Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Funde in der Heizung

Als Studer den Gang vor den beiden Treibräumen betrat, sah er Ludwig Farny vor dem Zementtisch stehen. Das Knechtlein schöpfte mit der Rechten Sand und ließ ihn in die Linke rinnen; dabei liefen ihm Tränen über die Backen.

Der Wachtmeister trat neben ihn, klopfte ihm auf die Schulter und fragte: »Was isch los?«

Stockend erzählte Ludwig, der Ernst habe immer zu ihm gehalten; dabei wies er auf den Toten, der im Dunkeln lag. Einmal, wie es ihm schlecht gegangen und die Barbara krank gewesen sei, habe er dem Ernst geschrieben und um Geld gebeten. Fünfzig Franken habe er verlangt – und der Bruder habe ihm das Geld ohne weiteres geschickt, obwohl er selbst nicht reich gewesen sei. Und dann – der Ernst habe immer die Mutter verteidigt und wenn er im Haus gewesen sei, habe der Vater – »der Stiefvater«, verbesserte er sich – nie gewagt, die Mutter anzurühren. Sogar zu einer Schlägerei sei es einmal gekommen, weil der betrunkene Stiefvater angefangen habe, die Mutter zu quälen. Der Ernst sei damals kaum sechzehn gewesen, aber stark wie ein Bär, der Äbi habe am nächsten Tag ein blaues Auge gehabt und seit dieser Zeit…

»Das langt«, sagte Studer. Konnte man sich ein schöneres Motiv denken? Der Alte mußte den Jungen gehaßt haben – Studer kannte diese Art Männer, die, wenn sie betrunken sind, gerne ihre Frauen quälen; ein sonderbares Machtbedürfnis mußte dahinter stecken – denn gewöhnlich waren diese Quälgeister auch arme Teufel: sie wurden von oben getreten – war es ein Wunder, daß sie dann ihre Frauen quälten, um ihnen zu zeigen, wie kräftig sie waren?

»Weißt du, wo die Heizung ist, Ludwig?« Das Knechtlein nickte, ging voraus; in einer Ecke führten Stufen in die Erde hinein. Ludwig drehte an einem Schalter – und unten flammte die Lampe auf. Vor seinem Tode hatte der Ernst also die Birne ausgewechselt… Der Heizungskessel war staubig, rechts von ihm lag ein Haufen Asche, die mit Schlackenstückchen vermischt war. In der Nebenkammer links lag Koks. Studer zog den Mantel aus und hing ihn an einen Nagel. Unter einigen Overalls fand er einen passenden und zog ihn an. Ein Aschensieb lehnte an der Wand.

»Wir müssen die Asche durchsieben, Ludwig«, sagte der Wachtmeister, »zieh auch ein Überkleid an!« Er dachte dabei, daß das Knechtlein wohl seinen einzigen Sonntagsanzug trug.

Es war eine unangenehme Beschäftigung, welche die beiden unternahmen. Die Luft des kleinen Raumes war bald mit Staub gesättigt, das Atmen wurde schwer, Studer mußte husten – aber der Haufen wurde langsam kleiner. Eigentlich wußte der Wachtmeister selbst nicht, was er in der Asche zu finden hoffte… Ludwig kehrte den Rest der Asche zusammen, die beiden Männer schwangen das Sieb – da endlich, unter einigen Schlackenstücken, fand der Wachtmeister drei Dinge: einen halbverbrannten Knopf, einen ganzen Knopf, eine ausgeglühte Patronenhülse. Studer legte die drei Gegenstände auf seine flache Hand und betrachtete sie.

»Schau, Ludwig«, sagte er, »das ist ein Knopf, der aus einem Warenhaus stammt. Der da«, und er deutete auf den zweiten, unversehrten, »ist gutes Material, ein Mantelknopf, vielleicht stammt er sogar von einem englischen Schneider… Und erkennst du das?«

Ludwig nickte. Solche Hülsen, sagte er, hätten sie als Fisel in den Schießständen aufgelesen. Nur seien die Hülsen damals noch größer gewesen… Wenn er sich eine Meinung erlauben dürfe, so stamme diese Hülse von einer Pistolen-Patrone, von einer großkalibrigen…

»Recht so, Ludwig, recht so! Wahrscheinlich stammt die Hülse aus dem amerikanischen Revolver, den wir neben der Hand deines Onkels auf dem Friedhof gefunden haben.«

Ludwig nickte weise. Auf seinem knochigen Gesicht entstand ein Lächeln – und stärker leuchtete das Blau seiner Augen.

Studer hatte eine Taschenlampe angeknipst und bestrich mit ihrem Lichtkegel die Wände. Dort, wo der Eingang in den Kohlenkeller war, blieb er stehen, seine Augen näherten sich der Mauer… »Lueg einisch!« rief er. Ludwig kam, und der Wachtmeister deutete auf einige Spritzer, die sich deutlich von der dunklen Wand abhoben. »Hescht du es alts Messer?« fragte er seinen Gehilfen; das Knechtlein nickte, aber es brauchte Zeit, um aus der Hosentasche ein Messer mit schartiger Klinge zutage zu fördern.

Studer zog eine alte Enveloppe aus seiner Tasche, darein kratzte er den Wandbelag, auf dem er die verdächtigen Spritzer entdeckt hatte. Dann schloß er das Kuvert und hielt seinem Gehilfen einen Vortrag:

– Er stelle sich die Sache folgendermaßen vor: man habe den Onkel hierher in den Keller gelockt – und zwar habe man ihn aus dem Bett geholt. Beweis: der eine Knopf, der von einem guten Schneider stamme. Wahrscheinlich habe der Onkel rasch einen Überzieher angezogen und sei dem Manne gefolgt, der ihn gerufen habe. Dieser Mann habe gewußt, daß der Onkel stets eine Waffe bei sich trage – wie es dem Mörder gelungen sei, sich dieser Waffe zu bemächtigen, sei ein anderes Rätsel, das wohl erst das Geständnis des Schuldigen lösen würde. Kurz, der Onkel sei hier in diesem Keller erschossen worden mit einer kleinkalibrigen Waffe, aber der große Revolver sei auch losgegangen – und zwar müsse man annehmen, daß nicht nur ein Mörder die Tat begangen habe, sondern daß mindestens ein Mitschuldiger anwesend gewesen sei. Dieser Mitschuldige sei ins Zimmer des Onkels gegangen und habe von dort ein Hemd, einen Anzug und einen Kragen mitgebracht. Im Keller sei die Leiche angezogen, auf den Friedhof getragen und auf das Grab der Anna Hungerlott gelegt worden. Ludwig müsse sich das lebhaft vorstellen: die Mörder hätten im Sinne gehabt, der Behörde glauben zu machen, es handle sich um einen Selbstmord aus Liebesgram; wobei ihnen ein Fehler unterlaufen sei: sie hätten nicht daran gedacht, daß Rock, Gilet und Hemd unverletzt geblieben seien. Übrigens habe der Statthalter sogleich festgestellt, daß ein Mann mit einer Kugel im Herzen unmöglich noch seine Kleider zuknöpfen könne…

»Erster Fehler, Ludwig… Wenn die Mörder ein wenig nachgedacht hätten, wär' dieser Fehler zu vermeiden gewesen. Vom zweiten Fehler wollen wir nicht sprechen – ich meine den Schlüssel… Du bist müde und der Wachtmeister Studer ein Schwätzer. Wir wollen schlafen gehen, komm…« Sie stiegen die Treppe hinauf, Ludwig drehte den Schalter ab; der Gang war leer. Auf dem Torfhaufen, der auf der Zementplatte lag, standen noch die Runen, die Studer vor Stunden gezeichnet hatte. Er löschte sie aus und die Kühle tat seinem heißen Handballen wohl. An der Tür, die ins Freie führte, drehte Ludwig den letzten Schalter – nun lag das Glashaus dunkel da, einsam und ungestört schlief der Tote darin, und die beiden Lebenden gingen ihrer Schlafstätte zu, nachdem Studer auch die Außentür verschlossen hatte. Der Himmel schimmerte schwachsilbern, schon war der Mond untergegangen. Als Studer seine Taschenuhr zog, stellte er fest, daß Mitternacht seit zwei Stunden vorüber war.


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