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Die zerbrochene Scheibe war notdürftig gemacht worden, das Öfeli zog nicht schlecht – in ihm knackte das Holz. Studer blickte auf seine Uhr – erst halb sechs. In einer Stunde wollte er dem Hausvater Hungerlott einen Besuch abstatten.
»Erzähl, Ludwig!« sagte Studer, nachdem er dem andern eine Brissago angeboten hatte. Das Knechtlein und der Fahnderwachtmeister rauchten um die Wette.
Es war eine einfache Geschichte. Der Ludwig hatte seinen Vater nie gekannt und war darum auf den Namen seiner Mutter getauft worden. Seine Mutter wieder hatte, als das Büblein sechs Jahre alt war, einen Maurer namens Äbi zum Manne genommen. Zwei Kinder gingen aus dieser Ehe hervor, ein Mädchen Anna, das später den Hausvater Hungerlott heiratete, ein Knabe Ernst, der zur Zeit den Jahreskurs der Gartenbauschule Pfründisberg absolvierte – ›absolvierte!‹ sagte Ludwig Farny, und nicht ›absolutierte‹.
»Der Stiefvater wollte mich nicht daheim, da gab mich die Mutter zu Verwandten aufs Land, zu zwei alten Jungfern. Sie waren beide bei der Heilsarmee, die Martha und die Erika, und ich mußte am Sonntag mit in die Versammlung gehen. Dann aber wurde die Erika krank, ich weiß nicht, ob Ihr das kennt, es war keine körperliche Krankheit, die Erika hat nicht mehr reden wollen und ist schweigsam im Haus herumgeschlichen. Einmal sind ein paar Weiber sie holen gekommen; es hat geheißen, sie habe sich im Walde aufhängen wollen. Dann hat die Mutter nicht gewollt, daß ich noch länger bei der Martha bleibe und ich bin zu einem Bauer gekommen als Verdingbub… Geißen hüten. Stall misten. Am Sonntag ging der Bauer ins Wirtshaus, und da er keine Kinder hatte, prügelte er mich, wenn er heimkam. Ich glaube«, ein leichtes Lächeln entstand um Ludwigs Mund, »der Bauer hätte ganz gern seine Frau verprügelt, aber die war stärker als er und so hat er sich hinter mich gemacht. Es ist nicht schön, Herr Studer, wenn man jeden Sonntag verprügelt wird und auch in der Woche, wenn man keine Freude hat das Jahr durch und die Mutter nicht einmal an Weihnachten kommt. Dann wurde ich zwölf Jahre alt. Ich hatte Hunger. Ich nahm da ein Stück Käse, dort ein Stück Fleisch – einfach weil ich Hunger hatte. Ich glaub', der Bauer hätte nichts gesagt – er war froh, daß jemand da war, den er prügeln konnte. Aber die Frau hat mich beim Gemeindepräsidenten angezeigt, ihr Geiz trieb sie dazu und so hat man mich in die Korrektionsanstalt versenkt. Das war auch nicht schön, Herr Studer, Ihr könnt mir's glauben. Später hab' ich viel Zeitungen gelesen und einmal habe ich eine Illustrierte gefunden, in der unsere Anstalt abgebildet war. In der Illustrierten haben wir ganz schön ausgesehen, aber viel Rechtes habe ich in der Anstalt nicht gelernt. Sie haben alle gesagt, die Meister und der Direktor, ich sei zu dumm und dabei bin ich wirklich nicht apartig dumm, Herr Studer… Ich weiß, ich mache Fehler beim Schreiben, aber schließlich, Fehler beim Schreiben zu machen ist doch keine Sünde, oder? So hab' ich im Landwirtschaftsbetrieb mithelfen müssen. Mir hat es gefallen. Die Tiere mag ich gern, die Kühe, die Geißen, die Rosse. Dann haben sie mich endlich entlassen und ich suchte mir eine Stelle. Glaubt mir, Herr Studer, ich wollte nicht hoch hinaus: Mein Löhnli haben und meine Arbeit, sonst nichts, aber dann bin ich krank geworden – im Winter einmal – und es hat sich auf die Lunge geschlagen. Ich hab' Blut gespuckt, war immer müd', schwitzte in der Nacht – da hat mich der Doktor in eine Heilstätte geschickt. Zwei Jahre lang! Und wie ich zurückkam, hatte ich alles verlernt. Bei einem Bauern versuchte ich zu arbeiten, der jagte mich nach zwei Tagen: ich könne ja nichts!
Da hat mich die Regierung nach Pfründisberg getan, in die Armenanstalt. Wißt Ihr, manchmal hab' ich gemeint, das sei ärger als Gefängnis. Der Direktor, vielmehr der Hausvater – er kann b'sunderbar guet Vorträg halte über Pau… Pau…«
»Pauperismus«, unterbrach Studer.
»Exakt! Pauperismus! Und dabei ist doch das einzige, was man hier lernt: Schnapsen…«
Es lag etwas Quälendes in dieser einfachen Art des Erzählens und Studer hatte ein weiches Herz. Er fühlte, wie Schweißperlen ihm über die Wangen rannen und gab dem überhitzten Öfeli die Schuld. Einen Augenblick nur – dann wußte er, daß es die Geschichte des Ludwig war, die ihm Wasser in das Gesicht trieb. »Geht es noch lang?« fragte er heiser. »Ich mein', deine Geschichte.«
»Nein, Herr Studer…« – Was doch der Bursche für eine sanfte Stimme hatte! – »Ich möcht' Euch nur noch die Geschichte von der Barbara erzählen. Die Barbara hinkte. Sonst sah sie dem Huldi ähnlich. Auch so ein großes Gesicht, wißt Ihr und so eine blasse Hautfarbe und so lange braune Zöpfe. Die Barbara war auch im Armenhaus, ich traf sie nur am Sonntag, da gingen wir zusammen im Wald spazieren und sie erzählte mir von daheim, wo sie es auch nicht schön gehabt hatte. An einem Sonntagabend begegneten wir auf dem Heimweg einer Wärterin und da sagte die Barbara, jetzt wolle sie nicht mehr heimgehen in die Anstalt, denn alle würden sie sonst föppeln, weil sie mit mir gegangen sei. Ich versuchte sie zu beruhigen, aber es war alles umsonst… und Ihr wißt ja, es gibt ein Sprichwort: Man muß die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat. Wie ich gesehen hab , daß die Barbara nicht mehr in die Anstalt zurück will, sind wir zusammen fort. Es war 6 Uhr abends. Am 3. Juni. Ich weiß das noch so gut, weil wir das Auto des Hausvaters trafen, aber er erkannte uns nicht, sondern fuhr an uns vorbei. Wir wanderten und wanderten. Manchmal konnte die Barbara nicht laufen, dann trug ich sie… Wir kamen in den Jura, in den welschen, und da waren die Bauern besser. Ich fand Arbeit, denn auf den Bergen fängt der Heuet erst Mitte Juli an. Immer ging ich zuerst mich allein vorstellen, arbeitete einen Tag und erzählte dann, meine Frau sei bei mir. Da sagten manche von den Bauern, ich solle sie nur bringen, sie könne im Hause helfen… Die Barbara war ein schaffiges Meitschi und manchmal blieben wir acht Tage am gleichen Orte…
Aber wir hatten keine Papiere und ohne Papiere seid Ihr verkauft auf dieser Welt. Nicht auf die Menschen schaut man und ob sie schaffen und ob sie ehrlich sind, man schaut darauf, daß sie ein braunes Büechli haben mit Photi, mit Stempeln und Unterschriften…
Und der Herbst ist gekommen; – er kommt schnell in den Bergen. Da haben wir's so gemacht: Sobald die Weiden schnittreif waren, hab' ich sie gesammelt und wir flochten Körbe, die Barbara und ich, und verkauften sie in den Dörfern. Gewöhnlich ging ich, denn die Barbara konnte ja nicht laufen. Sie blieb daheim… daheim! Eine Holzfällerhütte mitten im Wald… Den Sommer hindurch haben wir gespart, so konnten wir Kessel anschaffen und Decken für den Winter; Holz hatten wir genug und ganz nah an unserer Hütte floß ein Bach vorbei. Die Hütte war immer sauber und wir haben gelebt, Herr Studer, wie Mann und Frau.
Aber im Horner ist die Barbara krank geworden – und die Krankheit hab' ich gekannt. Sie hat geschwitzt in der Nacht, sie hat gehustet und Blut gespuckt. Ich hab' sie gepflegt, so gut ich's konnte; wir haben auf Tannenkries geschlafen, aber es hat alles nichts genützt. Ende April ist sie dann gestorben.
Wohin hätt' ich gehen sollen? Es war mir alles verleidet! So hab ich mir gedacht: du gehst nach Pfründisberg zurück. Ich hab' mich nicht beeilt, hier und dort geschafft und so ist es Juli geworden. Am 18. Juli bin ich in Pfründisberg angekommen; es war morgens sechs Uhr, und der erste Mensch, den ich traf, war's Huldi. Hab' ich Euch erzählt, daß die Barbara eine Schulkameradin vom Huldi war? 's Huldi nahm mich auf, gab mir zu essen, lief dann zum Hausvater wegen mir und legte beim Hungerlott ein gutes Wort ein für mich. Der Hausvater hat getobt. Er hat gebrüllt, er avisiere die Polizei, ich gehöre nicht mehr nach Pfründisberg, ich gehöre an einen andern Ort, wo es strenger zugehe. Aber während er so im Hofe Krach schlug, kam plötzlich ein Herr dazu. Sein schneeweißer Schnurrbart verdeckte seine Mundwinkel und er erkundigte sich auf Schriftdeutsch, warum es hier solch einen Lärm gebe… »Der Farny, der Lump, der verdammte, der uns durchgebrannt ist, kommt einfach wieder zurück!« – »Farny?« fragt der alte Herr und dann fängt er an, mit mir zu sprechen. Da stellt es sich heraus, daß dieser feine Herr mein Onkel ist, der Bruder von meiner Mutter. Da durfte der Hungerlott natürlich nichts mehr sagen. Mein Onkel hat mir eine Stelle verschafft im Thurgau, mir Reisegeld gegeben und ich bin fortgefahren…«
»Wär' ich doch nie fortgefahren!« seufzte das Knechtlein und rieb sich die Augen mit den Handballen.
Studer räusperte sich: »Und's Huldi?« fragte er.
»Ich habe Euch doch schon erklärt, Herr Studer, daß die Barbara mit dem Huldi in die gleiche Klasse gegangen ist…«
»Und nun ist also das Huldi dein Schatz?« wollte der Wachtmeister wissen.
Wieder stieg die Blutwelle von Hals über Kinn, Wangen, Schläfen in die Stirn, ganz verlegen murmelte das Knechtlein: »Der Onkel hätt' es nid ungärn gesehen, wenn wir geheiratet hätten.«
Der Wachtmeister stand auf, erhob seine breite Hand und ließ sie auf den Rücken des Ludwig niederfallen.
»Glücksbueb!« sagte er dann: »Es ist also abgemacht: Du hilfst mir bei der Aufklärung des Falles.«