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Sie aßen zur Nacht, die beiden ungleichen Gefährten, Wachtmeister Studer, breitschultrig in seinem grauen Konfektionsanzug – Ludwig Farny in seinem halbleinenen Kleid von bäurischem Schnitt… Sie aßen Geschnetzeltes mit Röschti, und das Knechtlein vertilgte ungeheure Mengen Brot.
»Du hütest das Zimmer, Ludwig«, sagte Studer, als die Serviertochter abgetragen hatte. »Ich muß noch einen Besuch machen. Du bist verantwortlich für dieses Zimmer. Du darfst niemanden hinein lassen. Verstanden?«
»Ja, Studer«, sagte das Knechtlein und man sah es ihm an, daß es tapfer die Verteidigung übernehmen würde, die ihm aufgetragen worden war. Und Studer, der Wachtmeister, freute sich, weil der Ludwig »Studer« gesagt hatte und nicht »Herr«.
Frost lag über dem Land und der Nebel hatte sich aufgelöst. Dünne Wolkenplatten zogen vorbei, bedeckten den Mond und gaben ihn wieder frei; klein war das Gestirn und grünlich wie eine unreife Zitrone – wahrhaftig, es ähnelte dem Monde jener Julinacht.
Die Anstalt war ein ehemaliges Kloster, das für die Besitzlosen eingerichtet worden war. Dünne Eisdecken bedeckten die Pfützen der Straße, welche zum Armenhaus führten. Studer gelangte in einen Hof, in dem es finster war.
Ein gepflasterter Weg führte zu einer Tür, über der eine rötlichglimmende Birne brannte. Der Wachtmeister trat ein – und lieber wäre er umgekehrt, denn der Geruch, der in diesem Vorraum hockte, verschlug ihm fast den Atem. Es roch nach Armut, es roch nach Unsauberkeit. Hinter einer Türe links war ein dumpfes Geräusch zu hören, Studer ging auf sie zu und öffnete sie, ohne anzuklopfen.
Drei Stufen führten hinab in einen verliesartigen Raum, schirmlose Birnen baumelten von der Decke und beleuchteten Tische mit dicken Holzplatten, an denen Männer saßen in verschmierten blauen Überkleidern. Zwischen den Tischen ging ein Mann auf und ab – wohl der die Aufsicht führende Wärter. Unbemerkt trat Studer ein, schloß die Tür und blieb auf der zweitobersten Stufe stehen. Vor den Männern standen Gamellen und Blechteller. Es roch nach Cichorienkaffee und dünner Suppe. Noch ein anderer Geruch mischte sich darein: der Geruch nach feuchten Kleidern, nach Wäsche.
Die Männer saßen da, die Unterarme auf die Tischplatte gelegt, als Wall gewissermaßen, der die mit Kaffee gefüllte Gamelle und den Teller mit Suppe schützen mußte. Manchmal geschah es, daß der von den Armen gebildete Wall sich auftat; eine Hand griff zum Nebenmann hinüber, um dort ein Stück Brot zu rauben. Dann flackerte Streit auf. Endlich erblickte der Friedensstifter des Wachtmeisters massige Gestalt, mit ein paar Sprüngen gelangte er zu den Stufen und fragte – krächzend war seine Stimme – was der Mann da wolle.
– Er müsse den Hausvater sprechen, sagte Studer.
– Da könne jeder kommen, meinte der Wärter. Schweigend zog Studer seine Legitimation aus der Tasche und hielt sie dem Mann unter die Nase.
Es war merkwürdig, die Veränderung zu beobachten, die mit dem Wärter vor sich ging. Sein Mund zwang sich zu einem untertänigen Lächeln, ja, der Mann versuchte sogar, sein Krächzen freundlich zu gestalten, als er sagte:
»Der Herr Direktor wird sich sicher freuen…« Er öffnete die Tür, um Studer den Vortritt zu lassen. Hinter ihm brach ein Hexensabbat aus… Einige grölten im Chore das Lied, das Studer vor fünf Monaten gehört hatte: »Wir wollen keine Tschucker auf dem Berg, Tschucker auf dem Berg…« An der Tür drehte sich der Wärter um und schrie in den Lärm: »Ordnung halten! Ordnung halten, bis ich zurück bin! Sonst gibt's Strafe.« Aber seine ermahnenden Worte gingen im Toben unter. Man hörte den Lärm der Unbeaufsichtigten durch die geschlossene Tür.
Gänge… Lange Gänge, bisweilen durchbrach ein Fenster die Mauern und man sah, wie dick die Wände gebaut waren. Stufen… Gänge… Winkel… in diesem Labyrinth hätte man sich ohne Führer unweigerlich verirrt.
Und dann gelangten die beiden in einen neuen Teil der Anstalt. Der Boden der Gänge war mit Inlaid ausgelegt, außerdem dämpften noch Kokosläufer das Geräusch der Schritte… Eine Türe. Unter dem Klingelzug ein Messingschild, worauf in verschnörkelten Buchstaben graviert stand: »Albert Hungerlott-Äbi, Hausvater«. Der Wärter zog den Klingelzug und es lag viel Respekt, viel Untertänigkeit in dieser einfachen Bewegung… In der Wohnung schlug eine Glocke an, ein Mädchen kam die Türe öffnen – sauber war es gekleidet; eine weiße Spitzenschürze hob sich von ihrem schwarzen Kleid ab. Atemlos stieß der Wärter hervor: »Der… Herr… Wachtmeister… Studer möchte gerne den Herr Direktor sprechen.« Die Jungfer verschwand und kam wieder mit dem Bescheid, der Wachtmeister möge näher treten. Der Wärter empfahl sich überhöflich und Studer fragte sich, was der Mann wohl auf dem Gewissen habe…
Aber es blieb ihm nicht Zeit zu langen Überlegungen, denn als er das Arbeitszimmer des Hausvaters Hungerlott betrat, wartete seiner eine Überraschung. Aus einem tiefen Lederfauteuil erhob sich ein Mann, den der Wachtmeister nicht erwartet hatte, hier zu finden. Sein Partner im Billardspiel war es: der Notar Münch. Er trug wie immer einen hohen Stehkragen und schraubte an seinem Hals. Hinter dem Schreibtisch saß Hungerlott, stand auf und sagte:
»Sehr freundlich von Ihnen, Herr Wachtmeister, mich besuchen zu kommen. Wie ich sehe, kennen Sie meinen Freund Münch…«
– Ja, ja, meinte Studer trocken, den Münch kenne er schon lange. Er wundere sich zwar, ihn hier zu finden.
»Das hat alles seine Gründe«, sagte Hungerlott belehrend. »Nicht wahr, Herr Wachtmeister, das hätten Sie sich auch nicht träumen lassen, vor vier Monaten, daß wir uns in so tragischen Umständen wiedertreffen?«
Studer war verlegen – und das war ein Gefühl, das er haßte. Man mußte doch diesem Hungerlott kondolieren, weil er seine Frau verloren hatte.
»Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, Herr Wachtmeister? Vielleicht gerade Ihrem Freunde Münch gegenüber? Vor dem Kamin? Sie müssen nämlich wissen, daß die Zentralheizung bei uns schlecht funktioniert… Darum lasse ich am Abend immer ein Feuerlein im Kamin anzünden… das gibt Wärme und Licht und Gemütlichkeit… nicht wahr, Münch?«
»Ich muß Ihnen noch«, sagte Studer, »zu dem schweren Verluste kondolieren, den Sie…« Weiter kam er nicht. Der Notar Münch aus Bern hatte einen Augenblick benützt, da der Hausvater mit dem Aussuchen der Getränke beschäftigt war. Und der Wachtmeister erhielt einen Tritt an das Schienbein, den er lautlos in Empfang nahm, über dessen Grund er sich jedoch nicht klar war.
»Ja«, sagte Herr Hungerlott, »es war ein schwerer Verlust! Und ein plötzlicher…«
»Und an was ist Frau Hungerlott…«
Wieder der Tritt an das Schienbein – ein Glück nur, daß der Wachtmeister Ledergamaschen angelegt hatte… Natürlich, es ging nicht gut an, den Freund und Notar zu fragen, warum er Fußtritte austeile – aber irgendeinen Grund mußte dies Verhalten wohl haben.
»Woran meine Frau gestorben ist, möchten Sie wissen? Es war eine bösartige Darmgrippe. Doktor Buff war sehr aufopfernd – aber er hat sie leider nicht retten können…«
Die Blicke des Notars waren beredt und Studer vermochte sie mühelos zu deuten… Sie drückten etwa aus: »Was hast du dich in diese Angelegenheit zu mischen? Was geht dich der Tod der Frau Hungerlott an? Oh, Studer!« sagten die Blicke. »Mußt du immer blöde Fragen stellen und dich blamieren?«
»Was trinken die Herren gerne?« fragte Herr Hungerlott, »Wein? Bier? Kognak?«
Der Notar Münch antwortete für seinen Freund Studer: »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Direktor, trinken wir beide ein wenig Kognak.«
In der Stille war deutlich das Herausziehen des Korkens zu hören. Glucksend floß der gelbe, scharf riechende Trank in die Gläser. – Warum mußte der Wachtmeister an die Kristallgläser denken, damals in jener Julinacht, da der ›Chinese‹ auf den Hinterbeinen seines Stuhles balancierte – und seine Lederpantoffeln hatten an seinen Füßen gehangen…!
»Prost«, sagte Herr Hungerlott. Er stand zwischen den beiden Freunden und stieß zuerst mit dem Wachtmeister an, hernach mit dem Notar. Er trug einen Anzug aus dunkelgrauem Stoff, der Kittel war wie eine Litewka geschnitten und bis zum Hals geschlossen; vorne unter dem Kragen kam eine Krawatte zum Vorschein, smaragdgrün mit roten Punkten. Diese Krawatte war aber nur zu sehen, wenn Herr Hungerlott den Kopf beiseite wandte – sonst bedeckte sein Spitzbärtlein diese farbige Herrlichkeit.
»Der Pauperismus – die Wissenschaft von der Armut!« begann der Hausvater der Armenanstalt Pfründisberg zu dozieren.
»Wir wissen viel von der Armut. Wir wissen beispielsweise, daß es Menschen gibt, die nie auf einen grünen Zweig kommen – wenn ich diese Metapher gebrauchen darf. Es ist nicht ihre Schuld. Fast möchte ich sagen – auf die Gefahr hin für abergläubisch zu gelten –, daß es diesen Menschen bestimmt ist, daß es in ihren Sternen steht, daß sie arm bleiben müssen…«