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8. Kapitel

Edmund hielt diese langen, tragische Dinge mit spöttischem Übermut behandelnden Auseinandersetzungen nicht aus und verabschiedete sich rasch nach dem Mokka, obwohl eigentlich verabredet war, daß sie den Nachmittag zusammen in verwunschenen Altvierteln verbringen würden. Im Gefühl seiner Fremdheit hätte sich Edmund am liebsten in sich selbst verkrochen oder wäre geflohen. Ja, wenn er sofort zur Gare de l'Est liefe und mit dem nächsten Zug wegführe, in die gemütliche Einsamkeit zurück!

Aber es war natürlich nicht daran zu denken. Die Stadt hieß nicht mehr Paris, sie hieß Lola. Ihr Kopf leuchtete ihm jetzt über den Baumreihen des Luxembourg anstelle der Sonne. Er prangte auf den Umschlagseiten der Illustrierten Zeitungen, an den Kiosks. Auf jener Filmaffiche, war es nicht sie? Lola! Lola in Paris! Die Stadt hatte eine andere Atmosphäre, einen anderen Rhythmus als gestern.

Er hatte noch kaum Gelegenheit gehabt, sich mit Lola eingehend auszusprechen. Sie hatte gleich soviel zu erzählen gehabt und in einer halben Stunde soviel Geschehnisse, soviel Bilder, soviel Erinnerungen im kleinen Hotelzimmer herumgestreut, als Koffer, Briefe und Schuhe herumlagen. Und alles das, und die Stimme der Mutter Blechkin hatten ihn gehindert, Lola auch nur zu sehen. Ja er hatte sie so wenig gesehen, daß er sich im Augenblick nicht einmal mehr erinnern konnte, ob das Grübchen an ihrem Mundwinkel links noch dieselbe Frische behalten hatte oder vielleicht im Meer der vielen seitdem erzwungenen Lächeln gleich einer Sandinsel zerflossen war. Und ob ihre Augen noch den perlmutternen Schleier hatten oder vom Leben jetzt nackt gewaschen worden waren. Das war das Wichtige, woran er sie hätte erkennen müssen. Aber wenn jemand ihn jetzt gefragt hätte, wie sie genau aussah, er hätte es nicht schildern können.

Hin zu ihr trieb es ihn. Mit derselben Verachtung, mit der er einst über die Grate des Chamossaire gestiegen war, ging er hart vor den wie Mammuts drohenden Autobussen her über die Place Rostand und lief fast hinauf ins Hotel des Grands Hommes. Von ihr hing es ab, ob er bleiben oder fahren würde; er riß, fast ohne anzuklopfen, die Tür zu Zimmer 15 auf: Frau Blechkin war allein da und wusch rosa Strümpfe unter der Wasserleitung. Leise gluckste sie auf, als sie ihn sah, wie so oft in Chailly, wenn er mit einem großen Blumenbukett hereingestürzt kam, aber Lola mit Studenten auf eine Bergtour ausgeflogen war. Die Alte hatte ihn immer getröstet, wie einen Sohn, den man in Schutz nimmt gegen ein herzloses untreues Mädchen. An ihrer Schulter hatte er oft geweint.

Jaja, so mußte es sein. Es war die Spielregel, daß, wenn Edmund sie freundschaftlich überraschen wollte, Lola über alle Berge und Boulevards war! Und immer empfing ihn mit Überschwang und sicher auch mit echtem Gefühl von Mitleid die Kupplerinmutter. Sie nahm scheinbar immer Partei gegen die Tochter und diente ihr beflissen. Und heute gab's erst was zu erzählen, zu lamentieren und zu vertuschen! Madame Blechkin hatte die Kunst entdeckt. Einer der jungen Herren hatte ihr weisgemacht, daß Lola absolut photogénique sei. Sie sprach das Wort voller Bewunderung aus, aber doch so, als bedeute es ein pharmazeutisches Mittel. Photogénique hieß für sie: bringt sicher viel Geld ein. Ach, und zu dritt brauchten sie so viel Geld, obwohl sie sich mit diesem winzigen Zimmer im Hotel des Grands Hommes begnügten, und Frau Blechkin immerzu Tee und Wurstbrote zubereitete. Um ganz und gar photogénique zu werden, hatte Lola zuerst angefangen, im Chor eines Kabaretts zu singen. Es ist seltsam, daß der erste Gedanke, der den verarmten und verkrachten Russinnen in Paris kommt, immer das Singen ist; und erst von diesem Bühnenbrett aus springen sie in die Mode, in die Perlenindustrie oder mit Vorliebe ins Bett alter Franzosen.

Frau Blechkin erzählte und hörte dabei nicht auf, die beiden seidenen Strümpfe Lolas unerbittlich zu zerknüllen, sie wie zwei rosa Flamingohälse unter Wasser zu tauchen, dann wieder hochzuziehen und an der richtigen Stelle der Kehle umzudrehen, und dann sofort wieder unterzutunken, als könnte sie das Leben aus diesen beiden hartnäckigen Dingern nicht herauskriegen. Immer wieder und immer blendender flatterten die rosa Strümpfe empor und siegten schließlich, blähten sich und ließen vor Edmunds blinzelnden Augen die schöne, volle Form von Lolas Beinen erstehen. Einen wilden Czardas tanzten sie vor ihm. Endlich nahm Frau Blechkin zwei Zwickel und befestigte die stillgewordenen Vögel an einer quer übers Bett, vom Nagel einer Milletreproduktion zum Kleiderständer hinüber gespannten Schnur. Da hingen sie dann leblos und so hoffnungslos wie die Gedanken Edmunds.

»Was Lola an Strümpfen kaputt macht, davon haben Sie keine Ahnung. Anfangs brauchte sie im Kaukasischen Schloß nur zu singen, aber dann zwang man sie auch zu tanzen, manchmal bis um fünf Uhr früh, und an ein Stopfen der vertanzten Strümpfe ist nicht mehr zu denken. Lola ist darin auch rein und stolz geblieben: sie duldet keine Flicknaht an einem Kleidungsstück, Alter Adelsinstinkt«

Edmunds Gesicht erschlaffte, als hätte ein Arzt soeben den Krebs an seinem Herzen entdeckt. Frau Blechkin merkte es sogar: »Immer noch sentimental? Sie tun ja, als hätten Sie Ehesorgen?«

Und rücksichtslos, vielleicht auch harmlos erzählte sie weiter: Lola verkehre in der erlesensten Gesellschaft, denn in dem Chor, in dem sie Alt sang, sei die Prinzessin Feodorowna der Sopran gewesen, und der Fürst Michael Michaelowitsch führe sie oft in seinem Auto nach Hause. Sie trinke übrigens nie Alkohol, und in den Stunden, in denen sie kein Gast an seinen Tisch rufe, studiere sie im Anatomischen Handbuch. Denn die Medizin sei keineswegs aufgegeben. Im Unglück sei sie ernst geworden, ernster als je.

»Aber wo ist sie jetzt?« schrie Edmund barsch und befehlerisch, als habe er das Recht dazu. Frau Blechkin entfiel der Zwicker. Im Bett bewegte sich das Plumeau.

Sergej hatte bis jetzt unbeachtet geschlafen, in der Bucht eines blauen Traumes spielend. Aber ihn verfolgte das böse Schicksal der Mutter. Die harte Stimme eines unzufriedenen Liebhabers durfte ihn wecken. Edmund schämte sich sofort, lief zum Bett und nahm den weichen Jungen in seine Arme, tätschelte und küßte ihn ab. Schwarze Locken ringelten sich um die blasse Stirn, wie bei Putten von Rubens. In den großen Augen schillerte bereits dieselbe Flüssigkeit, eine Art braungrünschwarzes Petroleum aus Baku, wie bei Lola. Ein Zähnchen war ihm vorne ausgefallen, und die Lücke entstellte das Lächeln.

»Was hast du mir mitgebracht, Onkel Edmund?« schmeichelte der Knabe und vertrieb mit realistischem Sinn den Zauber. Edmund lächelte schuldig und stotterte, es läge zwar eine große Überraschung in seinem Koffer, er habe aber abwarten wollen, ob Sergej artig sei und sie verdiene. Statt damit das Kind zu beruhigen, entfesselte er es, und strampelnd und schreiend verlangte es, daß der Onkel das Ding sofort aus dem Koffer hole. Wenn aber der Koffer noch auf der Bahn war? Dann müsse man auf die Bahn fahren. Und wenn die Zollkommission ihn nicht frei gäbe? Dann sei der Zollbeamte zu erschießen. Es war nicht mehr möglich, von etwas anderem zu reden als vom Geschenk, vom Geschenk, vom Geschenk. Edmund hätte gerade jetzt so gern noch Weiteres über Lolas Leben gehört, aber ihr Kind verbot ihm jede weitere Frage. Er mußte Hut und Mantel zusammenraffen, hinauslaufen und etwas kaufen.


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