Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Weg, welcher die Gartenbauschule mit der Wirtschaft »Zur Sonne« verband, führte am Hofeingang der Armenanstalt vorbei. Unter dem Tore blieb der Wachtmeister stehen und sah einem Weiblein zu, das in einem großen Holzbottich wusch. Verfilzte, weißgraue Haare flatterten auf einem winzigen Köpflein, in der ganz nach rechts gerutschten Nase waren die Löcher groß. Neben der Wäscherin lagen am Boden schmutzige Leintücher, Hemden, Kissenbezüge, Nastücher, und um ihre Beine strich ein junges Hähnlein, das von Zeit zu Zeit versuchte, ein Krähen loszulassen. Doch dies gelang dem Güggeli nicht: der mühsame Kräh zerbrach – wahrscheinlich litt das Tierlein an Stimmbruch.
» Grüeß di, Müetti!« Studer blieb stehen und vergrub die Fäuste in den Manteltaschen. Der rechte Ellbogen preßte das im Schrank des Äbi Ernst gefundene Päcklein gegen die Hüfte…
»Grüeß di wou, schöne Ma!« Das Weiblein kicherte, hustete, seine zwinkernden Äuglein tränten.
»Gäng wärche?«
»Deich wou! 's Trili-Müetti mueß schaffe, schaffe, nüt as schaffe!…
Drei Armenhäusler, in blauen, verwaschenen Überkleidern, tanzten schwerfällig und langsam wie Bären über den Hof. Jeder hielt einen Besen, dessen Reisig den Staub zusammentrieb – doch plötzlich kam ein Windstoß und verwehte das Häuflein. Dann kratzten die Besen wieder über die gestampfte Erde…
Ob 's Trili-Müetti immer so streng habe schaffen müssen? fragte der Wachtmeister. – Wie die Frau Hungerlott noch dagewesen sei, habe das Müetti wohl weniger Arbeit gehabt?
– Die? Die ins Wasser gelangt? Mit ihren bemalten Fingernägeln? Nie habe die Hausmutter ihre Hände in Seifenlauge getaucht. Gäng habe 's Trili-Müetti wäsche müesse… »Gell Hansli?«
Der Güggel streckte seinen Hals, so, als müsse er seinen Kopf aus einem allzu hohen Stehkragen schrauben – exakt, wie der Notar Münch, dachte Studer –, dann legte er seinen purpurnen Kamm auf die Seite und blinzelte. »Go–ogg!« meinte er, was in seiner Sprache sicher die Behauptung des Weibleins bestätigen sollte.
Dann rannte der Hahn durch den Hof, machte vor einem Staubhaufen halt, scharrte, pickte. Die drei Armenhäusler sahen ihm zu, gestützt auf die Stiele ihrer Reisbesen. Dann suchten sie in ihren Taschen und warfen dem Vogel Brotkrumen zu…
»Hansli!« rief die Wäscherin. Der Hahn trottete näher, versuchte zu krähen, schüttelte sich – und begann an den Leintüchern zu picken, die auf dem Boden lagen.
's Trili-Müetti sang:
»In Muetters Stübeli da goht dr hmhmhm,
In Muetters Stübeli da goht dr Wind.
Mueß fast verfrüüre vor lutter hmhmhm,
Mueß fast verfrüüre vor lutter Wind.
Du nimmscht de Bettelsack und i de hmhmhm,
Du nimmscht de Bettelsack und i de Chorb…«
Während Studer darüber nachdachte, warum die alte Frau ein Appenzellerlied sang, statt eines bärndeutschen, fühlte er plötzlich, wie das Päckli, das unter seinem Ellbogen eingeklemmt war, auf den Boden fiel. Es ging auf, der Schlafanzug, der mit Blut getränkt war, wurde von der Sonne beschienen, die zwischen zwei Wolken auftauchte. Zuerst war der Güggel zurückgeflattert, nun kam er näher, grub seine Krallen in den dünnen Stoff und pickte, pickte – genau wie er vor kurzem an der schmutzigen Bettwäsche gepickt hatte…
»Gang awääg… Ksch… Woscht!…« Der Wachtmeister klatschte in die Hände, aber der Hahn blieb hocken und stieß nur einen verfehlten Kräh aus.
Das sei ein zahmer Güggel! meinte Studer erstaunt.
»Ja, gell, Hansli! Mir zweu verstandet üs!« Das alte Weiblein nahm Wäsche aus dem Bottich, wrang sie aus und warf sie neben sich aufs Pflaster. Studer bückte sich, um sein Eigentum aufzuheben – aber der Vogel war ganz aufgeregt. Er sprang in die Höhe, sein Schnabel zerriß das Papier. Dann ließ er ab und beschäftigte sich wieder mit Staub.
Endlich konnte Studer das braune Packpapier wieder um den Schlafanzug wickeln. Nun meinte er, 's Müetti könne für sein Alter gut singen. Und wie das denn gewesen sei mit der Krankheit der Hausmutter?
Das Weiblein schlug mit der flachen Hand in das schaumige Wasser, ein Spritzer erreichte des Wachtmeisters magere Nase.
– Gar gruusam habe sie leiden müssen, die Hausmutter, sagte die alte Frau und schnupfte. Dann rieb sie sich die Augen mit dem feuchten Handrücken.
– Gruusam? Wie das denn gewesen sei mit dieser Krankheit?
Nun hielt das Weiblein seine Rechte vor den Mund: – Es wäre eben nicht alles richtig gewesen. Aber das Beste sei wohl, man hocke ufs Muul…
– Was es denn Geheimnisvolles gegeben habe? Und warum man es nicht erzählen dürfe?
Das Weiblein legte den Zeigefinger auf ihre eingefallenen Lippen.
– Am besten sei immer der dran, meinte es, der nicht zuviel schwätze.
– Schön, nickte der Wachtmeister. Aber zu ihm könne sie doch Vertrauen haben. 's Trili-Müetti könne sicher sein, daß er nichts weiter plappere. Denn ein Fahnder habe das Schweigen gelernt…
Doch diese Versicherung schien der alten Frau keinen Eindruck zu machen, sie summte ihr Liedlein:
»Du nimmscht de Bettelsack und i de hmhmhm,
Du nimmscht de Bettelsack und i de Chorb…«
Kaum hatte sie ihr Verslein zu Ende gesungen, geschah etwas Merkwürdiges. Das Hähnlein, das in der schmutzigen Wäsche herumgepickt und mit seinem spitzen Schnabel Studers Fund bearbeite hatte, fiel um. Von unten her schob sich sein Lid übers Auge, schwach krächzte der Hansli, streckte die Krallen – und dann war er tot.
Nun brach die Alte in Wehklagen aus:
»Hansli, mis Hansli! Was isch dir passiert?« Und Tränen kollerten aus den entzündeten Augen. Sie hob den Vogel auf, wiegte ihn auf den Armen wie ein Kindlein, und blickte den Wachtmeister vorwurfsvoll an, so, als wolle sie ihn verantwortlich machen für diesen Tod. Um das Trili-Müetti standen die drei Armenhäusler, gestützt auf ihre Besen; einer in ihrem Rücken, der zweite rechts von ihr, der dritte links. Studer mußte an das Bild denken, das er gestern, bei seiner Ankunft, auf dem Friedhofe gesehen hatte. Drei Männer umstanden eine Leiche…
Wie überraschend schnell war der Güggel verendet! Der Wachtmeister erinnerte sich, daß der Vogel in der neben dem Bottich liegenden schmutzigen Wäsche gepickt hatte – und Studer bückte sich zu diesem Haufen und begann ihn zu erlesen. Drei Taschentücher – sie rochen unangenehm nach Knoblauch; er drehte und wendete jedes einzelne, bis er das Monogramm entdeckt hatte: zwei verschlungene Buchstaben, A. Ä. – Anna Äbi…
Knoblauch? Das bewies nicht viel: Übrigens hatte der Hahn mit seinem Schnabel auch das Päckli bearbeitet, das der Wachtmeister zwischen Ellbogen und Hüfte hielt. Nun hob er auch dieses an die Nase – kein Zweifel, das braune Papier roch nach Knoblauch… Dunkel erinnerte sich Studer an die Untersuchung eines Giftfalles. Damals waren Leintücher und Taschentücher geprüft worden, und sein Freund, der Assistent am Gerichtsmedizinischen, Dr. Giuseppe Malapelle aus Mailand, hatte ihm auseinandergesetzt, daß Knoblauchgeruch fast immer auf das Vorhandensein von Arsen schließen lasse; wenn man dann noch den Marshschen Spiegel finde, so habe man alle Beweise, die man brauche…
Anna Äbi… Anna Hungerlott-Äbi… Ihre Wäsche roch nach Knoblauch… Aber das braune Papier, das an einen gewissen Wottli adressiert war, roch auch nach Knoblauch… Wottli – ein Lehrer der Gartenbauschule Pfründisberg.
In Studers Kopf war eine große Verwirrung: Der ›Chinese‹ lag auf dem Grab der Anna Hungerlott-Äbi, sein Kittel, sein Mantel, sein Gilet waren unversehrt und zugeknöpft und dennoch, dennoch hatte ihn eine Kugel ins Herz getroffen… Der Schlafanzug des Toten war im Schrank eines Gartenbauschülers gefunden worden – verpackt in ein Papier, das nach Knoblauch roch. Und gestern abend? Warum traktierte der Notar Münch, der beim Hausvater zu Gast war, seinen Freund Studer mit Fußtritten in die Schienbeingegend? Drei Fußtritte! Nur weil der Wachtmeister vom Tode der Frau Hungerlott gesprochen hatte.
Wottli… Wottli… Warum verfolgte Studer dieser Name? Nur weil er auf dem sonderbar riechenden Packpapier stand? Man mußte feststellen, ob der Güggel sich wirklich vergiftet hatte. Nicht einmal das war sicher, denn es schmeckte allzusehr nach einer überspannten Theorie. Obwohl – und dies durfte man nicht vergessen – die Wirklichkeit manchmal viel unglaubwürdiger ist als die Produkte der Phantasie.
Vielleicht war der Notar Münch auf einer Spur, vielleicht wollte er den Privatdetektiv spielen, weil er einem Giftmord auf der Spur war?
Plötzlich riß der Wachtmeister aus der Innentasche seiner gefütterten Lederjoppe eine Zeitung. Ein Blatt benutzte er, um die drei Nastücher einzupacken, ein zweites und ein drittes, um den toten Güggel dareinzuschlagen. Zwar mußte er schier einen Kampf mit dem Trili-Müetti ausfechten, denn die Alte wollte die Leiche ihres Freundes nicht hergeben. Aber endlich hielt Studer drei Pakete in den Armen, und die Art, wie er sich davonmachte, war fast eine Flucht zu nennen…
Die drei Armenhäusler starrten ihm nach. Als er die Straße erreichte, die nach der Wirtschaft »Zur Sonne« führte, blickte er sich um: Längs der Grenze, welche die Gartenbauschule von der Armenanstalt trennte, standen zwei Dutzend Burschen. Sie lachten mit weit aufgerissenen Mäulern, sie schlugen sich auf die Schenkel, sie deuteten mit gereckten Zeigefingern auf den laufenden Fahnder und ein magerer Mann, der etwas abseits von der Horde stand, groß und glattrasiert war er (»Sicher der Lehrer Wottli!« dachte Studer), vermochte nicht, die Höhnenden zu beruhigen. Wieder brach die Sonne durch, sie beleuchtete die Front der Schule – an der äußersten Ecke war ein Fenster geöffnet und zwei Köpfe hoben sich ab… Auch von dort klang Lachen, höhnisches Lachen. Das Knechtlein und sein Stiefbruder verspotteten den Fliehenden… »Wartet nur!« brummte Studer. »Euch will ich!« Er bog um die Ecke der Wirtschaft, hastete die Treppe hinauf, betrat das Gastzimmer und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Das Huldi stand hinter dem Schanktisch. Der Wachtmeister wischte sich die Stirne, bestellte ein großes Bier und verlangte eine lange, dicke Schnur. Als er sie erhalten hatte, schlug er sie um die drei Päckli, die vor ihm auf dem Tische lagen. Und sobald diese komplizierte Arbeit beendet war, stand er auf und verließ den Raum. Die Saaltochter hörte noch das Knattern des angelassenen Motors – Wachtmeister Studer fuhr nach Bern…