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Jedoch an Schlaf war nicht zu denken. Was schlug so laut und dumpf im Zimmer: war es das gewaltige Herz von Paris oder sein eigenes? Edmund lehnte sich zum Fenster hinaus und atmete den seltsamen Ozongeruch der Nacht. Wie von einer Schläferin ging der beruhigte Atem von Paris. Aus allen Winkeln antworteten einander die Stimmen der Viertelstunden, dazwischen hier und da die rauhen Vogelrufe der Frachtschiffe auf der Seine, oder ganz nah in einem Gäßchen das verzweifelte Lied eines Säufers.
Und plötzlich erschallte aus der Richtung der Universität eine schamlose Ziehharmonika, die frech eine Bachfuge im Jazzrhythmus nachäffte. Bald klang es wie ein Dudelsack, bald wie eine tiefe Orgel. Und ein Spuk hub an. Es schien Edmund, als finge die schwere Kuppel des Pantheons vor ihm an, sich zu drehen, wie ein Karussel im grellmondenen Schimmer, und eine grobe Volksmenge treibe sie an mit Peitschen und Schreien. Statt der gewohnten Pferde und Tiere aber ritten auf Marmorsockeln des Ruhms die großen Männer, die Gäste des Pantheons, und Edmund erkannte genau, in übermenschlicher Größe Mirabeau, Voltaire und Rousseau. Die übrigen Gestalten hatten das Gesicht nach der anderen Seite gewandt. Wie seltsam aber, daß es gerade die waren, deren Knochen schon längst von einem mißgünstigen Regime, unter der Restauration, in die Sümpfe der Bièvre geschleudert worden waren! Der Tanz der Geister über Paris, nachts um eins! Wie schade, daß er kein Romantiker war, um solch ein Erlebnis in Oden zu fassen!
Plötzlich hörte er, wie er sich gerade anschickte, das Fenster zu schließen, nebenan, es mußte wohl sogar im Nachbarzimmer, hart hinter seiner Wand sein, einen tiefen, wie aus der Erde steigenden Schrei: den Schrei einer Frau. Dieser Schrei kam aus unbekannten, unbeherrschten Zonen, aber es war unmöglich zu bestimmen, ob er Schmerz oder Freude bedeutete, Liebe oder Mord, Tod oder Geburt, vielleicht beides zugleich. Es war der Schrei eines Wesens, das Gott entdeckte. So schreien die Tiere in den Juniwäldern. Und als Edmund das Fenster ganz geschlossen hatte, hörte er Geräusche wie auf einem Schiff, das helle Schlingern der Wellen, das Zerren der Taue, das pfeifende Atmen der Maschinen: ein weißer Dampfer, in seiner Einbildung, brach stolz seine Silberfurche in den rosigen Leib des Meeres. Das ist die Liebe, dachte er und wurde traurig.
Herb waren seine Nächte immer gewesen, groß gewiß, mit viel Wind und verbrämt mit Sternen, und erfüllt mit der Stimme der großen Denker, deren Köpfe, klein in den Büchern und riesengroß projiziert auf die Wolken, ihm zugewinkt hatten. Aber herb, aber kalt! Hatte er nie das Maß der Ewigkeit im kleinsten gesucht, in der Bucht eines Frauenarms, im ängstlichen Geflüster eines fiebrigen Mundes?
Er dachte an Lola und verzog den Mund, so weh tat es ihm. Wo war sie? Wo tanzte sie? Wo flüsterte sie? Zornig riß er den Mantel um sich, stülpte den Hut auf den Kopf und lief hinaus: er, der die größten und die ältesten Rechte an die geliebte Frau hatte, war noch immer allein.
Die Rue Soufflot hinauf schlenderten drei Gestalten: zwei Chinesen, das Gesicht mit Mond bepinselt, drückten zwischen sich ein blasses rothaariges Mädchen: sie hatten keine andere Sprache um sich zu verständigen, als das Lachen. Und so lachten sie immerzu in verschiedenen Tonarten, es war etwas zwischen Gesang und Gelall, dazu stießen und schubsten und traten sie sich, um ja immer weiter lachen zu können, denn wehe, das Schweigen zwischen zitternden Herzen wäre zur Katastrophe geworden! Diese wilde Lohe roter Locken, wenn später die kleinen, energischen Hände der Fremden sie hin und her schleudern und reißen würden: ihn überlief es kalt.
Am Boulevard Saint Michel sprang Edmund in den vorbeifahrenden Nachtautobus: halbschlummernd in die Ecken gedrückt saß ein Dutzend zerfallener Menschen, denen man nicht ansehen konnte, ob sie schon aufgestanden waren oder erst dem Schlaf entgegenwankten. Ihre Köpfe bewegten sich alle im Rhythmus des Wagens vor- und rückwärts wie die der bekannten javanischen Nippfiguren. Ein Mensch, der die Kontrolle über seine Glieder verloren hat, ist ungefähr das Hinfälligste, was man sich denken kann, viel geistloser und haltloser als ein Steinquader oder ein Holzklotz oder ein Sandhaufen. Der Anblick eines Ertrunkenen oder eines vom Schlag Getroffenen gibt uns das überzeugendste Gefühl unserer Nichtigkeit. Schlafende Menschen in einem Bahnhof sind formloser als Kartoffelsäcke.
Der Autobus raste durch die Schluchten der Stadt, an felsigen Häusergebirgen vorbei, quer durch Gassen und über Plätze, wie ein abgebröckelter Steinblock, unaufhaltsam hingeschleudert. Der Führer hatte seine Freude an den gefährlichen Kurven. Besinnungslos stürzte man in die Welt. Paris war ausgestorben und starr. Alle Fensterläden und Jalousien geschlossen. Hier schnarchten augenblicklich die verfilzten Bürger: man konnte sich die Schlafzimmer der balzacschen Notare vorstellen, in denen die hundertjährigen Sofas unter den blumigen Überzügen krachten, zwei Wesen in dem Einbett, sich den Rücken drehend, die Decken um die Beine gerollt und aus zahnlosem Munde Ziffern oder den verbotenen Namen des Ehebruchs murmelnd. Kein einziges Fenster offen. Berge von Särgen.
Hier und da war noch ein Laden hell erleuchtet, wie am vergangenen Abend: meistens Konfektionsgeschäfte, in denen die wächsernen Mannequins unermüdlich die langweilige Komödie des Lebens weiterspielten: Sweaters zum Tennis eilend, schäbige Gummimäntel laufend ohne je zu wissen wohin, oder ein Frack sich als erhabener Tragiker gebärdend. Dies ganze stumme Theater war fast eine Wohltätigkeitsveranstaltung für die armen, betrunkenen Nachtwandler, denen das Licht wohltat und vielleicht den Gedanken an Selbstmord tilgte.
Der Autobus passierte rasch den großen Boulevard, der wie ein warmer, orangeheller Golfstream die Stadt durchfloß.
Man hatte kaum Zeit, an seinem Grunde die rosa Polypen der Bogenlampen, die Korallengehänge der Reklamen und die matten Perlen von Gaslaternen zu erkennen.
Schon ging's hinauf auf den Walpurgisberg. Dort wo die ewigen Johannisfeuer brannten. Wo an den Häusern, elektrisch erzeugt, reife, goldene Früchte oder magische Sterne hingen, dort wo die Bars die entzückende Poesie ihrer Namen, die immer an Nymphen oder ferne Länder erinnerten, in den Stein schrieben. In der Rue Notre Dame de Lorette stieg Edmund aus.
Zuerst glaubte er, hinter die Kulissen eines Opernhauses verschlagen zu sein, wo die Proben zu einem Karnevalsfest stattfanden. Halbangezogene Mädchen huschten von einem Haus zum andern: Spanierinnen mit dem schwarzen Fragezeichen an der Schläfe, und lässige Negerinnen in überzivilisierten oder schon zurückzivilisierten Goldkleidern von Poiret.
Die Männer: Frack mit Strohhut und Apachen mit neuer Sportmütze gaben sich gegenseitig Feuer und Antwort beim Verlassen der Dancings. Nachdem in den Häusern die Leidenschaften mit schweren Goldeinspritzungen getötet worden waren, hatten die Menschen eine leise Neigung zur Nachsicht allem Menschlichen gegenüber, und das, was Edmund früher in Mitropa Güte und Brüderlichkeit genannt hatte, fand er ein wenig hier. Aber ohne sich bewußt zu werden, daß das lediglich die Wirkung einer Müdigkeit war. Und vielleicht, wenn er mit einem Kenner diskutiert hätte, hätte ihm dieser bewiesen, daß nur die ganz Armen oder die ganz Satten eines Ideals fähig sind oder einer gewissen Seelenmüdigkeit, die für eine Zeitlang Gier und Kampflust lähmt.
Immerhin, die Atmosphäre tat ihm wohl. Nachtspaziergänge beruhigen den modernen Menschen deshalb mehr, weil er dabei weniger das Gefühl hat, Zeit zu verlieren. Die Nacht war warm. Auf der Place Pigalle plätscherte ein kleiner Brunnen ganz für sich und betete andachtsvoll seinen silbernen Rosenkranz. Armenier verkauften kandierte Nüsse und Granatäpfel. Farben und Laute erinnerten an eine Südseeinsel. Umklammerte Paare gingen langsam und sicher der Glückseligkeit entgegen. Die Liebe war hier das offene und unverblümte Motiv des Lebens.
Endlich fand er das Café Sans-Souci. Es war noch niemand da. Aus Angst vor der Leere im Raum und auch in sich selber floh er wieder auf die Straße. Vor einem großen, grellbelichteten Restaurantfenster bemerkte er plötzlich Ewersejeff, der in seinem abgeschabten Mantel, mit hochgeschlagenem Rockkragen, ein Pack Zeitungen unterm Arm, mit einer Fußspitze auf einen Vorsprung des Steins getreten war, sich mit der rechten Hand mühselig an die schmutzige Dachrinne klammerte, und beinahe schwebend über den hohen vorgeschobenen Vorhang hinweg in das Innere des Restaurants zu spähen versuchte. Er keuchte, Schweiß troff von seinem Gesicht, und er gewahrte den herannahenden Edmund nicht, ganz mit seiner Vision beschäftigt. Edmund las: Kaukasisches Schloß, und war taktvoll genug, den Gequälten nicht in seinem Schmerz zu überrumpeln, obwohl er ein kleines Recht auf Rache hatte. Rücklings zog er sich zurück und beschloß, den Nebenbuhler nun doch im Sans-Souci zu erwarten. Nebenbuhler? Doch auch er betrogen! Mit wem? Vielleicht mit Edgar! Er wollte es nicht ausdenken und begann ein Gespräch mit einem dünnen Mädchen, das abends den Can-Can im Moulin-Rouge tanzte, und ihm erzählte, daß es vor fünf Monaten erst von St. Quentin von einem Schauspieler hierher gelockt worden war und jetzt, schon verlassen, ein Kind erwarte.
Kurz nachher kam Ewersejeff herein, mit einem bis zum Irrsinn verkrampften Gesicht. Er warf sein Pack Zeitungen auf den Boden, sich selbst in eine Ecke des Wandsofas und begann, das Gesicht in die gekreuzten Arme vergraben, zu schluchzen. Das Mädchen, das ihn gut kannte, setzte sich zu ihm und tröstete ihn.
Langsam begann das Lokal sich zu füllen. Musiker mit ihren Banjos und Cellos, Portiers in Galauniform und die Barmen wurden wieder zu einfachen Menschen voll Treue und Eifersucht. Plötzlich erschien auch Edgar, allein.