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Studers letzte Gedanken vor dem Einschlafen waren gewesen: »Der Fall ist so weit fortgeschritten, daß Pressieren nur schaden kann.« Deshalb beschloß er auszuschlafen. Erst um 9 Uhr erschien er mit seinem Gehilfen Ludwig im Gastzimmer, wo der Uralte vor einem Tische saß und durch eine verbogene Stahlbrille die Zeitung studierte. Als der Wachtmeister unter der Tür erschien, empfing ihn der Wirt mit einem freundlichen Grinsen:
»Pfründisberg wird berühmt«, krächzte er. »Zwei Mordfälle, Wachtmeister, zwei Mordfälle! Ja, ja, Pfründisberg wird berühmt, wie es schon einmal berühmt gewesen ist, zur Zeit von meinem Großvater… Da hieß es ›Bad Pfründisberg‹ und die Herren aus der Stadt kamen zur Kur in die ›Sonne‹… Aber dann hat natürlich die Regierung das alte Kloster aufgekauft und eine Armenanstalt draus gemacht… Da sind die besseren Herrschaften fortgeblieben. Denn wisset, Wachtmeister, die Reichen sehen nicht gern die Vaganten. Und seither ist die ›Sonne‹ eine Schnapsbeize geworden, wo sich die Armenhäusler ihr Bätziwasser holen… Hin und wieder gibts bei mir schon eine Gräbd, wenn ein Bürger von Gampligen stirbt und im Friedhof drüben begraben wird. Sonst kommen noch die Schüler ein Glas Bier trinken, aber der Sack-Amherd siehts nicht gern – am liebsten kommt er allein und klopft hier einen Jaß mit dem Hausvater und dem Schranz und dem Gerber… Auch ich helf' manchmal mit, aber wisset Ihr, ich bin schon alt, ich seh' nicht mehr gut die Karten, und zu meiner Zeit hat man den Kreuzjaß gespielt und nicht den dummen Schieber… Am interessantesten ist es, wenn der Hungerlott, der Direktor und der Schranz ›zugere‹ um fünf Rappen den Punkt… Dann hört man erst, wie so noble Herren fluchen können… Wißt Ihr schon, daß morgen ein paar Herren die Anstalt inspizieren wollen?«
– Ja, das habe er gehört, brummte Studer. Aber jetzt wolle er einen starken Kaffee, ohne Zichorie, und Anken und Käs'. Wo denn's Huldi sei…?
Der Wirt übernahm es selbst, die Serviertochter herbeizurufen und das Meitschi mit der bleichen Gesichtsfarbe brachte nach fünf Minuten schon das Gewünschte. Dem Ludwig merkte man es an, wie stolz er war, mit dem Wachtmeister zusammen am gleichen Tische zu sitzen… Er benahm sich gut, der Bursche, aß säuberlich, steckte nicht allzugroße Brocken in den Mund und brauchte nur selten das Messer zum Essen. Auch schlürfte er nicht beim Trinken.
Um halb zehn waren die beiden fertig und brachen auf, nachdem sie sich vom Wirte verabschiedet hatten. Unterwegs hielt der Wachtmeister seinem Schützling eine Rede: – Da könne der Ludwig sehen, wie alles in der Welt sich verändere. Was sei zum Beispiel diese Beize für eine schmucke Wirtschaft gewesen, früher? Ludwig solle sich das recht deutlich vorstellen: die Chaisen, die Bernerwägeli, die vorgefahren seien – schöngekleidete Männlein und Weiblein hätten das Haus betreten, in den Zimmern gewohnt, die nun leer stünden, verstaubt, Tummelplätze für Mäuse und Ratten… Dafür habe der Staat zwei Anstalten eröffnet: ein Neubau sei die eine, die andere aber so geblieben, wie sie von Mönchen aufgerichtet worden sei vor fünf-, wer weiß, vielleicht vor sechshundert Jahren. In der neuen Schule würden Gärtner herangebildet – zukünftige Arbeitslose, und in der anderen die Armen, die man nicht mehr brauchen könne, mit ein wenig Suppe und Kaffee gespiesen, um sie wenigstens nicht auf der Straße verhungern zu lassen… Sehr philosophisch war an diesem Morgen der Wachtmeister Studer von der kantonalen Fahndungspolizei… Für ihn, sprach er weiter, hätten solche Armenanstalten immer etwas Trauriges. Er erinnere sich an Frankreich, an Paris besonders, da gebe es auch Arme – aber man lasse ihnen wenigstens das höchste Gut, das ein Mensch besitzen könne: die Freiheit. Die Polizisten drückten beide Augen zu, wenn sie einen betteln sähen; im Winter, wenn es kalt sei, säßen die Armen auf den Stufen der Untergrundstationen, um dort ein wenig Wärme zu ergattern und auf den Tag zu warten. Kurz seien die Nächte in der großen Stadt, schon um vier Uhr könne man die Armen bei den Markthallen sehen: sie hülfen den Gärtnern, die mit Frühgemüse kämen, ihre Wagen abladen, es falle ein wenig Geld für sie ab – und Essen auch. Tagsüber liefen sie durch die Straßen und eigentlich seien die Menschen – die Arbeiter besonders – nicht geizig, hier ein Fränklein, dort ein paar Sous. Hingegen hier in der Schweiz… Er, der Wachtmeister, wolle ja nichts gegen sein Heimatland sagen. Aber diese Wohltätigkeit am laufenden Bande sei ihm immer auf die Nerven gegangen.
Winzige weiße Wolken krochen über einen tiefblauen Himmel, ein sachter Wind spielte mit den dürren Gräsern am Wegrand. Der Wachtmeister war guter Laune, Ludwigs Augen, deren Blau so merkwürdig glänzte, waren auf sein Gesicht geheftet, der Junge schien die Worte zu trinken – niemand hatte jemals so zu ihm gesprochen und Gedanken bestätigt, die manchmal in ihm aufstiegen. Und nun ging da neben ihm ein älterer Mann, dessen mageres Gesicht eigentlich nicht zu dem mächtigen Körper paßte, und sprach diese Gedanken aus, die nur wie Larven durch seinen jungen Kopf gekrochen waren, gab ihnen Form, ließ sie flattern und durch die Luft gaukeln wie bunte Schmetterlinge…
»Märci«, sagte Ludwig. Studer blickte zur Seite, sah das freudige Gesicht und verstand dies Dankeswort, trotzdem es eigentlich keine Beziehung zu seinen Ausführungen hatte.
»Ja, Ludwig, du wirst jetzt reich werden«, meinte Studer. »Aber wenn du dann Geld hast, darfst du nicht vergessen, daß du einmal ein Armenhäusler gewesen bist. Du hast im Walde gehaust und Körbe geflochten mit dem Mädchen Barbara – warum? – nur um frei zu sein. Freiheit… Heutzutage weiß man ja nicht mehr, was eigentlich Freiheit ist…«
»Wart hier auf mich«, sagte Studer und stieß die Türe auf, die in die Halle der Gartenbauschule führte. Stille. Nur das Brünnlein murmelte und die Chrysanthemen rochen nach Friedhof. Kein Mensch im langen Gang; hinter der Türe, gegenüber vom Direktionsbureau, sprach eine eintönige Stimme und Studer erkannte sie wieder.
»… und somit ist Arsen der Grundstoff für einige Schädlingsbekämpfungsmittel. Auch in Beizmitteln läßt er sich nachweisen, in Uspulun…« Studer klopfte scharf an und öffnete die Türe.
Auf den Bänken, die sich in drei Reihen aufbauten, saßen Schüler. Sie nickten Studer zu. Dann beugten sich die Köpfe wieder über die aufgeschlagenen Hefte, Füllfederhalter kratzten – die Schüler schrieben nach.
Der Lehrer Wottli wurde rot und es war nicht ein natürliches Erröten, sondern ein fleckiges.
»Wa… wa… as wünschet Ihr?«
»Einen Moment nur, wenn Sie so gut sein wollen.«
»Aber gern.«
Der Lehrer folgte dem Wachtmeister auf den Gang hinaus. Studer trat ins Direktionsbureau – es war leer – bat den Lehrer zu warten, schloß dann die Türe und telephonierte. Das Gespräch dauerte eine Weile, endlich war er fertig und wußte, daß Ernst Äbis Leiche in einer Stunde geholt werden würde. Auf dem Gange rief er nach Ludwig Farny, übergab ihm den Schlüssel zur Eingangstür des Gewächshauses und trug ihm auf, dort zu warten. Niemand dürfe den Raum betreten außer den zwei Sanitätspolizisten. Und nachher solle Ludwig die Türe wieder schließen. Ob er verstanden habe?
»Ja… Studer« – »So ist's recht!«
Wottli hatte sein selbstsicheres Wesen ganz verloren. Der große, magere Mann stand mit gesenktem Kopfe mitten im Gang, seine Hände lagen gefaltet auf seiner Brust. Er tat dem Wachtmeister leid – denn Studer hatte ein weiches Herz.
»Zeigt mir zuerst noch das Pult des Verstorbenen«, sagte er bittend. »Dann können wir zusammen an irgendeinen Platz gehen, wo wir nicht gestört werden. Welchen schlagt Ihr vor, Wottli?« (Wottli! Ein Versuch war diese Anredeform – wie würde der ›Herr Lehrer‹ darauf reagieren?)
»Mein Zimmer, Studer… Wenn Euch das recht ist.«
Der Versuch war gelungen und der Wachtmeister freute sich. Der knochige Mann war nicht mehr hart – er würde sprechen. Und sicher hatte er viel zu erzählen… Nun schwieg er eine Weile und Studer wartete geduldig. Endlich:
»Macht's Euch nichts aus, Studer, allein ins Klassenzimmer zu gehen? Ich mag nicht mehr. Einer der Schüler wird Euch schon das Pult vom Äbi zeigen. Wollt Ihr?« Der Wachtmeister nickte. Die Durchsuchung des Pultes war sicher nutzlos – aber man mußte sie dennoch vornehmen, um sagen zu können, man habe seine Pflicht getan.
Er behielt recht. Hefte, Hefte, Hefte – alle glichen sie den Wachstuchheften, die man an einem Juliabend unter einer hellen Lampe gesehen hatte. Und sicher stammten die damals gesehenen Hefte aus dem gleichen Geschäft wie diese hier. Titel: »Gemüsekultur.« – »Düngerlehre.« – »Treibhaus.« – »Obstbaumlehre.« Und so weiter… Die Buchstaben in Blockschrift… »Stauden.« Beim rothaarigen Amstein bedankte sich der Wachtmeister. Dann trat er wie ein Lehrer vor die schwarze Tafel und hielt eine Ansprache: – Er hoffe, sagte er, die Schüler wüßten Bescheid. Eine Untersuchung sei hier im Gange, und bis dies zu Ende sei, müsse er die Anwesenden bitten, die Schule nicht zu verlassen. Es sei dies zwar nur eine Formsache, aber immerhin… Jetzt habe er mit dem Lehrer, der draußen auf ihn warte, eine Zeitlang zu sprechen. Während der Abwesenheit Herrn Wottlis bitte er die Klasse, ruhig zu bleiben und sich mit einer anderen Arbeit zu beschäftigen. Vor allem aber müsse er verlangen, daß niemand das Treibhaus betrete, besser noch sei es, wenn es überhaupt nicht aufgesucht werde. Ob man ihm dies versprechen wolle? – Amstein stand auf, erklärte, er sei hier Klassenchef und werde dafür sorgen, daß die Wünsche des Wachtmeisters erfüllt würden. Studer dankte und verließ die Klasse.
»So«, sagte Studer draußen auf dem Gang. »Jetzt können wir gehen. Wo wohnt Ihr eigentlich, Wottli?«
»In der Wirtschaft ›zur Sonne‹.«
Studer blieb stehen. »Wo?« fragte er erstaunt.
»In der Wirtschaft; warum erstaunt Euch das?«
»In welchem Stock?«
»Im ersten… Im Zimmer über dem Farny.«
»Wird nid sy…«
Sie nahmen den Weg, der am Armenhaus vorbeiführte. Still war es im Hofe – 's Trili-Müetti sang nicht, wusch nicht. Und niemand tanzte mit einem Reisbesen über die festgetretene Erde…
Hinter Wottli betrat der Wachtmeister das Zimmer – und was er sah, erstaunte ihn wenig. Zwei Koffer standen auf dem Boden, Studer hob sie auf. Sie waren voll gepackt. Auf dem Tische lag ein braunes Heftli – der Schweizer Paß.
»Wollt Ihr verreisen?«
»Ja… Aber ich wär' nicht fortgefahren, ohne mit Euch zu sprechen.«
»Und warum wollt Ihr verreisen?«
»Ich hab Angst, Studer.«
»Vor mir?«
Kopfschütteln. Schweigen. Studer griff an:
»Was habt Ihr mit der Frau Hungerlott gehabt, Wottli?«
»Wißt Ihr das auch schon?«
»Denket doch, daß Ihr in einem kleinen Kaff gelebt habt. Meinet Ihr, niemand habe Euch gesehen?«
»Wohl… Schon… Aber ich hab mir nichts vorzuwerfen. Nur – die Frau war unglücklich. Der Mann quälte sie und sie hatte niemanden. Einmal habe ich sie getroffen – das ist schon lange her, sechs Monate vielleicht – da sprach sie mich an. Der Hungerlott war nicht daheim, sondern nach Bern gefahren. Und wir sind damals zum erstenmal miteinander spazieren gegangen. Sie hat's nie schön gehabt, die Anna. Daheim nicht – dann nahm sie in einem Bureau eine Stelle an und dort lernte sie ihren Mann kennen. Eigentlich hat sie ihn nur geheiratet, um aus der Stadt zu kommen und ihren Vater nicht mehr zu sehen. Und hier ist es ihr auch nicht gut gegangen.«
Studer hatte sich auf einen Stuhl gesetzt – und nun hockte er da, in seiner Lieblingsstellung, die Hände gefaltet, die Unterarme auf den Schenkeln.
»Wie ist sie gestorben?«
»Ich darfs nicht sagen… Ich darfs nicht sagen!«
»Warum?«
»Weil ich nichts beweisen kann.«
»Mit wem habt Ihr über die Sache geredet?«
»Woher wißt Ihr das? Woher wißt Ihr, daß ich mit jemandem über den Tod der Anna geredet hab?«
Selbst ein gütiger Mensch rächt sich bisweilen gerne.
»Ich hab gmeint, Ihr seid so beschlagen in Kriminologie? Ihr habt doch Werke durchgearbeitet, oder?«
»Aber Studer! Ihr müßt mich nicht verspotten! Es war ein Fehler von mir, gestern so zu sprechen – aber ich hab Angst gehabt, daß Ihr etwas… etwas… etwas. .. gefunden habt!«
Gefunden?… Studer grübelte… Was hätte er finden können? Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sagte:
»Vielleicht hab ich etwas gefunden.«
»Was müßt Ihr dann von mir denken! Glaubt Ihr nicht, daß ich mich dumm benommen hab?«
Dumm benommen… ? Studer versuchte es mit einem Lächeln. Wottli brauste auf: »Natürlich, jetzt lacht Ihr mich aus! Warum? Weil ich Liebesbriefe geschrieben hab? Ich hatte sie doch gern, die Anna! Sie wollte scheiden, wir hätten geheiratet… Sie behauptete, sie habe meine Briefe versteckt – und jetzt… jetzt hat sie die Justiz…« (Wahrhaftig! Wottli sagte ›Justiz‹… Und nicht etwa Schroterei…) »Wer hat Euch die Briefe gegeben? Wenns der Ernst Äbi war, so hat er seinen Tod verdient. Saget, wars der Ernst Äbi? Oder sein Vater? Oder seine Mutter? Ich konnte nie erfahren, wo die Anna meine Briefe verbarg… Und Ihr waret doch gestern in der Aarbergergaß. Bei meiner Mutter. Sie hat auch versucht, die Briefe wieder zu finden. Sagt mir doch, von wem Ihr sie habt!«
Studer schwieg. Innerlich freute er sich, weil er sich gestern nicht geirrt hatte: Popingha, der holländische Gartenbauschüler, hatte ihm das Ende des Fadens in die Finger gegeben, mit dem man den Knäuel aufdröseln konnte.
Es lag auf der Hand: Farny James, der ›Chinese‹, hatte die Briefe besessen – darum war das letzte Heft, in das er geschrieben hatte, verschwunden. Das Heft und wahrscheinlich eine Schreibmappe, die Papiere enthielt. Wie war der ›Chinese‹ zu diesen Briefen gekommen?
»Wie ist Frau Hungerlott mit ihrem Onkel ausgekommen?« fragte Studer.
»Ihr beantwortet mir meine Frage nicht, und ich soll Euch Auskunft geben?«
»Wottli! Denkt ein wenig nach! Ich kann nicht antworten, weil ich nicht sicher bin. Ihr könnt mir antworten, um mir zu helfen. Wollt Ihr das tun? Ich tu dann mein möglichstes, um Euch am Sonntag reisen zu lassen. Ist Euch das recht?«
»Erst am Sonntag? Warum nicht heut? Meint Ihr, ich wolle anwesend sein, wenn Ihr Eure Aufklärung erzählt?«
Studer dachte angestrengt nach – welches war die beste Lösung? Sollte er, der einfache Fahnderwachtmeister, den Richter spielen? Er hielt die Lider gesenkt und rührte sich nicht, während Wottli im Zimmer hin und her lief. Der Lehrer schien das Schweigen nicht ertragen zu können, denn er begann wieder aufgeregt zu sprechen:
»Nur einmal in der Woche ist der Hungerlott in die Stadt gefahren – nur einmal konnt ich die Anna sehen. So vorsichtig sind wir gewesen – immer haben wir uns im Wald getroffen. Nie sind wir zusammen in Pfründisberg gesehen worden – aber ein Schüler hat uns einmal im Wald ertappt. Ertappt! Ja… Er hat gegrinst, der Holländer. Nur einmal hab ich mich mit der Anna hier getroffen – da ließ sie mich rufen. Ihr Mann wollte ihren Stiefbruder verhaften lassen. Sie mochte das Knechtlein gerne und bat mich, auch mit ihrem Mann zu sprechen. Ich tat's dann – aber ungern. Und weil wir uns nicht sprechen konnten, schrieb ich ihr Briefe. Während ihrer Krankheit schrieb ich jeden Tag und gab dem Ernst, ihrem Bruder, der sie jeden Tag besuchen ging, die Briefe mit. Einmal – nein, ein paarmal – bat ich sogar den Onkel darum. Der besuchte sie auch. Einmal hat sie dem Ernst einen Brief mitgegeben. Darin schrieb sie, jemand vergifte sie. Aber ich wollte es nicht glauben… Trotzdem… trotzdem ich dem Hausvater einmal… einmal… Nein! Ich kanns nicht sagen!«
Schweigen. Studer wartete. Sein Stuhl stand vor dem Tisch, auf dem der Paß lag. Der Lehrer saß hinter ihm auf dem Bett. Der Wachtmeister lauschte, die Muskeln seiner Beine waren gespannt – beim leisesten Geräusch in seinem Rücken wollte er sich rechts vom Stuhl auf den Boden fallen lassen, um einem Angriff auszuweichen. Erfolgte der Angriff jedoch nicht, so hatte ein Mensch seine Unschuld bewiesen. Um ganz sicher zu gehen, fragte er leise:
»Wie hieß die Samenbeize, Wottli?«
Ein Seufzer. Er klang befreit. Feste Schritte waren zu hören – und kein Schleichen. Gerade aufgereckt stand der Lehrer vor dem Wachtmeister: »Also, habt Ihr begriffen? Habt mich verstanden? Wie ich gestern das Uspulun – jawohl, Uspulun heißt es – in der Tasche des Toten sah, wußte ich, daß die Anna recht hatte. Sie war von ihrem Bruder vergiftet worden – warum? Weil der Ernst erben wollte. Versteht Ihr? Wie muß einem Lehrer zumute sein, der entdeckt, daß einer seiner Schüler ein Mörder ist? Und der Mörder begeht Selbstmord! Denn Ihr glaubt doch nicht an die Schlüsselverwechslung? Oder?«
Studer blieb regungslos sitzen. Er hob nicht den Kopf, und seine Hände blieben gefaltet.
»Wenn man denkt, wie der Fremde, der doch sein Onkel war, für den Burschen sorgte! Und ich bin sicher, daß dieser Ernst nicht nur seine Schwester, sondern auch seinen Onkel ermordet hat! Ihr nicht auch, Studer? So redet doch endlich! Hocked doch nicht da wie ein Ölgötz! Der Fremde hat sich hier ankaufen wollen – den Garten sollte ich entwerfen, ihn mit meinen Schülern anlegen. Ich schlug ihm vor, einen Wettbewerb zu machen – unter meinen Schülern. Jeder sollte einen Plan zeichnen, für den besten sollte er einen Preis geben von fünfhundert Franken. Das wär doch schön gewesen, und der James (›Jammes‹ sagte der Lehrer) war einverstanden. Ich wollte gar nichts verdienen – und als er mir eine Erbschaft versprach, wurde ich bös und sagte, nie würde ich sie annehmen. ›Du wirst es schon, wenn ich tot bin, Paul!‹ antwortete er darauf. Ja, so ist es zugegangen!«
Langsam, ganz langsam entfalteten sich Studers Hände, seine Beine streckten sich, der breite massige Rumpf stieg in die Höhe und der Schnurrbart zitterte. Die Augen streiften im Zimmer umher, sahen die Bücher an den Wänden: Groß und Locard und Rhodes, sie erinnerten den Wachtmeister an seine eigene Bibliothek.
»Paul«, sprach der Wachtmeister und legte seine Hände auf die Schultern des Lehrers. »Du bist ein großer Kriminalist. Aber tu mir einen Gefallen. Pack fertig und fahr noch heut über die Grenze. Ans Meer, wenn du willst. Schick mir dann deine Adresse, damit ich dich auf dem laufenden halten kann. Es ist besser, wenn du gleich abreist, verstanden? Ohne die Mutter zu besuchen. Die Aarbergergasse ist nicht gesund für dich. Leb wohl und gute Reis'!«
Studer schritt zur Tür, wandte sich um, winkte mit der Hand. »Leb wohl« wiederholte er. »Dem Sack-Amherd erklär' ich dann deine… deine… Abwesenheit.«
Paul Wottli, Lehrer für Chemie, Düngerlehre, Topfpflanzenkultur, Spezialist für Orchideen, blieb in der Mitte des Zimmers reglos stehen. Er lauschte auf die schweren Tritte, welche die hölzernen Stufen zum Ächzen brachten. Als sie leiser wurden, kam plötzlich Leben in den mageren Mann. Er stürzte zur Tür, riß sie auf und beugte sich über das Geländer:
»Studer! Studer!« Keine Antwort. Wottli seufzte, dann mußte er lachen. Es war ein tiefes und leises Lachen. »Ich schreib ihm dann«, flüsterte er. »Der Studer! und Duzis haben wir auch gemacht!«