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Das Erdgeschoß der Schule war noch hell erleuchtet und auch oben, im zweiten Stock brannte noch Licht. Als Studer mit dem Direktor die Vorhalle betrat, mußte er an einen riesigen Bienenstock denken. Denn das ganze Haus war erfüllt von einem lauten Summen, das nur von den geschlossenen Klassentüren gedämpft wurde.
Sack-Amherd trat in sein Bureau und drehte das Licht an. Ein sogenannter Diplomatenschreibtisch beim Fenster, neben der Tür ein eiserner Geldschrank und an den Wänden Gestelle, gefüllt mit Briefordnern… Der Direktor setzte sich mürrisch auf den Armstuhl, der vor dem Schreibtisch stand, öffnete eine unverschlossene Schublade und begann zu wühlen. Papiere flatterten auf den Boden, dann wurde eine zweite Schublade geöffnet, durchsucht – eine dritte…
»Der Schlüssel ist fort«, seufzte Sack-Amherd.
Studer nickte schweigend.
»Das ist doch der beste Beweis«, fuhr der Direktor fort, »daß der Verstorbene mein Bureau betreten und den Schlüssel geholt hat, weil er Selbstmord begehen wollte. Oder?«
Studer hob die Achseln und vergrub die Fäuste noch tiefer in die Taschen seiner Hose.
»Beweis?« murmelte er. »Ich seh' gar keinen Beweis. Wir müssen zuerst feststellen, wann der Äbi den Schlüssel genommen hat. Heut abend? Oder schon früher? Im Laufe des Tages? Und sind Sie ganz sicher, daß ihr Schlüssel neu war, Herr Direktor? War es wirklich dieser Schlüssel?« Studer zog den glänzenden Gegenstand aus der Tasche und hielt ihn dem anderen vor die Nase. Sack-Amherd gähnte.
»Wie soll ich das wissen? Ich hab' den Schlüssel schon lang nicht mehr gesehen. Jetzt erinnere ich mich auch: Als ihn der Äbi vorige Woche verlangte, hab' ich ihm ganz einfach gesagt, er soll ihn holen gehen und ihm erklärt, in welcher Schublade er liegen müsse. Dann hat er ihn zurückgebracht und selbst wieder versorgt. Erst nachdem er ihn versorgt hatte, meldete er mir, es sei alles in Ordnung. Ich kann mich doch nicht um jeden Dreck kümmern. Wollen Sie noch sein Pult anschauen gehen?«
Sie traten auf den Gang und schritten auf die Türe zu, die dem Direktionsbureau schief gegenüber lag.
»Warten wir ein wenig«, sagte Studer leise, legte die Hand auf des Direktors Arm und zwang ihn zum Stehenbleiben. Im Klassenzimmer sagte eine Stimme:
»Und, Baumann, glaubst du wirklich, daß dieser Wachtmeister, dieser Schroter etwas finden wird? Statt uns zu fragen, ist er nur hinter dem Alten her und dem Wottli. Als ob die beiden eine Ahnung hätten, was mit dem Äbi los ist. Ich weiß über den Äbi besser Bescheid als die ganze Schule. Das kannst du mir glauben!«
»Psch! Pschsch!« tönte es. »Nicht so laut! Wenn jemand zuhört!« – »Ich will schnell die Tür aufmachen…« Studer wartete nicht länger, sondern drückte auf die Klinke.
Im Klassenzimmer war es taghell, die vier Lampen, die von der Decke hingen, mußten wohl starke Birnen haben… Drei Reihen Pulte, an denen die Bänke befestigt waren. Gerade vor der offenen Tür ein breiter und langer Tisch für den Lehrer, an der Wand die schwarze Tafel mit einigen flüchtigen Kreidezeichnungen; der Plan eines Gebäudes – bei Gott, das war ja der Plan des Treibhauses! Daneben ein kleinerer Entwurf, der Studer neugierig machte.
»Was habt ihr da gezeichnet?« fragte er und trommelte mit den Fingern auf die Tafel. Ein Chor, der aus wenigstens zehn Stimmen bestand, antwortete: »Die Heizung!« – »Welche Heizung?« – »Die vom Gewächshaus!«
Natürlich! Die Burschen waren nicht dumm. Sie hatten an die Heizung gedacht – und ein geschulter Kriminalist mußte sich schämen, weil er diese wichtige Sache vergessen hatte. Studer fackelte nicht lange.
»Ich brauche Sie nicht mehr, Herr Direktor!… Ich sehe, daß Sie übermüdet sind. Bitte, gehen Sie nur ruhig zu Bett. Mit den Schülern werd' ich schon fertig.« (Studer sprach leise, ganz nahe an Sack-Amherds Ohr und hielt die flache Hand neben seinen Mund.) »Ich übernehme die Verantwortung und bring sie dann hinauf in ihre Schlafräume.«
»Guet, mynetwäge!« Der Direktor gähnte noch einmal herzhaft. So still war es im Raume, daß deutlich ein Klopfen zu hören war; es drang durch die Zimmerdecke. »Jaja… Meine Frau ruft mich. Sie macht sich gewiß Sorge. Also… Guet Nacht mitenand. Und: Machet nicht zuviel Lärm!«
Leise drückte Herr Sack-Amherd die Türe von außen zu, seine Schritte verhallten. Im Klassenzimmer herrschte Schweigen… »So«, meinte Studer und zog seinen Mantel aus, »jetzt wollen wir zusammen die Untersuchung führen. Welcher hat vor unserem Eintritt mit dem Baumann gesprochen?«
»Ich!« In der hintersten Bank, ganz oben, stand ein großer Kerl auf. Seine Haare funkelten rot und sein Gesicht war mit Sommersprossen übersät.
»Wie heißest du?« – »Amstein Walter.« – »Also, Wälti. Ich glaub zwar, daß deine Lehrer dich nicht duzen – aber ich bin's so gewohnt. Macht's dir nichts aus?« –
»Nein, gar nichts. Es ist mir sogar lieber!« Und der Rothaarige lachte. Er zeigte dabei eine Reihe schöner Zähne.
»Was hast du gemeint, Wälti, wie du gesagt hast, du wissest über den Äbi besser Bescheid als die ganze Schule? Den Satz hab ich grad noch gehört.«
»Siehst du, daß ich recht gehabt hab!« rief ein kleiner Braunhaariger dem Amstein zu. Er hatte den Kittel abgelegt und die Hemdsärmel aufgelitzt.
»Bist du der Baumann?« fragte Studer.
»Mhm«, nickte der Bursche. Die Muskeln am Ellbogen waren gespannt, er hatte das Kinn zwischen die geballten Hände gepreßt. »Ich kenn Euch, Wachtmeister. Am achtzehnten Juli war ich in der Sonne und sah, wie Euch die Armenhäusler vermöbeln wollten…«
Studer hakte ein und fragte den Baumann aus. Was sei der Grund gewesen, damals? »Ich bin nicht recht nachgekommen. Schließlich war es wirklich ein Zufall, daß ich damals vergessen hab' zu tanken, und…« – Nun wurde er unterbrochen, von drei Schülern auf einmal: von Baumann, von Amstein und von einem Dritten, der fast weiße Haare hatte, wie ein Albino… Er trug eine Hornbrille auf der Nase, deren Gläser so stark geschliffen waren, daß die Augen dahinter ganz verzerrt aussahen… Popingha hieß er und sprach das Deutsche mit starkem holländischen Akzent. Er gebot seinen Kameraden Schweigen und erzählte folgendes: An jenem Abend sei der Äbi Ernst plötzlich hier, im Klassenzimmer, aufgetaucht und habe vier Mann gebraucht. Er (Popingha) und Amstein und Heinis und Vonzugarten seien mitgekommen und der Kamerad (›Kam'rat‹ sagte Popingha) habe ihnen auf dem Wege erzählt, sein Bruder – sein Stiefbruder – sei heute morgen angekommen. Früher habe ihn die Armenbehörde in der Anstalt versorgt, aber er sei geflohen mit einem Mädchen – zwar habe sich der Fremde, der Farny, seiner angenommen, aber bei Hungerlott wisse man ja nie, was der Mann vorhabe. Heut morgen sei er einverstanden gewesen, den Bruder wieder laufen zu lassen und habe dies auch dem Farny versprochen. Aber heut abend sei plötzlich ein Polizist aufgetaucht und vielleicht habe dieser die Absicht, den Bruder zu verhaften. Nun habe er ein paar Armenhäusler aufgetrieben, aber er brauche noch einige sichere Mithelfer und darum sei er die Kameraden holen gekommen. Man müsse dem Schroter Angst machen, damit er fortgehe und den Ludwig in Ruhe lasse. »So war das, Wachtmeister. Darum haben wir getan, als wollten wir Euch angreifen…«
Wie einfach die Geschichte war! Und wie mutig hatte sich doch der Bursche benommen, der nun tot im Treibhaus lag, bewacht von seinem Stiefbruder.
Treibhaus… Was bedeutete der Plan der Heizung? Diesmal war es Amstein, der Antwort gab. Sein Bett, erzählte er, stehe im Schlafsaal gerade neben dem des verstorbenen Äbi. Es sei ihm aufgefallen, daß Äbi die letzte Zeit so schlecht geschlafen habe – oft sei er fast nächtelang wach gelegen und wenn er schließlich gegen Morgen Schlaf gefunden, habe er im Traum geredet. Immer und immer sei von Heizung die Rede gewesen. Heizung und Treibhaus. Ein paarmal sei der Ernst – Baumanns bester Freund – »Gell, Buuma?« – »G'wüß!« – der Ernst also am Abend aus der Arbeitsstunde gelaufen. Arbeitsstunde hätten sie hier in der Schule am Morgen von halb sieben bis zum Frühstück um halb acht (im Sommer früher) und am Abend von fünf bis halb sieben und von halb acht bis zehn Uhr. Er erwähne dies nur, um dem Wachtmeister die Sache klarzumachen… Da habe nun er (Amstein) von Baumann erfahren, daß Äbi manchmal fehle, und da Baumann ein Schüchterner sei, habe eben er einmal dem Äbi abgepaßt. Und was habe er entdeckt? Der Ernst sei mit seinem Vater draußen auf dem Friedhof zusammengetroffen. »Beide standen am Grab der vor vierzehn Tagen gestorbenen Frau Hungerlott. Nun wußt' ich ja, daß die Frau die Schwester des Ernst war. Nur verstand ich nicht, warum er seinen Vater gerade an dieser Stelle traf. Nachher gingen die beiden ins Treibhaus, ich blieb zuerst draußen stehen, ging dann hinein – da war keiner mehr da. Ich hörte sie aber unten in der Heizung miteinander flüstern. Verstehen konnt' ich nichts. Da hab ich mich wieder gedrückt. Merkwürdig war nur eins: Die Birne, die unten in der Heizung hängt, hat die ganze Nacht nicht gebrannt – und doch sah ich letzten Montag Licht dort unten. Es war um neun Uhr, der Äbi hatte diese Woche Dienst, mußte am Morgen den Rost putzen, am Abend Kohlen nachlegen für die Nacht… Ich glaubte dann, der Äbi habe eine Extrabirne, die er abschraube, wenn er die Heizung verlasse und durch eine andere – kaputte – ersetze. Warum er das aber gemacht hat, weiß ich nicht…«
Zweite Entdeckung. Studer hütete sich, Notizen zu machen. Nichts stößt mehr ab, als ein pedantisches Aufschreiben – während man dies tut, kann man nicht aufblicken und verliert vollkommen den Zusammenhang mit den Menschen, denen man zuhört… Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Alle Schüler hatten rote Köpfe, und ihre Augen funkelten.
»Noch etwas?« Popingha, der Holländer mit der großen Brille, lachte kurz auf, nickte dann. – Er wisse schon noch etwas, doch glaube er nicht, daß es wichtig sei.
»Nur erzählen!« Eigentlich wunderte sich Studer, daß er mit diesen unbekannten Schülern so gut auskam. Sie hätten ihn doch hassen sollen, weil er am Morgen den Schaft des Äbi durchsucht und ein »Corpus delicti« entdeckt hatte. Der Tod ihres Kameraden schien alle dermaßen erschüttert zu haben, daß sie aus sich herausgingen und helfen wollten…
Popingha erzählte: – Früher habe er immer den Lehrer Wottli mit der Frau Anna Hungerlott spazieren gehen sehen und er würde wetten, daß die beiden ineinander verliebt gewesen seien.
Studer wollte lächeln, er fühlte, wie seine Mundwinkel zu zittern begannen – aber plötzlich fröstelte er, obwohl es im Klassenzimmer erstickend heiß war. Es war ihm, als habe er das Ende des Fadens erwischt, als könne er jetzt den verfilzten, den verknoteten Strang aufdröseln.
»Geht jetzt schlafen!« befahl er. »Und steigt ruhig die Treppe hinauf.« Die Schüler folgten ihm, er löschte die Lampen, wartete im zweiten Stock, bis alle im Bett lagen, löschte auch in den Schlafsälen die Lampen. »Guet Nacht, schlofet guet!« Als er das Haus verließ, war es dreiviertel eins. Das Gewächshaus war noch hell erleuchtet.