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9. Kapitel

Als er eine Stunde später mit einem braunen Bären in der Größe einer Bulldogge unterm Arm zurückkam, war die Situation vollkommen verändert. Sergej saß auf den Knien eines jungen Mannes, der sich im einzigen Fauteuil niedergelassen hatte, die langen, in Schaftstiefeln steckenden Beine weit über den ganzen Teppich hinausgereckt, in halb proletarischem, halb künstlerischem Aufzug. Frau Blechkin stellte Herrn Anton Antonowitsch Ewersejeff vor, einen entfernten Verwandten aus Omsk. Entfernter Verwandter ist gut, dachte Edmund und hielt ihm die Hand hin. Ewersejeff erhob sich kaum, unter dem Vorwand, den Knaben auf seinen Knien nicht zu stören, und spielte mit diesem weiter, indem er ihm offenbar russische Märchen erzählte, ohne auf den Neuankömmling zu achten. Edmund stellte nun den Bären stillschweigend auf den Tisch und wartete, bis das russische Lachen, dessen Ursachen er nicht verstand, verschallt wäre. Aber er konnte lange warten. Frau Blechkin kochte Tee auf einem Spiritusapparat, hart vor dem Spiegel des Kamins. Er saß allein in dem Zimmer und fragte sich schließlich, was er da suchte. Der Gedanke an Lola ließ ihn erblassen. Sollte er offen fragen, wann sie wiederkäme? Er fühlte sich seiner Stimme nicht sicher und hatte Angst, sich vor Ewersejeff eine Blöße zu geben. Also wartete er weiter.

Als die Gastgeberin die weißen Schalen ohne Untertasse und ohne Zucker herumreichte, geruhte der Russe, Edmund anzusprechen: »Was machen die Züricher Kommunisten? Sie haben einmal eine Ladenscheibe eingeworfen. Seitdem hat Europa nie wieder was von ihnen gehört. Der gute Platten!«

Diese Frage gab Edmund mehr Aufschluß als zehn Antworten. Er erkannte daraus, daß man von ihm gesprochen hatte, daß Ewersejeff in diesem Haus fest verankert war, daß er ihn und seine Aktionen auch gut kannte und so weiter. Zehn Prozent Ironie waren in die sachliche Frage gemischt. Vielleicht deshalb, weil Edmund nicht Kommunist war, vielleicht auch nur, weil er aus der verhaßten kleinen Schweiz kam. Aber vielleicht auch wegen Lola?

Und um dem Russen offensichtlich seine bisherige Attitüde heimzuzahlen, wandte er sich, statt zu Ewersejeff, zu Sergej und hielt ihm den Bären hin.

»Ist der echt aus der Schweiz?« fragte der Knabe argwöhnisch. »Ich habe denselben im Warenhaus Louvre gesehn. Wie dick er ist! Er schielt. Und sein Schwanz ist viel zu kurz. Gelt, Anton, die Bären haben längere Schwänze?«

Ewersejeff blieb neutral, da Edmund ja doch schon geschlagen war. Frau Blechkin aber fühlte sich gehalten, das Geschenk für ein großes und teures Kunstwerk auszugeben. Edmund, der sich auf der Straße vorgenommen hatte, mit dem Jungen eine aufgeregte Bärenjagd und andere Spiele zu unternehmen, gab verzweifelt die Partie auf. Und er sagte:

»Wozu Kommunismus in der Schweiz? Für die Kühe? Wenn es für den Export der Schokolade rentabel sein wird, dann wird er siegen!«

Der Russe lachte herzlich und zog, freundlicher geworden, die Beine ein wenig zurück. Sie kamen auf Allgemeines und Persönliches zu sprechen, auf die Pazifisten, die Ewersejeff Bleichgesichter nannte, und auf Europa, das beide für ein Museum erklärten. Aber ein großer Bogen wurde um Lola gemacht.

Es war nicht schwer zu erkennen, daß auch Ewersejeff ein Anbeter Lolas war, und nicht minder hoffnungslos als Edmund. Doch verachteten sie einander, aus Stolz, aus Trotz, und weil keiner mit dem andern auf dieselbe Stufe gestellt werden wollte.

In Ewersejeffs Augen war Edmund ein Feigling, unmännlich und schwach, ein geradezu erniedrigender Rivale, für den man Lola sehr böse sein mußte. Ein Kerl, der in der Schweiz täglich hundert Möglichkeiten gehabt hatte, sich zu ihrem Herrn aufzuwerfen, und der es bei der »Freundschaft« hatte bewenden lassen! Ein Schlappschwanz, der schon dem kleinen Sergej unterlegen war!

Für Edmund war Ewersejeff vorläufig ein lediglich schmutziger und rücksichtsloser Gesell, dessen Prätentionen bei diesen zwei alleinstehenden Frauen nicht uneigennützig sein konnten, der mit der Gewalt des Stiefels und der Einschüchterung hier hauste, und dessen Wodka- und Ledergeruch nicht immer berückend auf die zarte Lola wirken mußte. Ein entfernter Verwandter, zum Lachen! Aber er saß fest in diesem Fauteuil und war vielleicht gefährlicher als die blumenschenkenden Liebhaber. Er kam, wann und wie er wollte, und trank mit der Familie Tee, der entfernte Verwandte. Die ganze Nacht saß er in diesem Zimmer, bis in den Morgen hinein, ganz allein, und las dogmatische Werke, während längst Frau Blechkin und Sergej schliefen, und Lola im Kabarett die sehnsüchtigen Lieder von Wolga und Troika sang. Dann, zwischen zwei und drei Uhr schlenderte er zur Druckerei eines neuen russischen Blattes und holte sich hundert Nummern, die er im Laufe der Nacht und der Frühe in den russischen Straßen von Montmartre: in den Tanzlokalen, Opiumhöhlen und kleinen Eckcafés losschlug, und dazu den Nachttarif der Trinkgelder einheimste. Die dicken Tänzer wagten für den hingeworfenen Schein das Kleingeld nicht anzunehmen, hingegen schenkte Ewersejeff zur vorgerückten Morgenstunde, wenn die Dämmerung über dem Moulin Rouge bereits so rot wurde wie der Leitartikel, die bleibenden Nummern den frierenden Tänzerinnen in einer Stehbar, und säte somit noch etliche Revolutionsgedanken in Herzen, die vom schlechten Café und dem Geiz der amerikanischen Kavaliere verbittert waren. Vielleicht zog sich Ewersejeff absichtlich so erschreckend salopp an: er flößte den orgienfeiernden Gästen Angst und Respekt ein und mahnte an den Ernst der Zeit. Das stimmte die von schlechtem Champagner Beschwerten immer etwas mitleidig mit sich selbst, lockerte ein Gefühl in ihrer Brust und einen Schein in ihrem Portefeuille.

Also, Ewersejeff wußte aus seiner Gestalt und seiner Trostlosigkeit den größtmöglichen Profit zu schlagen. Auf seiner Tournee hatte er so auch Lola kennen gelernt, als sie einmal um vier Uhr frierend aus dem Kaukasischen Schloß in das finstere Apachencafé gegenüber geflohen war und dort mit Tränen in den Augen den Kartenspielern zugesehen hatte. Ewersejeff war leise an ihren Tisch getreten und hatte ihr unbemerkt eine Nummer der Zeitung zugeschoben, in die er sein Herz heimlich gewickelt hatte. Zuhause erst fand sie es. Und von der nächsten Morgendämmerung ab waren sie Kameraden geworden. Der langbeinige, lässige Russe ward schnell ein Vertrauter der Mutter Blechkin und erfuhr von ihr alle Liebesgeschichten Lolas. Das war sein Pech. Er wußte so viel von den anderen, daß er sich vergaß. Und so ersetzte er in gewissem Sinne in Paris den Edmund von Chailly.

Edmund wagte jetzt auch nicht mehr zu fragen, wann und ob Lola heute abend zurückkommen würde. Niemand schien sich darum zu kümmern: Ihr ›Leben‹ spielte sich ziemlich geheimnisvoll ab, aber wirkte dennoch, wie ein ferner Magnet, richtungweisend auf die Existenz der von ihr Abhängigen im Hotel. Es wurde kein Hehl daraus gemacht, daß sie die Familie aushielt, mitsamt Ewersejeff, wenn er auch nur Tee trank. Russische Zustände, die der Westler nicht versteht. Geniale Unordnung des Lebens, die den ängstlichen Seelenbürokraten in Entsetzen bringt.

Was suchte Edmund jetzt hier? Draußen erstickte Paris sein krankhaftes Autohusten mit einem dichten Nebeltuch. Der Abend kommt unversehens in dieser Stadt, er schlängelt sich wie die Verbrecher in die Korridore und hinter die Fenstervorhänge. Millionen Möglichkeiten gab es dort. Millionen Frauen in den Untergrundbahnen, in den Cafés, in den Schneiderateliers, mit Augen, die man mit allen Flüssigkeiten einer American-Bar vergleichen konnte, mit Brüsten, die alle für ein magisches Wort erzitterten, mit roten Mündern, die mit allen Tugenden und Lastern gefärbt waren. Was wartete Edmund noch hier? Warum setzte er sein Leben auf einen Namen, auf einen einzigen Charakter, auf eine übrigens zu Dreivierteln verspielte Chance? Es war etwas Negatives, das ihn hier zurückhielt, es war lediglich nur die Anwesenheit des Rivalen, dem er keinen Blanco-Gewinn gönnte. Er besaß die erste Nummer der Wartenden vor dem Herzen des Mädchens. Er wollte das seit vielen Jahren investierte Gefühlskapital nicht ohne weiteres verloren geben, und wenn nicht Liebeszinsen, so doch wenigstens einen Ehranteil herausschlagen.

»Spielen wir einen Poker?« warf Ewersejeff plötzlich in die latente Langeweile des Zimmers. Aus einer Ecke hinter dem Diwan gluckste die Stimme der Alten freudig. Edmund, zu allem anderen aufgelegt, sagte nicht nein, weil er das einem politischen Gespräch mit dem gereizten Gegner vorzog, und weil er gern einiges Geld verlieren wollte, um dessen dunklen Sinn zu versöhnen. Seit wie lange hatte er keine Karten mehr in Händen gehalten. Nun kamen ihm die Figuren so heimatlich vor wie Photographien im Familienalbum, der herzensgute Karokönig, der einem Onkel aus Brasilien ähnlich sah, der melancholische Herzbube, so ganz ohne Arg und Eifersucht, und das fatale Fräulein von Pique, das sich sicher hinter jeder Zimmertür abküssen ließ. Karree und Full As waren ihm nicht beschieden, und doch hatte er kein Glück in der Liebe. Es wurde sieben, es wurde zehn, es wurde Mitternacht, und Lola war nicht heimgekehrt. Man trank Wodka zu Sardinen und Orangen. Wo dinierte die von allen Geliebte? Denn bei jeder ausgeworfenen Kartenfrau dachten alle drei heimlich nur an sie. Am meisten gewann Frau Blechkin, und es war schließlich nicht nur der Schlaf, der sie um halb eins zum Aufhören drängte. Ewersejeff gab Edmund Rendez-vous in der kleinen Bar neben dem Rat Mort, für vier Uhr früh. Dieser nahm an, gedachte aber, sich vorher oben auf seinem Bett auszustrecken. Und bevor sie sich verabschiedeten, gingen alle drei auf den Zehenspitzen zum kleinen Bett, in dem Lolas Sohn die Augen der Mutter, hinter weißen Lidern und von schwarzen Wimpern beschattet, sicher behütete. Sie taten alle drei eine Geste, als ob sie beteten.


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