. Er schwieg und litt, aber ohne Einsicht und ohne Verzeihen. Er hielt sich an Mutter Blechkin. Er hielt sich an die Familie. Voll falscher Bescheidenheit schwieg er in der Ecke. Aber er wartete seinen Moment ab. Jetzt war er arm, das heißt, höchst unwürdig und schandbar. Mochte das Täubchen flattern. Einmal, wenn er die goldene Kugel hätte, würde er schon richtig schießen. Der Franzose war kein Obstakel. Und Edmund nur eine getünchte Fassade, kein Mann.
War Lola sich alles dessen bewußt? Nicht bewußt, aber sie ahnte vieles, und sie handelte richtig wie die Traumwandlerinnen, wie überhaupt die Frauen. Eine Krankheit ist immer eine Erwartung. Vor allem aber diese Krankheit, als Folge einer beinahe absichtlichen Vergiftung, diese körperliche Verzweiflung, die man einer moralischen vorgezogen hat.
Drei Männer standen vor ihrem Herzen Wache, und keine Liebe schlummerte drinnen. Edgars Helligkeit empfing sie wie einen Strauß Rosen. Edmund war sie zugetan wie der pazifistischen Idee, der sie in seiner Gesellschaft einige bemerkenswerte Jahre lang treu gewesen. Und was Ewersejeff betrifft: alle Russinnen, die einmal den westlichen, harten Mann gekostet, verachten ein wenig die tatlose fatalistische Sentimentalität ihrer Genossen.
So umworben und beschäftigt Lola aussah: einsam war sie, glücklos und leer.
Mit ihrem Sergej, den sie ihr Brüderchen nannte, hätte sie sich trösten können: aber sie war keine Mutter. Wie hätte sie sonst überhaupt ihre Mutterschaft verleugnen mögen?
»Sagen Sie mir, Freund, was mir fehlt«, wandte sie sich an Edgar und legte ihre blasse Hand wie eine Lilie auf seine Schulter.
»Das müßten Sie mich fragen!« antwortete Edmund statt des Bruders, mit einem Mollklang in der Stimme, der seine Eifersucht enthüllte. »Edgar fehlt es nicht an Psychologie, doch an Geduld für diese Probleme!«
»Gut«, machte Lola, »die Frage ist eine Rundfrage.«
»Sie sind zu schwach, Lola, Sie wissen nicht, was sie wollen«, sagte Edmund.
»Sie sind zu stark, Lola, Sie wissen zu gut, was Sie wollen«, sagte Edgar.
»Beide haben recht«, rief Ewersejeff, der gerade in die Tür getreten, »sie ist ein Weib. Und überdies fehlt ihr eine Million.«
»Soll man wissen? Soll man wollen?« fragte Lola.
»Stark zu sein, ist die Schwäche des Mannes. Schwach zu sein, ist die Stärke des Weibes«, erklärte Ewersejeff.
»Bin ich schwach?« lächelte Lola.
»Nur wenn Sie lieben. Und heute sind Sie dreimal stark!«
Alle schwiegen. Die Demonstration war zu einleuchtend. Was konnte nach solchen definitiven Sätzen noch gewagt oder versucht werden? Lola zerriß mit ihren harten Fingern die Blätter einer Rose in Fetzen, und beobachtete, wie die Wunden des Blumenfleisches rosteten. Sie überlegte: sie liebte keinen.