Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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In der Bundesstadt

Als der Wachtmeister durch Burgdorf fuhr, kam es ihm auf einmal in den Sinn, daß er vergessen hatte, die Bekanntschaft des Lehrers Wottli zu machen. Und noch etwas anderes war ihm entfallen: er hätte mit seinem Freunde, dem Notar Münch aus Bern, sprechen müssen; es wäre notwendig gewesen, diesen juristisch geschulten Mann über das Testament, über das Vermögen des Ermordeten auszufragen. Wenn dieser Lehrer Wottli auch beschenkt worden war, dann tauchte in diesem Falle plötzlich eine unbekannte Person auf, die nicht weniger verdächtig war als beispielsweise der Gartenbauschüler Ernst Äbi; dieser hatte des toten ›Chinesen‹ blutbefleckten Schlafanzug in einem Schranke versteckt, der die Nummer sechsundzwanzig trug… Sechsundzwanzig… zweimal dreizehn!… Warum diese Zahl? Studer schüttelte den Kopf, vielleicht weil er die abergläubischen Gedanken, die sich mit Zahlen beschäftigten, vertreiben wollte; – vielleicht weil der Regen, welchen der Wind ihm ins Gesicht peitschte, seinen Wangen, seiner Nase Schmerzen zufügte.

Er wußte, daß die Leiche des Farny James ins Gerichtsmedizinische geschafft worden war, darum bog er nach dem Bahnhof rechts ab. Dr. Malapelle, den er von einem früheren Falle her kannte, empfing ihn mit einem Schwall von Begrüßungsworten. An der Leiche des Erschossenen, teilte der Assistent mit, sei nicht viel festzustellen gewesen. Studer verlangte, den Toten noch einmal zu sehen, und wurde in einen grellweißen Raum geführt. Das Gesicht des ›Chinesen‹ schien Hohn auszudrücken, vielleicht weil der Schnurrbart nicht mehr die Lippen verdeckte und man somit die Mundwinkel sehen konnte, die, abfallend, gegen das knochigharte Kinn wiesen.

»Ich will Sie mit technischen Ausdrücken verschonen, Ispettore… Die Kugel hat das Herz durchschlagen, der Mann war tot auf der Stelle.«

»Hat er viel Blut verloren?«

»Sicuro! Innere Verblutung war es keine.«

»Auf welche Distanz wurde geschossen?«

»Das ist zu schätzen sehr schwierig… Molto difficile… Keine Deflagrationsspuren… Wahrscheinlich vier oder fünf Meter.«

»Und das Kaliber?«

»Schätzungsweise sechs fünfunddreißig.«

»Was?« Studer blinzelte erstaunt. »Das war ja eine winzige Kugel. Wissen Sie, Dottore, daß man neben der Leiche einen großkalibrigen Revolver gefunden hat, einen Colt, fast ein Taschenmaschinengewehr – und daß auch aus dieser Waffe ein Schuß abgefeuert worden ist?«

Dr. Malapelle nannte den Wachtmeister nur dann »Ispettore«, wenn er mit ihm zufrieden war. Wenn er sich jedoch über Studer ärgerte, wechselte er die Anredeform und nannte ihn ›sergente‹, ein Wort, das er mit rollendem »r« aussprach.

»No, Sergente!« sagte der Assistent. Und dann gipfelte er, behauptend, der Wachtmeister sei kein guter, sei kein intelligenter Kriminalist – denn ein solcher hätte schon an der Einschußöffnung erkannt, daß eine kleinkalibrige Waffe an dieser Wunde schuld sei.

Studer kratzte sich am Nacken, und rund um seine spitze Nase runzelte sich die Haut. Er war verlegen und wütend auf sich, weil er die Untersuchung der Leiche nicht genauer vorgenommen hatte. Aber schließlich – ein Fahnderwachtmeister braucht nicht die Kenntnisse eines Arztes zu besitzen, und es wäre die Pflicht des seit langer Zeit nicht geschorenen Mediziners von Pfründisberg gewesen, ihn auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen. Studer hob die Achseln und ließ dann seine Hände gegen die Oberschenkel klatschen.

Aber plötzlich besann er sich an das verschnürte Paket, das er hinten auf dem Soziussitz seines Töffs befestigt hatte. Er kehrte der Leiche des ›Chinesen‹ den Rücken, sprang zur Tür, wo er noch einmal den Kopf wandte, um dem Assistenten zuzurufen, er möge droben im Labor auf ihn warten. Er habe ein paar Dinge mitgebracht, deren Analyse ihm notwendig scheine.

»Bene, bene, Ispettore«, sagte Dr. Malapelle, nun ganz versöhnt. Der Mailänder hatte für diesen Fahnderwachtmeister eine große Sympathie, und zwar weil dieser Mann, dessen massiger Körper fast bäuerlich wirkte, so ausgezeichnet italienisch sprach. Und nicht nur das: er stellte keine langweiligen Fragen, sondern war in vielen wissenschaftlichen Dingen beschlagen.

Studer aber erreichte das Laboratorium im zweiten Stock nach kurzer Zeit. Er schnaufte, denn er hatte die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erstiegen.

»Hier, Dottore«, sagte er, legte das Päckli auf einen Tisch, zog sein Militärmesser und durchschnitt damit die Schnur.

»Un gallo!« rief der Assistent aus und wog den Güggel in der Hand. »Aber warum? Wozu, Ispettore?«

»Sezieren!« befahl Studer. »Und dann: Eingeweide untersuchen. Ich glaube, Sie werden Arsen finden. Hernach hab' ich noch das (er zeigte die drei Taschentücher) und dies hier (er wies auf das braune Packpapier, das Wottlis Namen trug) und endlich einen Schlafanzug.«

Dr. Malapelles farbige Krawatte bildete zwischen den Spitzen seines steifen Kragens einen winzigen Knoten. Der Assistent hielt dies Knötlein zwischen Daumen und Zeigefinger, während er erstaunt die vielen Gegenstände betrachtete.

»Auf Arsen? Auf A-Es?« fragte er, die chemische Bezeichnung für dieses Element gebrauchend.

»Jawohl«, nickte Studer. »Auf ›A-Es‹.«

Der Italiener zog eilig seinen Kittel aus, fuhr in einen weißen Labormantel – und begann geschäftig zu tun. Hansli, der geflügelte Freund der alten Armenhäuslerin wurde mit einer Lanzette geöffnet, der Inhalt des Kropfes in einen Kolben getan, mit Wasser bedeckt. Die Flamme des Bunsenbrenners leckte wie eine bläuliche Zunge an dem Drahtnetz, auf dem die Kugel des Kolbens lag, das Wasser begann zu sieden, der Hals, der mit feuchten Tüchern umhüllt war, füllte sich mit Dampf. Nun drehte Giuseppe Malapelle das Gas ab, der Bunsenbrenner zog seine Zunge zurück, nun wurden die feuchten Tücher entfernt: der Marshsche Spiegel war deutlich.

»Hmmm«, brummte Studer langgezogen. »Vergiftung eines Hahnes, wie?«

»Senza dubbio«, nickte der Assistent. »Ohne Zweifel.«

Jetzt kamen die Taschentücher an die Reihe. Auch an ihnen war Arsen nachzuweisen. Dann das Packpapier – der Arsenspiegel glänzte. Und Studer war verwirrt. Seine Verwirrung aber steigerte sich, als zum Schlusse der Schlafanzug des verstorbenen Farny James untersucht wurde. Die Hosen waren während einer halben Stunde in Wasser gelegen, und als dies Wasser nun im Kolben erhitzt wurde, blieb der Schnabel rein. Einzig Tropfen setzten sich an der Innenwand fest – aber kein glänzender Spiegel bildete sich. Als dann die Flüssigkeit erhitzt wurde, in der die Jacke des Pyjamas fast dreiviertel Stunden lang eingeweicht worden war, bildete sich nur ein durchsichtiger Hauch, der kaum glänzte, und Dr. Malapelle meinte, das braune Papier, welches diesen Stoff eingehüllt habe, sei an der schwachen Reaktion schuld.

Als Studer seine Uhr zog, wurde es ihm klar, daß er den armen Mann allzulange aufgehalten hatte – um halb zwölf hatte er das Gerichtsmedizinische betreten, und nun war es schon über zwei. Darum tat der Wachtmeister das einzig Vernünftige und lud den Italiener zum Essen ein. Das Töff ratterte durch die Stadt. Dr. Malapelle saß auf dem Soziussitz und schrie dem Wachtmeister von Zeit zu Zeit treffende Bemerkungen ins linke Ohr. Frau Hedwig Studer aber war an die stets wechselnden Essensstunden ihres Mannes gewöhnt, hatte den Tisch gedeckt und brauchte nicht lange, um für einen Dritten nachzutischen.

Der Assistent rührte mit dem Löffel in der Fleischsuppe, rühmte ihren Duft, bis Studer diesem Loben ärgerlich Einhalt gebot. Nicht um unnötige Schmeicheleien zu hören, sagte er, habe er den Dottore zum Mittagessen eingeladen, sondern um mit ihm zu diskutieren…

»Jetzt diskutiere ich nicht, jetzt esse ich!« schnitt der Assistent diese Predigt ab.

Erst beim schwarzen Kaffee ließ er Studer endlich zu Worte kommen. Des Wachtmeisters Frau aber verzog sich in die Küche; sie müsse das Geschirr waschen, sagte sie, und sie begehre nicht wieder eine Mordgeschichte erzählen zu hören. Eigentlich sei es ein Jammer, mit einem Fahnder verheiratet zu sein, immer komme so ein Mann zu spät zum Essen, und dann habe er nichts als Todesfälle oder Diebstähle oder Raubmorde im Kopf.

»Diesmal ist es kein Raubmord«, sagte Studer ärgerlich und begann den Fall des ›Chinesen‹ aufzurollen. Er erzählte von dem Erschossenen, der auf einem Grabe gelegen sei – und der Mörder habe offenbar einen Selbstmord vortäuschen wollen. Jedoch sei ein solcher unmöglich, da nicht nur die Kleider des Toten unversehrt und zugeknöpft gewesen seien, trotz des Herzschusses, sondern da auch, nach Meinung des Doktors Malapelle, der Schuß in einer Entfernung von mindestens vier Meter abgegeben worden sei…

»Erinnern Sie sich noch, Malapelle, an jenen Fall, der in Gerzenstein passiert ist – damals haben wir einander kennengelernt. Damals war es das genaue Gegenteil. Ein Selbstmord wäre möglich gewesen, weil der Witschi den Lauf der Waffe mit Zigarettenblättli vollgestopft hatte, um die Deflagrationsspuren zu verdecken. Und schließlich fand ich heraus, daß ein anderer von mindestens zwei Meter Entfernung auf den Toten geschossen hatte, während alle im Dorfe glaubten, es sei ein Selbstmord gewesen. Sogar der Untersuchungsrichter, der damals den Fall behandelt hat, meint dies heute noch, und außer Ihnen und mir, Dottore, weiß nur noch eine Frau, was in Wirklichkeit passiert ist.«

»Der Fall Witschi«, nickte der Italiener.

»Diesmal ist es noch ärger«, seufzte Studer. »Nicht nur ein Familienname endet mit einem i, sondern gleich drei. Äbi, Wottli, Farny… Farny hieß der Tote. Und Wottli ist Lehrer an einer Gartenbauschule, seine Mutter wohnt in Bern und das braune Papier, an dem Sie Arsen nachgewiesen haben, brauchte die Mutter, um ihrem Sohne darin wahrscheinlich Wäsche zu schicken. Warum kann man an diesem Papier, an diesem braunen Packpapier Arsenspuren nachweisen? Wenn Sie mir diese Frage beantworten könnten…«

»Pazienza! Geduld«, predigte Giuseppe Malapelle: dann wollte er wissen, was es mit dem Hahne und mit den Taschentüchern für eine Bewandtnis habe. Studer erzählte, was an diesem Morgen geschehen war.

»Vielleicht«, meinte darauf der Assistent des Gerichtsmedizinischen Institutes, »sind Sie ganz auf dem Holzweg, Ispettore. Sie dürfen eines nicht vergessen, daß der ganze Fall in der Nähe einer Gartenbauschule spielt.«

»Was hat eine Gartenbauschule mit Arsen zu tun?«

»Sehr viel. Erstens wird in solch einer Schule sicher ein Chemiekurs gegeben…«

»Ah!« sagte Studer erstaunt. »Stimmt. Der Wottli ist auch Chemielehrer, das hat mir der Direktor heut morgen gesagt…«

»Sehen Sie. Und zweitens wird den Schülern in solch einer Schule sicher beigebracht, wie man Ungeziefer an Pflanzen vernichtet. Die Mittel, die zur Schädlingsbekämpfung verwendet werden, sind allesamt giftig. Gegen Läuse braucht man Nikotin, und zur Raupenvernichtung Arsenpräparate. Vielleicht hat der Lehrer – wie nannten Sie ihn? Wotschli? Namen haben Sie in der Schweiz! – Wie? Ah, Wottli, gut; vielleicht hat der Lehrer Wottli das Paket irgendwo, im Magazin vielleicht, wo die Mittel zur Schädlingsbekämpfung aufbewahrt werden, geöffnet – das Papier ist mit einer solchen Materie in Berührung geraten – und daher haben wir den Marshschen Spiegel entdeckt. Verstanden? Ja?«

Studer nickte. Die Erklärung ließ sich verteidigen, vielleicht stimmte sie sogar – das einzige, was ihr widersprach: die Taschentücher der verstorbenen Frau Hungerlott. Diese waren sicher nicht mit einem Mittel zur Bekämpfung von Raupen in Berührung geraten. Der Wachtmeister widersprach daher dem Assistenten, und dieser zuckte mit den Achseln.

»Sie müssen weiter suchen, Ispettore; Sie müssen gehen und besuchen die Mutter Wottli und suchen nach der Mutter von Frau Direktor Hungerlott und Schüler Ernst Äbi, welcher gewesen ist der Bruder, nicht wahr?« Studer nickte. »Vielleicht finden Sie bei beiden Müttern Wichtiges. Hernach Sie müssen zurückfahren nach Fründisbergo, denn dort werden Sie finden die Lösung – wie damals, bei unserem ersten Fall. Da war Lösung auch im Dorf. Und vergessen Sie eine Zeitlang das A-Es…«

Während sich der Assistent draußen von Frau Hedwig verabschiedete, blieb Studer in seinem Lehnstuhl sitzen. Er hatte die Hand über die Augen gelegt, schlief aber nicht, sondern grübelte. Was bedeuteten wohl die Fußtritte, mit denen ihn sein Freund Münch bedacht hatte?


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