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2. Kapitel

Gegen drei Uhr nachmittags klopfte es leicht, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat ein auffallend schöner, junger Mensch mit großer Sicherheit herein, stellte sich vor Edmund auf und sagte:

»Sie sind mein Bruder. Mutter telephonierte mir soeben, daß Sie angekommen sind, und bat, ich solle Ihnen gleich meine Freundschaft bringen. Wie nichtig sind Worte. Wir sollen Brüder und Freunde sein, und kannten gestern kaum unsere Namen! Ich denke aber, wir werden den Weg zueinander finden.«

Edmund war nicht dazu gekommen, ein Wort anzubringen. Was bedeutete das alles? Er machte sich seit mehreren Minuten bereit, seinem Bruder um den Hals zu fallen, fragte sich heimlich, ob er ihn auf die Backen küssen solle wie ein guter Onkel oder auf die Stirn wie ein Vater.

»Also du bist es, Edgar.«

Der Jüngere trat einen Schritt zur Seite und sagte, um sich eine Haltung zu geben:

»Ein ganz originelles Hotel. Wie haben Sie das gefunden?«

So begrüßten sich zwei Brüder, die sich nie gesehen hatten. Der eine öffnete die Arme weit, der andere ließ sie verhalten niederhängen.

»Wie groß du bist, Junge!« rief nach kurzem Schweigen Edmund, ein wenig zurücktretend, um mit besserem Abstand messen zu können.

Edgar stand vor ihm und warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. Souveräne Zucht meisterte seine Glieder. Obwohl vor Nervosität fast zerspringend, hatte er sich doch so in der Gewalt, daß er gelassen lächelte. Verhalten die Stimme, verhalten die wirkliche Eleganz seiner Kleidung, verhalten der Blick seiner doch so brennenden und funkelnden Augen, mit denen er bereits seinen Bruder durchleuchtet hatte, ohne daß der es gemerkt.

Edmund, der entgegengesetzte Blonde: dick, behäbig, voll einer schwerfälligen Gutmütigkeit, oft grundlos lachend, die Gesten immer unberechnet, die Worte ebenfalls. Immer sich selber im Wege, bald übermäßig ehrlich, bald unnötig verschämt.

Er kam dem Jüngeren mit grenzenlosem Vertrauen entgegen, mit unbestimmten Hoffnungen. Seine Augen schwammen über von Gefühl.

»Ich muß gestehen, ein ganz patenter Kerl«, sagte Edmund, noch im rechten Augenblick das Prädikat »bist du« verschluckend, denn das Duzen wurde diesen beiden so durchaus entfremdeten Brüdern seltsam schwer. Das wird eine nette Unterhaltung geben, dachte er gleichzeitig, wenn die Sätze kein Verbum haben dürfen.

Aber noch einmal sprang er mutig ins kalte Wasser von Edgars Augen:

»Wie hab ich mich gefreut, mein Lieber, auf diese Stunde. Junge Menschen wie wir haben für tausend Nächte Stoff zu diskutieren. Nicht wahr? All die großen Probleme ...«

»Große Probleme?« unterbrach ihn Edgar gereizt. »Was für große Probleme gibt es denn? Ich ahne schon. Gott? Die Wahrheit? Die Revolution? Und anderes mehr. Sie glauben auch selbstverständlich an den Völkerbund?« Edmund konnte die Augen nicht von ihm wenden. Aus welcher Ecke dieses knabenhaften, wie Milch und Erdbeeren reinen Gesichtes mochte soviel Bosheit kommen? Keine Falte, kein Schatten in diesem offenen Antlitz, das an Pagen erinnerte. In Harmonie damit die Sprache von geschliffener Feinheit, die Haltung von erstaunlich sicherer Anmut. Der Anzug von einfachem, nicht auffallendem Tuch und Schnitt bekundete dennoch etwas Überlegenes. Und nur die kleine, rosaseidene Krawatte im breiten, weichen Kragen deutete auf einen besonderen, künstlerischen Geschmack.

»Sie glauben wohl gar an den Fortschritt?« höhnte Edgar und lächelte, um zu verbergen, wie sehr er sich ärgerte. Sich über einen Bruder ärgerte, der so wenig Feinsinn zeigte, aus der Schweiz kam, aus der Provinz, ein schwerer Mensch, der alles und sich ernst nahm.

Edmund merkte nichts von dem, was in Edgar vorging. Er verstand ihn nicht. Das machte ihn unsicher. Er, der zehn Jahre Ältere verstand ihn nicht. Auf alles war er gefaßt gewesen, nur darauf nicht.

»Wie blödsinnig auch«, scherzte Edmund und faßte sich an den Kopf. »Da erörtern wir in den ersten zehn Minuten philosophische Themen, statt uns zu fragen, wie lange wir gestern geschlafen haben, wie unser letztes Mädchen heißt und ob wir das Mittelmeer der Nordsee vorziehen!«

Da er sich aber als der Unterlegene vorkommen mußte, erfand er schnell, um sich vor sich selber zu rechtfertigen, dem Bruder eine Schwäche, so weh es ihm auch tat: Er ist ein kleiner Snob, entschied Edmund in seinem Innern. Aber gegen die Schönheit Edgars konnte er nichts einwenden, und auch gegen den süßen Gedanken nichts, daß das sein Bruder war.

»Und Mama!« rief Edmund dann plötzlich aus, stolz darauf, daß er vor dem verachtungsvollen Edgar auf eine Art Zynismus pochen konnte: jetzt erst erinnerte er sich an die Mutter! Wenn ein einfacher Mensch einem Zyniker gegenübersteht, tut er alles, um diesen an falscher Gemeinheit zu übertreffen. Der gute Mensch schämt sich, der zynische nie. Edgar lächelte doppelsinnig: entweder darüber, daß Edmund so spät der Mutter gedachte, oder darüber, daß er auf Edmunds Schlechtigkeit keineswegs hereinfiel. Edmund traf zwischen den zwei Fassungen keine Entscheidung.

Darauf erklärte Edgar, daß sie eine feine, alte Dame sei, voll eines rührenden Egoismus. Sie lebe für ihre Tees, ihren Bridge und ihre Sommerfrischen. Das sei sehr angenehm, denn sie greife in niemandes Persönlichkeit ein. Also eine unvergleichliche Mutter. Sie habe ja Edmund in seiner Schweiz auch wenig gestört?

Edmund biß sich auf die Lippen. Als er nach Paris abfuhr, hatte er seinen Bekannten allen stolz gesagt: Ich fahre zu meiner Familie. »Familie!« So sah sie aus. Beinahe hätte er geschluchzt. Aber vor seinem leiblichen Bruder schluchzen? Vor einer Stunde noch hätte er es zwar natürlich gefunden!

Edmund trat ans Fenster. In matt orangenem Schein schillerte die Pantheonskuppel. Sein erster Pariser Tag. Dieselbe Sonne war es, die am selben Morgen über den erwachenden Dörfern der Ile-de-France wie ein goldener Hahn aufgeflattert war. Die Stadt aber lag bereits wie blaue Asche unter ihm.

Edgar stand nervös im Hintergrund des Zimmers, wie der wartende Arzt, wenn der verlorene Sohn zum letztenmal vom Sterbenden Abschied nimmt. Dann sagte er: »Dies ist die Stunde, in der die Bürger sentimental werden!«

Edmund warf sich ins Zimmer zurück. Edgar reichte ihm den Hut.

»Komm. Wir wollen nicht in diesem dumpfen Zimmer versauern. Du mußt Paris kennen lernen, Freund. Wir wollen sehen, was sich aus dir machen läßt«, sagte jetzt Edgar in einem Ton, der ihn selbst, den etwas Enttäuschten, versöhnen sollte. Und dabei stellte sich auch das Du ganz einfach ein.

»Wir gehen jetzt zu meinem Freund Cocherel. Dort wirst du die paar jungen Menschen kennen lernen, die für heute typisch sind, alle ein bißchen so wie ich. Erschrick nicht! Ich befürchte zwar, daß sich eine Riesenkluft zwischen unseren beiden Generationen auftut. Aber wir werden ja sehen. Dann noch eins: um acht Uhr bist du bei unserer lieben Frau Mama zum Diner geladen. Halboffiziös. Du wirst in Gesellschaft einiger frischer und trockener Mumien ausgezeichnete Speisen essen. Wenn ich hingehe, dreimal im Jahr, glaube ich zu träumen. Ich beneide dich. Es muß für einen Neuling ein ganz besonderes Erlebnis sein.«


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