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– Der Wachtmeister müsse entschuldigen, sagte Huldi –. Bei all dem Gestürm sei sie nicht dazugekommen, das Zimmer zu machen.
Studer pflanzte sich mitten im Raume auf, vergrub die Hände in den Taschen seines Überziehers, blickte um sich und meinte, er sei froh, daß nichts angerührt worden sei…
Das Bett sah aus, als habe ein Kampf auf ihm stattgefunden. Die Leintücher, die Wolldecke lagen auf dem Boden. Die Flügel des Fensters waren geschlossen. Ein Koffer, der mit den Etiketten vieler Hotels aus allen Ländern der Erde beklebt war, stand in der Mitte des Zimmers; aber er war leer.
Auch auf der Tischplatte lag nichts; Studer suchte im Schaft, im Nachttisch, unter der Matratze. – Die Wachstuchhefte, an die er sich gut erinnerte, waren verschwunden.
Warum hatte man diese Hefte gestohlen? Was enthielten sie Wichtiges?
»Huldi«, fragte der Wachtmeister sanft, »du erinnerst dich doch an die Hefte, in die der Farny geschrieben hat? Hast du einmal in einem gelesen und weißt du, was drinnen gestanden ist?«
Das Mädchen nickte, nickte… und dann sagte es im Tonfall, in dem man eine auswendig gelernte Lektion aufsagt: »Als wir 1912 Hongkong verließen, gerieten wir in einen Taifun. Wir hatten Reis geladen für Bangkok und Kulis für Sumatra. Ich gab meinem ersten Offizier die Weisung, die Kulis unter Deck in einem Raume einzuschließen…«
»Das langt«, sagte Studer. »An etwas anderes erinnerst du dich nicht?«
»Das Heft, in das er zuletzt geschrieben hat, ließ er nie offen herumliegen, sondern schloß es immer in seinen Koffer ein. Aber einmal hab ich doch einen Blick darein werfen können und da las ich: ›Wen Gott strafen will, dem schenkt er Verwandte.‹«
»Hat der Satz genau so gelautet?« fragte Studer. Die Serviertochter nickte.
Und während ihres Nickens zersplitterte eine Scheibe des Fensters.
»Was ist denn das?« fragte Studer. 's Huldi trat ans Fenster, riß die Flügel auf und blickte in den nebligen Nachmittag. – Sie sehe nichts, behauptete sie. Wütend packte der Wachtmeister sie am Arm und riß sie zurück. – Einer habe ins Zimmer geschossen, erklärte er böse und rückte das Meitschi auf einen Stuhl; dort saß es dann, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben.
»G'schosse?« fragte es. » G'schosse!«
»Ja, g'schosse!« bestätigte Studer ungeduldig. Er lief im Zimmer her und hin, die Blicke auf den Boden gerichtet, suchte – und fand nichts. Er bückte sich endlich und entdeckte unter dem Bett eine Bleikugel; er nahm sie in die Hand, sie war rund wie ein Globus, aber statt des Äquators hatte jemand in das Blei eine Rinne eingeschnitten und in sie einen zusammengefalteten Papierstreifen geklemmt. Sorgfältig zog ihn der Wachtmeister aus dieser Rinne und las den Satz, der darauf getippt war:
Finger ab de Röschti!
Studer verzog das Gesicht, schüttelte das Haupt und murmelte: »Chabis!«
Aber dieses Wort schien doch nicht seine letzten Gedanken über den Vorfall wiederzugeben, denn der Wachtmeister behielt den Papierstreifen in der Hand, brummte ein paarmal: »Finger ab de Röschti!«
Es war klar: Mit einem Karabiner, oder auch nur mit einem Luftgewehr, war diese Kugel nicht in das Zimmer geschossen worden. Vieles sprach dagegen.
Der Papierstreifen, der in den Äquator der Bleikugel geklemmt worden war, hätte ein Abschießen verunmöglicht.
Was kam noch als Waffe in Betracht?
Einzig eine jener Schleudern, wie er sie als Fisel zum Spatzenschießen verwendet hatte… Eine Gabel, aus Holz oder Metall, an ihren beiden Enden sind Kautschukschnüre angebracht, rechteckig im Durchschnitt, zusammengehalten an ihrem andern Ende, von einem Lederstück: In dieses wird die Kugel, der Stein, kurz das Wurfgeschoß gelegt, mit Daumen und Zeigefinger der Rechten festgehalten, während die Linke die Gabel hält; Daumen und Zeigefinger der Rechten ziehen die Gummischnüre, durch die Öffnung der Gabel wird gezielt – die Rechte läßt den Lederplätz los, das Geschoß fliegt davon und trifft einen Spatzen oder eine Fensterscheibe… Heute war es eine Fensterscheibe und das Geschoß enthielt eine getippte Warnung.
Wer fühlte sich bemüßigt, dem Wachtmeister Studer eine Warnung zukommen zu lassen? Erstens: War sie ernst gemeint? – Wohl kaum, sonst hätte der ›Schütze‹ nicht eine mundartliche Form der Warnung verwendet. Einem, den man erschießen will, schreibt man nicht zuerst: ›Finger ab de Röschti‹. Wenn aber, und dies konnte die zweite Hypothese sein, gerade die Dialektform der Warnung das Mißtrauen des Empfängers einschläfern sollte?… Item, es empfahl sich, vorsichtig zu sein.