Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Ein leerer Tag

Halb zwölf war es schon, als Studer die Wirtschaft verließ, um Ludwig Farny aufzusuchen. Das Knechtlein stand vor der Tür des Treibhauses und sprach mit zwei Männern. Der eine, klein und vif, rauchte eine Zigarette, der andere, der aussah wie ein pensionierter Schwingerkönig, saugte an einem Stumpen. Sie winkten beide, als sie Studer auftauchen sahen, und kamen gemächlich näher.

»So«, meinte der Wachtmeister, »Ihr seid schnell gekommen. Und – habt ihr schon die Bekanntschaft meines Helfers gemacht?«

Fahnderkorporal Murmann, der seit einem Jahre den Gerzensteiner Landjägerposten verlassen hatte, weil seine Frau lieber in der Stadt wohnen wollte, nickte und schlug mit dem gestreckten Zeigefinger auf seinen Stumpen. – Ludwig sei ein gäbiges Bürschli, meinte er. Und der vife Kleine (es war der Gefreite Reinhard) stimmte diesem Ausspruch zu.

Ob die Leiche schon abgeholt worden sei? fragte Studer. Die beiden nickten – Murmann schritt rechts, Reinhard links vom Wachtmeister – Ludwig Farny kam auch und überreichte Studer den Schlüssel zur Eingangstür.

»War sonst niemand da?« fragte er. Kopfschütteln. »Gut, dann könnt ihr beide euch heute ausruhen. Ich brauch euch erst morgen. Wenn ihr wollt, könnt ihr nach Gampligen fahren – du bist doch auf dem Töff gekommen, Murmann, oder?« Der pensionierte Schwingerkönig nickte. »In Gampligen bleibt Ihr in einer Wirtschaft – die Krone ist glaub' ich ganz gut – und wartet dort. Wenn ich euch heut noch brauche, so läut ich euch an. Morgen mach ich dann Schluß. Es kommt Besuch in die Armenanstalt und das wird günstig sein. Wir haben dann Zuhörer und Zeugen – ich freu mich… Kommt jemand von uns?«

»Der Hauptmann hat gesagt, er sei eingeladen. Der Schreiber der Armendirektion nehme ihn im Auto mit.«

»Wer kommt sonst noch?«

»Ein paar Großräte, ein Sekretär vom Departement und zwei Assistenten, einer von Melringen, von wo der andere kommt, weiß ich nicht. Weißt, es sind so Leut', die Gutachten schreiben…«

»Mhm… Also, auf morgen!«

Die zwei empfahlen sich.

»Komm, Ludwig! Hilf mir suchen!« Die Zurückgebliebenen traten ins Gewächshaus, öffneten die Türe, die gestern versperrt gewesen war – von innen – und Studer schritt langsam um den viereckigen Tisch, dessen eine Hälfte mit spannenbreiten Brettern umgeben war. Die Erde, die darin aufgeschichtet war, war oben mit einer Schicht von Sägespänen bedeckt; wahrscheinlich sollte sie ein Austrocknen der Pflanzenwurzeln verhindern.

»Hier ist der Ernst gelegen«, sagte Studer verträumt. »Und da stand dein Stiefvater… Oder ist's dir lieber, wenn ich ihn ›Äbi‹ nenn'?« Ludwig nickte schweigend. »Wir wollen hier suchen. Da hat's ein ganz kurzstieliges Häueli, das wird uns nützlich sein.« Und der Wachtmeister begann, mit den zwei Zacken der Jäthacke die Sägspäne zu bearbeiten. Langsam und methodisch arbeitete er und sprach dazu mit Ludwig.

»Gestern hat euch der Wottli das z'Nacht gebracht; erinnerst du dich noch, ob der Ernst vom Kaffee getrunken hat?«

Ludwig blickte erstaunt auf.

»Woher wisset Ihr das, Herr Studer?«

Der Wachtmeister hielt in der Arbeit inne. »Was hast du gesagt, Ludwig?« Das Knechtlein wurde rot.

»Woher wisset Ihr das?« Stocken, dann: »Studer?«

»So ist's besser. Woher ich das weiß? Ich zeig' dir's dann. Jetzt wollen wir weiter suchen…«

Ludwig grub mit den Nägeln in der aufgehackten Erde. Plötzlich sagte er: »Hier!« und bot Studer einen rostigen Schlüssel. Der Wachtmeister nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, ging ans Licht, betrachtete das Ende hinter dem Bart lange und nachdenklich. »Es stimmt. Komm, Ludwig!«

Draußen angekommen, verschloß Studer die Türe und schritt auf die Wirtschaft zu. »Eine Atmosphäre haben wir erledigt«, brummte er. »Jetzt wollen wir mit der zweiten Schluß machen. Und die dritte versparen wir uns für morgen.«

Am Fuße der Steintreppe blieb Studer stehen und blickte hinüber auf den Friedhof. Dann zuckte er mit der Schulter. »Komm, Ludwig«, sagte er. »Wir müssen uns beide rasieren. Du hast ja einen Bart!«

Er ging in die Küche, verlangte heißes Wasser. Huldi versprach, einen Krug zu bringen. Studer ging in das Zimmer, in dem vor kurzer Zeit noch der ›Chinese‹ gewohnt hatte.

Die Serviertochter brachte das Verlangte und der Wachtmeister begann sich einzuseifen. Dann reichte er dem Ludwig den Pinsel. »Kannst dann den Apparat auch grad gebrauchen – wenn du willst.«

Er sah es dem Knechtlein an, daß diese Aufforderung etwas Ähnliches bedeutete wie ein Ritterschlag. Denselben Apparat brauchen zu dürfen wie der Wachtmeister!

»Märci… Gärn… Studer!« stotterte der Bursche und eine Blutwelle stieg in sein Gesicht.

Es klopfte. »Herein!« ächzte Studer, der sich gerade den Seifenschaum aus den Ohren wusch. Brönnimann erschien.

»Wachtmeister! der Wottli ist fort!«

»So…« Studer trocknete sich das Gesicht. »Dann können wir in sein Zimmer hinauf!« Er setzte sich aufs Bett und wartete bis Ludwig fertig war. »Ich brauch' Euch nicht, Brönnimann. Wann kann man essen? Bald? Sagen wir in einer halben Stunde. Ich will noch einen Freund holen gehen.«

Der Wirt verschwand, dann konnte man ihn hören, wie er in der Küche Befehle gab.

»Komm, Ludwig!« Die beiden stiegen die Treppen hinauf, öffneten die Türe des verlassenen Zimmers und traten ein. Die Bücher standen noch auf den Regalen, die an der Wand angenagelt waren. Studer trat davor. Eine kleine Glastube lag am Fuße eines dicken Bandes. Der Wachtmeister nahm sie in die Hand, trat zum Fenster und las die Etikette. Er zog den Zapfen aus dem Glasröhrchen, schüttete eine der winzigen Pillen auf seine Hand, roch daran, berührte sie mit der Zungenspitze und murmelte: »Geruch- und geschmacklos. Eine gute Medizin! Natürlich, unterm Betäubungsmittelgesetz… War dir nicht ein wenig sturm, wie du gestern abend aufgewacht bist? Sag, Ludwig?«

Ja, erwiderte das Knechtlein. Es sei ihm nicht ganz wohl gewesen…

»Der gute Wottli! Er muß gesehen haben, wie der Ernst mit seinem Vater zusammengetroffen ist. Vielleicht hat er Verdacht geschöpft.. . Und um Ruhe zu haben, hat er euch beide einschläfern wollen. Hätte der Ernst Kaffee getrunken, so wär er nicht gestorben…«

»Ja, glaubt Ihr… hm… Studer, daß der Ernst Selbstmord begangen hat? Hat Euch der Wottli das erzählt?«

»Der Wottli hat's geglaubt – weil er nicht gesehen hat, daß wir den Schlüssel gefunden haben. Geh jetzt ins Gastzimmer und wart auf mich. Ich will noch den Notar holen…«

»Welchen Notar?«

»Du hast gut geschlafen, gestern abend…« Studer lachte, ging zur Tür, blieb noch einmal stehen. »Jetzt sind wir auch mit der zweiten Atmosphäre fertig. Wie wird's in der dritten zugehen?«

Eine Viertelstunde später kam Studer zurück. Sein Gesicht war finster. Er schien Ludwig gar nicht zu sehen, sondern ging ans Telephon, stellte eine Nummer ein, verlangte den Gefreiten Reinhard an den Apparat und wartete. Dann: »Kommt beide sofort zurück! Lasset das Töff ein paar hundert Meter vor der Wirtschaft stehen. Und dann sucht den Wald ab. Münch ist verschwunden… Sie sagen zwar, er sei nach Bern ins Bureau gefahren, aber ich weiß, daß es nicht stimmt. Ich hab' den Wärter ausgefragt im Armenhaus und ein paar Insassen. Niemand hat den Münch gesehen heut morgen und der Hungerlott behauptet, er sei um acht Uhr fortgefahren. Etwas stimmt da nicht.«

Der Wachtmeister behielt recht. Den ganzen Nachmittag hockte er im Gastzimmer. Um sechs Uhr abends läutete das Telephon. Da niemand in der Gaststube war, außer ihm und Ludwig, ging er selbst den Hörer abnehmen. Murmann sprach – und Studer nickte. Dann sagte der Wachtmeister leise: »Laß den Reinhard zu Fuß gehen und nimm du den Verletzten mit. Pflegt ihn und bringt ihn morgen früh hierher.«

In dieser Nacht schlief Studer tief und fest. Das Knechtlein aber saß im Dunkeln und bewachte seinen väterlichen Freund…


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