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7. Kapitel

Edgar war viel weniger verschlossen und herb als tags zuvor. Es schien, als habe er eine Maske abgelegt, mit der er die Rolle des Jahrhundertmüden gespielt hatte. Er war frisch wie nach einem Bad, erlaubte sich sogar einige Studentenwitze, über die er gestern, in seiner altklugen Laune, bösartig und verbissen die Stirn gerunzelt hätte.

Edmund wurde aus ihm nicht klug. Wie war er in Wirklichkeit: der von gestern oder der von heute? Hatte er bereits von der Mutter (telephonisch) erfahren, wie meisterhaft Edmund den Alten die Wahrheit gesagt hatte? Oder hatte ihn das Erlebnis mit Lola so verändert? Edmund zitterte vor dieser letzten Hypothese. Zitterte so sehr, daß er überhaupt keine Frage über Lola zu stellen wagte. Edgar vermied es vorläufig auch. So schlenderten sie den Boulevard Saint Michel hinunter. »Paris wird dich doch noch ganz umformen«, sagte Edgar. »Keiner entgeht seiner Wirkung. Es ist ein schlimmes Narkotikum. Die Fremden saugen es in sich ein wie Opium. Der Anfangsrausch, der Wonnetraum von Montmartre und den Elysäischen Gefilden hält lange an. Wer aber schließlich hängen bleibt, der hat seine Seele verkauft.«

»Ich werde kaum lange hier bleiben!«

»Du willst deine Ideale retten!«

»Ich kann sie auch hier verwerten.«

»Wenn sie Geld einbringen, ja! Wir sind Realisten, in Frankreich!«

»Macht ihr euer Land nicht herunter, um es aus dem Mund der anderen umso höher gelobt zu hören? Ihr kokettiert mit eurem Vaterland. Aber wehe, wenn ein Fremder es angriffe!«

»Tiens! Tiens! Du hast schon was gelernt!« lachte Edgar.

»Ihr habt mich gestern genügend mores gelehrt.«

»Das ist nun wieder die Angst des Bauern vor dem Mann mit der Hosenfalte. Nein, nein, ich versichere dir, unsere Verzweiflung ist echt, und unsere Verachtung des Nächsten maßlos.«

»Diese Lehre von der Lüge wendet ihr in der Praxis an?«

»Sie stellt unsere zehn Gebote und dreizehn Glaubensartikel dar.«

»Und glaubt ihr nicht auch, daß ihr euch zuweilen selbst anlügt?«

»Das gehört dazu«, parierte Edgar ruhig. »Das ist sogar das Schönste an der Sache. Das gestaltet das Leben etwas bunter. Sonst müßte man ja gleich vor Banalität krepieren?«

»Aber – die Liebe!« landete Edmund jetzt bei seinem Lieblingsthema. »Könnt ihr, die ihr das Gewissen, den Glauben, die Hoffnung abgeschafft habt, könnt ihr mit gestutzten Flügeln lieben?«

Edgar lächelte, weil er die Frage nicht auf ihre Tiefe hin prüfte. Weil er nicht an sie dachte. Weil er noch nie geliebt hatte. Und weil bei seinen Kameraden eben eine Lieblingsformel geprägt worden war: »Es gibt keine Liebe mehr!« Wie altmodisch kam ihm dieser Mitropäer vor!

»In der ganzen Welt keine Liebe mehr?« wiederholte Edmund.

»Was geht mich die ganze Welt an. Mögen die Hirschkäfer und die Turteltauben, die spanischen Ritter und die schlesischen Sklaven weiter der Natur gehorchen, für uns Überzivilisierte ist Liebe ein sinnleerer Begriff geworden.«

Vor dem Musée de Cluny blieb Edmund stehen und sagte mit fast zitternder Stimme: »Nun! Ich liebe!«

Die beiden Brüder sahen sich in die Augen.

»Lola?« lächelte Edgar.

Edmund antwortete nicht und ging weiter. Edgar holte ihn erst beim Zeitungskiosk wieder ein.

»Mehr denn je sehe ich ein, daß du zu unserer Theorie übertreten mußt«, bemerkte Edgar sachlich und hielt den Bruder am Arm zurück, der eben in einem gefährlichen Moment die Straße passieren wollte. Und dann sagte er brutal: »Ich habe vorgestern mit ihr geschlafen!«

Eine dichte Menge hatte sich am Trottoirrand angestaut, um die Wagen- und Tramflut vorüber zu lassen. Unbekümmert um die ganze Umgebung ergriff Edmund seinen Bruder am Mantelkragen, stellte sich hart vor ihn hin, bohrte seine kleingewordenen Sepiapupillen in die zwei blauen, erstaunten Augen und schrie mit so rauher Stimme: »Sag, daß du lügst!«, daß sich mehrere Passanten zwischen die beiden Brüder warfen und sie unsanft auseinander trieben. Ein Schutzmann drehte sich bereits um. Es dauerte fünf Minuten, bis Edmund und Edgar dem nicht mehr sich lösenden Menschenauflauf klar gemacht hatten, daß sie Brüder und vollkommen einig seien.

Aufatmend traten sie in das Restaurant Duval, wo es sehr still wie in einem Kloster zugeht. Alte Serviermädchen, wie fromme Schwestern angezogen, lächeln gütig, indem sie sich nach eines jeden Begehr erkundigen und fromme Ratschläge erteilen. Sie bestellten gefüllte Tomaten, Turbot mayonnaise, Agneau verte pré und Baisers. Halt, eine Flasche Anjou!

»Etwas springt zuweilen aus Idealen schon heraus«, begann Edgar, während der Fisch serviert wurde. »Man muß sie nicht immer mit Sternen oder Margeriten verwechseln. Sie wirken zuweilen auch wie Dynamit. So im gewesenen Zarenreich. Und bei der großen Explosion wurden sämtliche Sterne und Blumen, die bisher im kühlen Osten unerkannt gestanden, über Europa verschüttet und schmücken es jetzt mit fremden Farben. Das sexuelle Leben des Kontinents hat an etlichen Volt zugenommen, seitdem die Russinnen es mit ihrer eigenen Elektrizität neu geschürt haben. Ohne die Russinnen ist die Liebe in Berlin oder in Paris nicht mehr denkbar.«

»Du behauptetest doch vorhin, es gebe keine Liebe mehr?« unterbrach ihn Edmund, kaum mehr böse.

»Nein, aber Russinnen gibt es. Ich habe doch auch nicht die Existenz der Frauen geleugnet. Aber laß dir weiter erzählen. Achtzig Prozent aller Russinnen, die sich in allen Vierteln von Paris niedergelassen haben, in denen der Mode, des Geschäfts, des Tanzes und der Kunst, achtzig Prozent davon sind Generalinnen oder Großfürstinnen. Die frühere klassische russische Studentin ist ausgestorben. Sie würde nämlich immer noch als Revolutionärin gelten, und die ist außer Mode gekommen: sie bietet keine Originalität mehr. Und außerdem, was suchte sie in Europa, sie gehört nach Moskau.

Ich will dir erzählen, auf welch wundersame Weise einer meiner Schulkameraden Bardirektor geworden ist. Er lernte die Witwe des größten Generals der Ukraine in der Untergrundbahn kennen. An jenem Tage schütterten die Wagen dermaßen, daß ihre Knie immerfort aneinandergerieten und besondere elektrische Funken durch Seide und Stoff hindurchbrannten. Mein Freund war vor einer so edlen Generalin so schüchtern, daß er zur Seite schaute: aber auch sie schaute zur Seite, und beider Blicke trafen sich in der zitternden Spiegelscheibe und gerieten von nun an nicht mehr auseinander. Vielleicht würde man das bei euch in Mitropa schon Liebe nennen.

Sie stiegen wie zufällig an derselben Station aus, und diese unleugbare Wahlverwandtschaft schmiedete sie zu einem vorläufig unzertrennlichen Paar zusammen. Die Straßen waren von Autos überfüllt, die Cafés von Menschen, und so entschlossen sie sich, eine gemeinsame Ruhestätte in einem Hotel Meublé der Rue St. Lazare zu suchen. Vielleicht nennt man das Liebe in Mitropa. Die Generalin sprach sehr schlecht französisch, sollte aber ein Restaurant aufmachen. Der ehemalige Direktor des Smolny-Instituts, der Generalstabschef Wrangels und ein Pope, der sie zur Welt hatte kommen sehen, verschafften ihr ein Lokal in Montparnasse und etwas Geld, um eine Bar aufzumachen und redlich ihr Leben zu fristen. Nun mußte sie die ganze Installation einkaufen. André sollte ihr helfen. Sie erkundigten sich im Hotelbüro, wo man eine Mahagoni-Bar, dazu gehörige Stühle, Tische, Aschenbecher, Wein, Vermouth und Sektgläser kaufe. Man verwies sie ins Viertel der Bastille. André kaufte so gut ein und hatte so rote Lippen, daß sie ihn bat, ihr Barmann zu werden. Heute ist er Mitinhaber.«

»Wozu das alles?« fragte Edmund tonlos und nervös. »Ruhe. Geduld. Das ist die Bar geworden, in der wir uns treffen, Cocherel, Mazelle und alle anderen Jünglinge des Jahrhunderts. Dort wird der Niedergang der Zivilisation dekretiert. Es werden dazu die heiligen Riten des Tangos ausgeführt, edle Türkenzigaretten geraucht und Sätze von André Gide zitiert. Jede Nacht begraben wir Europa. Zu diesem Behuf sind uns die Russinnen behilflich, lauter Standesgenossinnen der Generalin, denn sie sind die intelligentesten unter den Frauen der Welt, und sie verstehen uns, während die Französinnen zu bürgerlich, die Amerikanerinnen zu pervers und die Spanierinnen zu launisch sind. Die Russinnen verstehen, daß es keine Liebe, keine Götter und keine Schranken mehr gibt. Sie waren alle einmal große und ehrenwerte Frauen, aber sie sind logisch: bei einem Brand geht man nicht die Treppe hinunter, man stürzt sich besser zum Fenster hinaus –: Und jeden Abend stürzt sich Lola zum Fenster hinaus.«

Edmund senkte den Kopf. Dann nahm er Edgars Hand: »Ich danke dir. Schonender kann man nicht sein. Ich hielt dich doch für brutaler.«

»Wieso?« tat Edgar mit veränderter Stimme. »Schonend?«

»Du kennst wohl die ganze Geschichte mit Lola, meine frühere Freundschaft mit ihr, Genf und so weiter?«

»Kein Wort!«

»Daß ich sie seit drei Jahren liebe, sie heiraten wollte, und daß Sergej ihr Sohn ist?«

»Kein Wort! Ich dachte vielmehr, du kennest sie erst seit gestern, im Hotel ...«

Also Edgar wußte nicht einmal? Und es war keine andere Pointe dabei als die berühmte Ironie des Lebens? Er kannte Lolas Vergangenheit nicht und zählte sie zu den achttausend russischen Generalinnen von Paris? Und er, Edmund, dankte ihm? Ihm schien sein Bruder als der Geist der Verneinung zugesellt zu sein. Bei jedem Schritt, den er in Paris tat, wurde ein anderer Pfeiler seiner bisherigen Welt erschüttert. Wie herrlich war es in Lausanne gewesen: er hatte nicht nur an die Menschen geglaubt, sondern auch daran, sie glücklich zu machen. Es ist eigentlich eine ungeheure Anmaßung der Dichter und Pazifisten, ihre Erdengenossen unter allen Umständen beglücken zu wollen: aber die Güte ist bestimmt ebenso eine Selbstbefriedigung wie der Ehrgeiz des Metzgers, die besten Würste zu machen, und des Richters, die unumstößlichsten Urteile zu fällen. Hier in Paris wurde Edmund der Boden unter den Füßen weggezogen. Meinte es das Leben mit ihm ehrlich oder war er in einen Hinterhalt geraten? Die Frage eines Bauern, der auf Reisen sein Geld ins Rockfutter nähen läßt, statt einen Browning bei sich zu führen. Und der Räuber Zweifel hatte ihn überfallen.

Dieser Schlag mit Lola war zu hart. Da gab ihm das nahe, reale, faßbare Leben offenbar unrecht. War er dermaßen hinter der Zeit zurück? Gruben zehn Jahre solche Abgründe zwischen zwei Generationen? Der erste Mensch, den er in Paris trifft, erzählt ihm ins Gesicht, daß er »vorgestern« mit der ihm fast unnahbaren Göttin geschlafen hat! Und fühlt sich dafür weder ihr dankbar noch ihm gegenüber schuldig!

Was war aus Lola geworden? Aus der Lola von Chailly: damals war sie ein so offener Kamerad gewesen, sie sahen sich fast jeden Tag, er blieb die Abende oft bis Mitternacht im Wohnzimmer, man spielte Klavier, oder entwickelte Photos, und Madame Blechkin kochte Tee. Kein Mann dazwischen. Wie machte sie sich lustig über die Armenier im Kolleg oder die samtbraunen Argentinier auf der Place St. François, die ihr wildes Blut rochen, aber zu wenig Geist hatten, um sie für sich einzunehmen! Da hatte sich Edmund für den Einzigen halten dürfen, der ...

Ja, Sascha! Aber das war Vergangenheit und sozusagen eine lebenslängliche erste Hypothek. Dagegen konnte man nichts machen. Edmund war ja auch nicht im Ural geboren. Und weil er Überlegung mit Überlegenheit verwechselte, hatte er geglaubt, gegen Eifersucht gefeit zu sein.

Welche Täuschung! Niemand war eifersüchtiger als er! Es war plötzlich elementar in ihm ausgebrochen, als sein geborener Feind im Old India-Café aufgetaucht war. Wenn es auch stimmt, daß sich Lola an diesem Abend nicht sehr schwesterlich benahm, so war es mitropäisch unreif von ihm, ihr in diesem Augenblick nicht zu verzeihen und den Beleidigten zu spielen. Seit dieser Stunde nämlich hatte er gänzlich mit dem Hause Blechkin gebrochen und es nicht einmal für nötig gehalten, die Mutter, die recht unruhig sein mußte, aufzuklären.

Statt dessen war er, vom eigenen Schmerz gerührt, in die berühmte, klassische Einsamkeit geflohen und hatte sich in einem kleinen Wirtshaus in Cully eingemietet: sein Fenster ging direkt auf den See. An der Hausmauer knusperten die Wellen herum. Die Möwen streiften manchmal seine Jalousien. Tagelang war er da sitzen geblieben und hatte an den Gefangenen von Chillon gedacht. Wenn die weißen Dampfschiffe vorüberkamen, und eine weißgekleidete Frau mit einem Tuch winkte, nahm er den Operngucker: vielleicht war es zufällig Lola, oder eine Freundin von ihr.

Das war sein erster großer Schmerz gewesen, und er hatte versucht, ihm auszuweichen, indem er die äußere Landschaft seines Lebens veränderte. So wie die Schlaflosen sich im Bett auf die andere Seite legen.

Es war gerade ein üppiger Südherbst. Quer über der Landstraße stiegen steil die Weinberge an: in der Gluthitze war Edmund, an den Weinlesetagen, als Winzer verkleidet, mit einem zerschlissenen Rock und groben Schuhen auf die verbotenen Hügel gestiegen. Mit welcher Gier, die vollen Reben rupfend, und kaum angebissen, eine rote für eine noch süßer winkende goldene wegwerfend, hatte er sich die engen Laubgassen hinaufgeschlängelt, schnaufend, unrasiert wie ein zottiger Faun, mit klebrigen Händen und von Süße verklebten Wimpern und Lippen. Der Nymphe Lola jagte er nach, verschmitzt und verschwitzt. Zuweilen kam er zu nah an eine Winzerfamilie heran und blieb dann stundenlang klopfenden Herzens hinter einem Abhang liegen, bis diese sich langsam hinaufgesungen hatte. Und dann floh er am Bahndamm entlang, als gälte es, sich dem Ort eines blutigen Verbrechens zu entziehen, schlüpfte in die kleinen, kalten Tunnels und zitterte am ganzen Leib, wenn der Berner Express ihn an die Steinwand klebte, so schwach, als wäre er selbst nur ein Schatten. Torkelnd und leise verzweifelnd suchte er noch stundenlang in der Nachtkälte den Weg nach seinem Herzen zurück. Das war Edmunds Herbst gewesen: aber zu gleicher Zeit torkelte schon Lola auf den sekttriefenden Hügeln von Montmartre, eine Winzerin von ganz anderen Tänzern gepackt ...

Alles dies wirbelte in Edmunds Kopf herum, während seine Hand den Zucker im schwarzen Kaffee umrührte. Edgar, ihm gegenüber, lächelte heimlich.

»Lieber Freund«, sagte er, »bist du wegen Lola oder wegen Paris hergekommen? Die Frage ist wichtig. Beantworte sie dir selbst! Aber im ersten Falle wäre mein Interesse an dir völlig entwertet. Im anderen Falle hielte es nur insoweit stand, als du noch genügend jugendlichen Leichtsinn an den Tag legen könntest, um endgültig umzusatteln. Sonst bleibst du ein langweiliges Individuum, eine belanglose Kopie.«

»Was soll ich tun?« machte Edmund böse.

»Bravo! Sehr gut!« schrie Edgar. »Was soll ich tun? ist die erste Frage derer, die keine Antwort mehr erwarten. Ich habe jetzt vor, dir Paris zu zeigen, von allen Plattformen aus: in einem Autobus, in einem Fahrstuhl des Eiffelturms, in einem Sessel der Comédie Française und nachher auf einem Bordelldiwan. Wenn du einmal ausrufst: Wie herrlich! verlasse ich dich auf Nimmerwiedersehen. Es ist nämlich nichts mehr schön, es kann in unserer charakterlosen Zeit nichts Schönes geben. Es wäre genau so, wie wenn du Pompeji oder die Sphinx schön finden würdest. Paris ist eine Ruine des Mittelalters und bleibt als solche wertvoll für die Amerikaner von Cook. Die Welt glaubt immer noch, daß auf dem Quai Voltaire der Geist fabriziert wird. Es steht damit wie mit der Chartreuse der Mönche: wenn sie echt sein müßte, würde der Katholizismus wirklich eine große Renaissance feiern zwecks Schnapsfabrikation.«


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