Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Kapitel

Vom Trocadéro-Platz aus schlenderte Edmund langsam eine breite Avenue zu den Quais hinunter, um zu Fuß, an der nächtlichen Seine entlang, nach Hause zu gehen. Irgendwo in dieser kirchenleeren Gegend läutete eine Uhr dieselbe Stunde, zu der er am Abend zuvor voll gigantischer Hoffnungen das fremde Land mit den Idealen verlassen hatte. Wie vieles war während dieser einen Sonnenumdrehung geschehen: mehr als in den dreißig Jahren seines Lebens zuvor. Er hatte einen Schlag Menschen entdeckt, der ihm fremder erschien als die Völkerschaften der Südsee, von denen er durch Bücher wußte. Er hatte eingesehen, daß Mutter und Bruder Begriffe aus einer längst verschollenen Zeit sein mochten, daß Familie ein schönes Wort für Moralprediger ist, aber daß man auf dieser makadamierten Erde allein, allein ist.

Er hatte die berühmte europäische Zivilisation in ihren letzten Exponenten beobachtet: bei den Alten und bei den Jungen. Er hatte all die Schönheit und Präzision dieser überlieferten Daseinsformen kosten können und gleichzeitig zusehen müssen, mit welcher perversen Wollust die gesegneten Erben sie mutwillig zerrissen und zertraten.

An den Wassern der Seine wollte er weinen. Diese Wasser, die immer gleichmäßig unter dem Joch sovieler ungleicher Brücken hinfließen und das Epos eines ganzen Geschlechts im Rhythmus der Ewigkeit begleiten; die vom Pont d'Austerlitz bis nach Auteuil die Monumente übermütiger Größe spiegeln und dazwischen den Himmel voll einfältiger Geduld. Wo liegt das Wahre: im sichtbar Menschlichen, im unfaßbaren All? Die roten Laternen der Brücken ergossen ihr Blut in die Wellen wie durchbohrte Herzen. An den Ufern entlang waren Colliers von Opalen und Perlen gehängt. Hoch im Gebirg der Häuser, in den Mansarden brannten die kleinen Lampen der letzten Dichter.

Als ein veränderter Mensch kehrte Edmund in sein Hotel des Grands Hommes zurück. Der taufrische Optimismus seiner einfachen Natur war gewelkt.

Mit Mühe fand er sein Zimmer, am Ende eines Zickzackgangs. Auf dem Boden, hell im Mondschein, lag bei der Türe ein Brief. Edmund hob ihn langsam auf, nahm sich die Mühe nicht, das Elektrische anzudrehen, lehnte sich ans offene Fenster. Da erkannte er die Schrift: Lola! Er las, Lola war in Paris, seit fünf Monaten bereits. Sie lebte in demselben Hotel und hatte seine Adresse zufällig im Büro gelesen. Sie bewohnte Zimmer 15. Er solle sofort herunterkommen.

Edmund zerknüllte den Brief und legte sich schlafen. »Schicksal« nannte er, wie alle Schwachen den Umstand, daß Lola in Paris war, und daß Lola im Hotel des Grands Hommes wohnte. In Wirklichkeit kam es daher, daß sie beide einunddieselbe Person um Pariser Hoteladressen gefragt hatten!

Eine halbe Stunde später wurde Edmund geweckt, durch ein Bild, das kein Traum war.

Auf den Hügeln von Chailly, über Lausanne, eine emailblaue Villa, von Rhododendren und Schwertlilien umwachsen. Da wohnte Lola, die schwarzhaarige Russin, mit ihrer Mutter und ihrem Brüderchen. Ihre Haut war weiß wie der Dent du Midi, den man von der Terrasse aus sah und sie zeigte sie gern. Edmund hatte sie vor dem schwarzen Brett der Universität kennengelernt. Wo soll man Russinnen sonst kennen lernen? Und was sollen sie sonst studieren als Medizin?

Sie hatten sich schnell angefreundet. Im gleichen Alter ist eine Frau dem Jüngling immer überlegen, aber eine Russin dem Occidentalen zehnfach. Man bekommt sie, entweder durch überraschenden Handschlag sofort, oder niemals. Edmund war nicht flink genug gewesen. Übrigens wob er, sentimental wie er war, bald Geheimnisse um sie. Sie erzählte ihm offen von ihren früheren Flirts: mit sechzehn Jahren ein Marineleutnant in Orenburg, weil die Uniform so fesch war, später ein armer Student von Odessa, in Berlin ein Journalist, kurzum ... Was aber Edmund Gedanken machte, war ihre wilde, heiße Liebe zu dem Brüderchen, das immer krank war. Eines Abends weinte sie grundlos, während sie mit dem Fernrohr einem weißen Dampfer auf dem Genfersee nachsahen, der gen Evian fuhr. Dem Brüderchen küßte sie die Hand, wie um Verzeihung. Von da ab vermutete Edmund, daß Sergej ihr Kind war.

In der Wohnung die Stimmung ewiger Auswanderung. Die Mutter pendelte in crêmefarbenem Négligé, mit einem Zwicker auf der Nase und mit schrillen Hilferufen zwischen Küche und Schlafzimmer. Immerfort wurden Kuchen gebacken. Im übrigen war die Frau Blechkin hilflos wie ein Kind und überließ der Tochter die wirtschaftliche, finanzielle und moralische Verwaltung des Hauses. Sie bekam von Lola von dem Monatswechsel, den der Vater aus Kiew schickte, achtzig Franken für die Küche. Immerzu schrie und klagte sie um Zuschüsse. Aber Lola war hart. Trotzdem gab es jeden Tag Borschtsch und Quarkkuchen.

Edmund ging im Hause ein und aus, wie er wollte. Und das war sein Unglück. Seine Stellung als Geliebter galt in den Augen Lolas, der Abenteurerin, als endgültig überwunden, nachdem er sie am ersten Abend nicht besiegt hatte. Er war nur noch Freund. Er verstand es nicht und hielt sich für berechtigt, sehr unglücklich zu sein. Sie machten große Spaziergänge im offenen, verwilderten Park eines nahegelegenen Schlosses, brachen manchmal vor Morgengrauen auf, mischten sich unter die Schnitter und trieben Tollheiten im Heu, plünderten Pflaumen- und Mirabellenbäume, ritten auf Bauernpferden ins Land. Fremden stellte sie Edmund als ihren Bräutigam vor. Wenn er aber anfing, weich zu werden, lachte sie ihn aus.

Eines Abends lud sie Edmund ein, mit ihm ins Old-India-Café zu gehen. Dort sah man die kaffeebraunen Brasilianerinnen, die geschmeidigen Spanier, die müden Engländer, die für eine Stunde aus ihren Palaces entflohen. Unversehens setzte sich ein Mann an den Nebentisch, ohne die beiden vorerst zu beachten. Aber Lola sah bald verstrickt zu ihm hinüber wie ein gefangenes Vögelchen. Sie wollte aufstehn, war blaß, da drehte der Nachbar sich um, und seine Augen schimmerten auf wie Stilette. Er begrüßte sie ruhig und ließ sich Edmund vorstellen. Seit Orenburg, ja richtig, seit Orenburg habe er sie nicht mehr gesehen. Er sei Attaché beim Genfer Konsulat. Genf? Ein Leben ohnegleichen. Hotel des Bergues. Um 11 Uhr 5 gehe der Zug, in dreiviertel Stunden. Lola fuhr mit ihm in derselben Nacht. Sergej war sein Sohn.

Das alles hatte Edmund die ganze Nacht wieder neu durchlebt. Da schlug es vier Uhr vom Turm St. Geneviève, und er konnte endlich einschlafen.


 << zurück weiter >>