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Studer erhob sich und ging ins Schlafzimmer, denn das Telephon stand auf dem Nachttisch, neben seinem Bett. Er nahm den Hörer ab und stellte die Nummer des Postscheckbüros ein. Er mußte warten. Endlich, nach zehn Minuten, wurde ihm wieder angeläutet und er erfuhr, die Höhe des Depots von James Farny sei 6325 Fr. Allerhand… Von welcher Bank überwiesen? – Crédit Lyonnais.. .– Nun läutete Studer die Filiale dieses französischen Bankinstitutes in Bern an. Und da erlebte er eine Überraschung. Er hatte gefürchtet, er würde Schwierigkeiten haben – wegen des Bankgeheimnisses. Gerade das Gegenteil ereignete sich. Herr Farny habe Instruktionen hinterlassen: Anfragen der Polizei über sein Vermögen seien sogleich zu beantworten. Der Sicherheit halber – bitte man Herrn Studer, abzuhängen – man werde sogleich wieder anläuten. An seine Privatadresse? Jawohl… Dann: Das Depot bestehe aus 100 000 amerikanischen Dollars, 10 000 englischen Pfunden. Außerdem habe Herr Farny noch ein Safe gemietet, das Edelsteine enthalte. Diamanten, Smaragde, Rubine.
Vorsichtig und respektvoll legte Studer den Hörer wieder auf die Gabel. In einer Zeitung suchte er nach dem Stande der ausländischen Devisen… Das Pfund stand auf fünfzehn Komma null drei, der Dollar auf drei fünfundzwanzig… Allerhand! Der ›Chinese‹ hinterließ ein Vermögen von rund einer halben Million Schweizerfranken. Ohne den Inhalt des Safes, der ungefaßte Edelsteine enthielt…
Etwas wie Ekel stieg in Studers Hals auf. Plötzlich ging ihm dieser Fall auf die Nerven. Was?… Es handelte sich nur um eine simple Erbschaftsangelegenheit? Und wenn man den glücklichen Erben – besser: die glücklichen Erben – entdeckt hatte, dann kannte man den Schuldigen? Chabis! Dann – eben dann hatte man den Schuldigen noch lange nicht… Nein, der Fall wurde immer uninteressanter. Denn einem Menschen mit einem geringen Gehalt, dem es während seines Lebens nicht immer gut gegangen ist, macht es nie große Freude, für andere Leute ein Vermögen zu retten… Und schließlich – wer würde das Vermögen des ›Chinesen‹ nun einsacken?
Der Wachtmeister hockte auf dem Bett, und der trübe Tag draußen ließ nur eine matte Dämmerung ins Zimmer sickern. Studer ballte die Hand, hob seine Faust vor die Augen und reckte zuerst den Zeigefinger: »Erstens: die Schwester…« murmelte er. Der Mittelfinger schnellte auf: »Zweitens: ihr unehelicher Sohn – das Knechtlein…« Der Ringfinger kam an die Reihe: »Drittens – der Äbi Ernst, Gartenbauschüler. Viertens seine Schwester, die Frau des Hungerlott…« Studer starrte auf seine Hand, nur der Daumen haftete noch am Ballen… Nun schnellte dieser zur Seite und stand rechtwinklig zur Fläche.. . »Und der Gatte? Der Gatte der Tochter? Der Hausvater des Pauperismus? He? Und der Maurer Äbi… Die Finger langen nicht!«
»Köbi, woscht nit es Taßli Gaffee?« fragte Frau Hedwig unter der Tür.
»Nei!« fauchte der Wachtmeister wütend. Er ging zum Kleiderständer, zog Kittel und Mantel an, riß die Wohnungstür auf. Doch als er sie hinter sich zuschmettern wollte, ergriff ihn Reue. – Wahrscheinlich komme er erst am Sonntag zurück, sagte er leise und freundlich. – Es sei ein verteufelter Fall… Frau Studer nickte traurig… Am Sonntag? Heute war erst Donnerstag. »Leb wohl, Hedy…« Und der Wachtmeister schloß vorsichtig die Türe.
Er stieg auf sein Töff und fuhr in die Aarbergergasse 25; er wollte über den Lehrer Wottli Bescheid wissen, weil dieser Mann einmal ein Packpapier besessen hatte, an dem Arsenspuren nachzuweisen gewesen waren…
Die Dreizimmerwohnung lag im ersten Stock und war peinlich sauber. Eine Frau, die trotz ihrer weißen Haare noch jung schien (ihr Gesicht war faltenlos), schlurfte in Filzpantoffeln über das glänzende Parkett. Schon an der Türe begann sie zu sprechen, und nichts konnte diesen Redefluß dämmen. Sie bediente sich eines merkwürdigen Basler Dialekts, der mit bernischen Brocken gewürzt war – denn seit langem hatte sie wohl ihre Heimat verlassen. Sie rühmte ihren Sohn. – Was der für ein Kluger sei und ein Gescheiter… Oooh… Als einfacher Handlanger habe er in einer Gärtnerei angefangen – und nie eine Lehre durchgemacht, denn damals sei gerade der Vater gestorben und kein Geld im Haus gewesen. Jäjä… Mit sechzehn Jahren habe der Paul angefangen und dann alles gelernt, denn er habe oft die Stelle gewechselt. Zuerst Baumschule, dann Gemüse, dann Rosenkultur, endlich Landschaftsgärtnerei – ob der Herr Wachtmeister wisse, was das heiße, auf Landschaft arbeiten… ? Nicht… ? Nun, das sei die Anlage von neuen Gärten… Jojo… Pläne habe der Paul gemacht! Dann sei er nach Deutschland, in die Nähe von Berlin, um sich in der Staudenkultur auszubilden… Denn – nid woohr – in den neuen Gärten würden jetzt nicht mehr Rabatten angelegt, sondern Stauden, Delphinium und Iris, und Narzissen und Phlox und Astern und wie all die Pflanzen hießen… Nach den Stauden sei der Paul nach Stuttgart und habe im Palmenhaus des Königlichen Schlosses sich auf Orchideenkultur spezialisiert… »Nehme Sie Platz, Herr Wachtmeister…« Und ob er nichts trinken wolle?
Studer schüttelte den Kopf, er wollte eine Frage stellen, aber schon rauschte der Strom weiter: – Ja, in Orchideenkultur…! Und an den Abenden habe er Bücher gelesen, bis er genug gelernt habe, um Artikel schreiben zu können – joojoo – wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften, in botanischen Blättern…
Dem Wachtmeister brummte der Kopf. Man mußte die alte Frau mit den schönen weißen Zähnen weiter erzählen lassen…
Dann sei der Paul in die Schweiz zurückgerufen worden zu einem reichen Herrn, der ein Schloß besessen habe am Thunersee… Drei Arbeiter habe Paul unter sich gehabt und die hätten schaffen müssen – er selbst sei mit dem guten Beispiel vorangegangen und habe manchmal vierzehn Stunden im Tag gearbeitet. Dann sei der reiche Herr gestorben und habe dem Paul als Dank für seine Arbeit Geld vermacht…
»Wieviel?« Studers Frage zerschnitt die lange Rede. Aber selbst dies war unfähig, der Rede Einhalt zu tun.
– Fünftausend Franken! Jojojo! Fünftausend Franken! Ein kleines Vermögen, und gleich darauf sei der Paul von der Berner Regierung gewählt worden: als Lehrer an die Gartenbauschule Pfründisberg… Oooh! Und beliebt sei der Sohn bei seinen Schülern! Manche – die vom Jahreskurs zum Beispiel –, aber selbst die anderen, die nur den Winterkurs mitmachen täten, selbst diese könnten einfach später den Paul nicht vergessen, wenn sie wieder irgendwo eine Stelle hätten. So beliebt sei der Paul. In allen Sachen kenne er sich aus – in Düngerlehre, in Baumschnitt, in Treibhaus… Überall, ja, überall sei er daheim, der Paul…
»Auch in Chemie?« Die zweite Frage klang ebenfalls wie ein scharfer Pfiff.
– Natürlich, natüürlig… Und weiter prasselten die Worte, sie erinnerten an Regentropfen, die an Fensterscheiben trommeln… Studer neigte den Kopf; er saß in einem Fauteuil, der mit rotem Plüsch überzogen war und dessen Armstützen sicher jeden Tag mit Wichse poliert wurden. Als die Mutter endlich schwieg, erkundigte sich der Wachtmeister, sehr sorgsam und sehr vorsichtig, was denn das Paket enthalten habe, das Frau Wottli ihrem Sohne geschickt habe.
– Eh, Bücher! Vor fünf Tagen habe sie dem Paul Bücher geschickt. Und warum der Herr Wachtmeister dies wissen wolle?
»Numme süscht…« – Und ob der Paul befreundet gewesen sei mit einem gewissen Farny, der in Pfründisberg ein Zimmer in der Wirtschaft ›zur Sonne‹ bewohnt habe… ?
– Farny? Aber nadirlig! Einmal sei der Herr Farny – der Herr Wachtmeister meine wohl den Herrn Farny, der gestern morgen tot aufgefunden worden sei, nid woohr? – Also, dieser Herr Farny habe ein Haus bauen wollen – in Pfründisberg – und den Sohn gefragt, ob er nicht den Plan für den Garten machen wolle… Pläne mache der Paul! Wunderbare! Der Stadtgärtner selbst sei manchmal ganz erstaunt darüber, was der Paul alles könne, und er habe ihm gesagt, daß er während seiner Ferien in der Gartenbauschule unbedingt einmal nach Bern kommen müsse, um bei den Anpflanzungen im Botanischen Garten mitzuhelfen… Ja, das sei… Aber sicher habe der Herr Studer jetzt großen Durst, was er gerne trinken wolle? Sie habe einen extra guten Erdbeerschnaps, mit einer ganz neuen Sorte gemacht, die der Paul in Pfründisberg gezüchtet habe. Ob der Gast diesen Likör kosten wolle?
Der Wachtmeister nickte, dankte und sagte, er wolle am Abend nach Pfründisberg zurückfahren.
Frau Wottli ging in die Küche, kam mit einer Flasche zurück, füllte zwei Gläser und stieß mit dem Wachtmeister an.
Gerade als Studer sein Glas auf das runde Tischchen zurücksetzte, begann irgendwo im Hause Lärm. Sie lauschten – Stühle fielen um, Teller zerbrachen knallend auf dem Boden; der ganze Krach erweckte den Eindruck, als praßle ein Hagelwetter ins Zimmer. Und an dies sommerliche Gewitter mußte man deshalb denken, weil der Lärm sicher aus dem zweiten Stock kam…
»Wer wohnt dort?« fragte Studer und wies mit dem Daumen nach der Zimmerdecke.
Nun schrie eine Frauenstimme, laut und klagend –.
Mutter Wottli aber schüttelte den Kopf: Der Äbi sei aber heut früh heimgekommen, meinte sie. Und sicher habe der Mann wieder getrunken. Jetzt prügle er seine Frau.
»Äbi?« fragte der Wachtmeister. »Haben die Leute etwa Kinder?« – »Ja.«
» En Sohn und e Tochter…« Die Tochter habe geheiratet und eine glänzende Partie gemacht, der Mann sei ein höherer Staatsangestellter – aber was habe es der Anna genützt? Nichts! Sie sei vor kurzer Zeit gestorben. Der Sohn tauge nicht viel; als Handlanger habe er sein Leben vertrödelt und erst jetzt, mit fast dreißig Jahren, sei es ihm gelungen, in Pfründisberg einzutreten… Nur weil ein reicher Onkel aus dem Ausland ihm geholfen habe…
»Und der Vater?«
– Seit einem Monat habe ihm die Fürsorge eine Aushilfsstelle in einer Kohlenhandlung verschafft… Dort verdiene er einen Franken Stundenlohn…
»Nid viel…«, meinte Studer.
Nei, nei. Aber er mache oft blau, der Arnold Äbi, und nicht nur am Montag. Sicher habe er seine Arbeit heute schon um drei Uhr verlassen, um trinken zu gehen. »Ja, er ist ein anderer Mann als mein Paul. Mein Sohn trinkt nicht.«
Der Wachtmeister blickte die alte Frau fest an. Rechts neben ihrer Nase tanzte ein Leberfleck auf und ab, wie ein brauner Angelkorken auf fließendem Wasser. Immer deutlicher sah Studer das Bild des Lehrers Wottli – und die Tatsache, daß der Mann ein »Wissenschaftler« war, gab den letzten Tupfen. Der Wachtmeister hatte in seinem Leben viele Menschen kennengelernt, die ihr Wissen aus Büchern – meistens aus einem Konversationslexikon – erlernt hatten (›Autodidakten‹ nannte man sie), und gewöhnlich trugen diese Leute ihre Überzeugung wie einen unsichtbaren Helm auf dem Kopf. Sie wußten in allem und jedem Bescheid – aber jeder ihrer Gedanken war falsch. Sie glaubten sich allwissend, sie waren stolz – und oft, nur allzuoft trieb sie dieser Stolz auf einen falschen Weg. Glücklich waren sie selten… Gehörte der Lehrer auch zu diesen Leuten? Einmal schon hatte er fünftausend Franken geerbt – hoffte er diesmal auf eine größere Summe? Der Wachtmeister seufzte, weil sein friedlicher Sinn sich nicht gerne mit nutzlosen Streitigkeiten abgab – und solche Streitigkeiten standen ihm bevor; bei der ersten Unterredung mit dem Gartenbaulehrer würden sie erscheinen… Über seinem Kopfe weinte die Frau lauter, Klatschen war zu hören.
Und Jakob Studer nahm Abschied. Aber es gelang ihm trotzdem nicht, den Arnold Äbi kennenzulernen. Als er im Stiegenhaus stand, hörte er das Haustor unten ins Schloß fallen und im oberen Stockwerk ein Stöhnen. Leise schlich er die Treppen hinauf – von Frau Wottli hatte er nichts zu fürchten, denn sie war ins Wohnzimmer zurückgegangen. Vor der angelehnten Türe lag der Körper einer Frau; die Haare, die wirr vom Kopfe abstanden, waren kurz geschnitten und von fettiggrauer Farbe. Sie trug ein schwarzes Baumwollkleid… eine blaue Schürze… Die Füße steckten in braunen Halbschuhen, und die Absätze trommelten auf die roten Fliesen. Über dem verschmierten Klingelknopf am Türpfosten war mit einem Reißnagel ein Visitenkärtlein befestigt:
Arnold Äbi
Maurermeister
Studer bückte sich, schob seine Arme unter den zitternden Körper, richtete sich auf und trat in die Wohnung. Ein Gang – kein Teppich auf dem staubigen Parkett… Ein Zimmer – sauber, mit wenig Möbeln. Über dem Ehebett lag eine braune Decke, darauf legte er die Frau, die leise stöhnte. Sie war mindestens sechzig Jahre alt, die Stirn war hoch. Zwischen den halbgeschlossenen Lidern schimmerte die Hornhaut weiß. Die Lippen öffneten sich und ließen zwei Zähne sehen, die breit und lang und gelb waren – wie Roßzähne. Ein Stöhnen zuerst: »Aa–oo–aah!« Nun öffneten sich die Lider ganz, braun und glanzlos war die Iris, wie die Decke, auf welcher der Körper lag. »Wasser!« stöhnte die Frau. Studer trat auf den Gang, schloß zuerst die Wohnungstüre und ging dann in die Küche. Hier war der Boden mit Tellerscherben besät, an der Mauer lag ein Stuhl, der beide Vorderbeine gebrochen hatte; der Tisch war mit Papierfetzen, schmutzigen Gabeln und Löffeln bedeckt. An seinem Rand war ein Schraubstock befestigt, Studer berührte ihn – da blieben Eisenspäne an seinen Fingern kleben…
Ein Schraubstock… Eisenspäne… Was war hier gefeilt worden?
Der Wachtmeister spülte ein Glas, füllte es und kehrte dann ins Zimmer zurück. Die Frau streckte ihre Hand aus, trank das Wasser und ließ sich wieder zurückfallen.
»Wer seid Ihr?« fragte sie. Studer nannte seinen Namen.
»Was wollt Ihr?«
»Nüt Apartigs…«
Die Frau schluckte, und ihr Adamsapfel rollte hin und her, wie ein steinernes Kügeli unter einem schlaffen Tuch. Es wurde langsam dunkel im Zimmer; plötzlich flammten auf der Straße die Laternen auf und klebten viereckige, gelbe Lichttücher an die Decke. Die Frau schwieg. Ihr Gesicht lag im Finstern; der Rock hatte lange Risse und ließ einen gemusterten Barchentunterrock sehen.
»Warum hat er Euch geschlagen?« fragte Studer.
Ein Seufzer. Die Nägel der linken Hand kratzten auf der Decke, sonst war kein Geräusch zu hören, denn die Straße unten war still. Dann antwortete die Frau mit einer Frage:
»Geht's Euch etwas an, wenn der Mann mich schlägt?« Sie lachte kurz und schrill.
»Helfen Euch die Kinder nicht, Mutter?« fragte der Wachtmeister. Das Wort ›Mutter‹ brachte Leben in die Liegende. Sie sprang auf, setzte die Füße auf den Boden, schwankte zuerst ein wenig, als sie sich vom Bettrand abstieß, und ging dann sicher durchs Zimmer. Der Schalter knallte leise; dann blendete das Licht der Lampe, obwohl die Birne in einem blauen Kreppapier steckte.
»Die Kinder!« sagte die Frau und grub die Finger in ihr kurzgeschnittenes Haar. »Die Kinder!« wiederholte sie. »Ich habe eine Tochter gehabt – aber die ist gestorben. Ich hab zwei Söhne gehabt – aber der eine ist verschwunden und der andere will seine Mutter nicht mehr kennen, weil er seinen Vater haßt… Ja, ja…« Sie seufzte. »Er will seine Mamma nicht mehr kennen – er besucht lieber eine andere Mutter, die im gleichen Hause wohnt. Unten, dort unten…« Sie wies mit dem Zeigerfinger auf den Boden. »Dort hockt er stundenlang – aber bei mir bleibt er nur fünf Minuten…«
»Der Ernst?« fragte Studer.
»So? Hat er Ernst geheißen?« Ein Lächeln ließ den Mund noch größer scheinen, und die beiden Zähne packten die Unterlippe. »Jaja. Der eine hat Ernst geheißen und der andere Ludwig. Ernst Äbi der eine, Ludwig Farny der andere. Ich habe gehört, daß beide in Pfründisberg sind. Der eine in der Gartenbauschule, der andere im Armenhaus. Stimmt das, Herr… Herr…«
»Studer!«
»Richtig… Stimmt das, Herr Studer? Oder ist der Ludwig noch im Thurgau?«
Der Wachtmeister überlegte: spielte die Frau Theater oder war sie wirklich krank? Vielleicht hatte sie Fieber, denn sie sah nicht gesund aus. Mager war ihr Gesicht, und rote Flecken glänzten über den Backenknochen. Sie begann zu husten, ging keuchend zum Nachttischli, zog die Schublade auf und kramte unter den darinliegenden Gegenständen. Plötzlich schrie sie auf.
»Was ist los?« fragte Studer.
»Nichts… oh… nichts!« Sie wurde bleich; einzig die winzigen roten Flecken über den Backenknochen blieben farbig.
»Vielleicht… ich… ich… weiß nicht. Der Doktor hat mir Medizin verschrieben und die ist fort. Vielleicht hat sie der Noldi mitgenommen… Aber wozu hat er sie wohl gebraucht, der Noldi?«
Es klang merkwürdig; wie konnte die Frau ihrem betrunkenen Manne, der sie grausam verprügelt hatte, einen zärtlichen Kosenamen geben? Er hieß Arnold – und sie nannte ihn noch immer Noldi…
»Was war es denn?«
»Ein Beruhigungsmittel…«, sagte die Frau. »Täfeli… Weiße Täfeli… Oder vielleicht hat die Frau Wottli die Medizin genommen? Ich hab' ihr einmal davon gegeben, vor einer Woche – und das hat ihr geholfen. Sie konnte schlafen, nachher. Und heut morgen hat sie mich besucht. Vielleicht…«
Studer zog seine Uhr. Sechs Uhr! Er mußte sich beeilen, wenn er heut abend noch in Pfründisberg sein wollte. Darum verabschiedete er sich von der kranken Frau, versprach, bald wieder zu kommen, und fragte, ob er nicht Frau Wottli heraufschicken solle. »Damit Ihr nicht so allein seid, wenn es Euch schlecht geht. Und«, fügte der Wachtmeister fragend hinzu, »Soll ich vielleicht in eine Apotheke gehen und Euch das Mittel holen, das Euch der Doktor verschrieben hat? Habt Ihr das Rezept noch?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Das gehe nicht, meinte sie. Das Rezept habe der Apotheker behalten. Es sei ein Betäubungsmittel.
Betäubungsmittel? Studer pfiff leise. Schade, daß man nicht wußte, was der Arzt der Kranken verschrieben hatte. Es war zu spät, heute abend dem Arzte anzuläuten. Gewiß, man konnte schnell noch ins Amtshaus fahren und dort die nötigen Anweisungen geben. Aber Studer hatte keine Lust, dies zu tun. Wenn in einer Sache alles noch verworren war, so vermied er lieber, Kollegen zur Hilfe beizuziehen. Das ging, wenn man das Ende des Fadens in der Hand hielt. Aber es lohnte sich nicht, wegen eines fehlenden Betäubungsmittels große Geschichten zu machen. Denn in der Wohnung des ehemaligen Maurers herrschte so viel Unordnung, daß die Frau das Mittel ganz gut verlegt haben konnte. Er warf rasch einen Blick in die offene Schublade, sah viele Schächteli, gläserne Tuben, Fläschli: Herzmittel und Schlafmittel und Stärkungsmittel. Die größte Flasche nahm er in die Hand. Sie war leer. Er sah auf die Etiketten – ›Gift‹ stand auf der einen; darüber eine andere: ein Totenkopf mit zwei Knochen. Endlich auf der größten: ›Fowlersche Lösung‹. Schon wieder ein Arsenpräparat!
»Wer hat die Flasche geleert?« fragte Studer.
»Ich«, sagte die Frau. Ihre Finger wühlten wieder in den kurzgeschnittenen, weißen Haaren.
Als Studer den Absatz des ersten Stockes erreichte, blieb er kurz vor Frau Wottlis Wohnung stehen. Er horchte. Eine Klingel schrillte drinnen, ein Knacken war zu hören, als der Hörer des Telephons abgenommen wurde…
»Ah… ja… Grüeß di Paul… Ja, er hat mich besucht. Heut nachmittag… Er ist schon lange fort, wird bald dort sein… Nein, nein… Nein! Ich war nicht oben bei der Äbi. Soll ich gehen?… Meine Zimmertür ist offen, ich will sie schließen gehen… Jaja! Ich geh schon.« Und Studer vernahm Schritte, die näher kamen – er wartete ruhig. Drinnen fiel eine Türe zu.
Und Studer verließ das kleine Haus.