Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Zweites Kapitel

Die Hetzjagd

Das Geschrei kommt von zwei Priestern – den Zwillingen – die am Felsrande stehen. Ihre eifrigen Geberden zeigen nach dem See.

Schon bildet sich eine große Gruppe, denn von allen Seiten stürzen die Priester hinzu. Auch der Hainkönig hat mitten auf den Stufen Halt gemacht und beeilt sich, ohne jedoch durch Laufschritte sich seiner Würde zu begeben, die Stelle zu erreichen, von wo aus man offenbar etwas Hochwichtiges beobachten kann.

»Auf der goldenen Galeere –«

»Jemand überbord –«

»Mehrere – drei –«

»Nein! schon sechs –«

»Ihn zu retten –«

»Nein doch! sie verfolgen ihn – er flieht.«

»Einige schwimmen dem Ufer zu.«

»Sie holen ihn nimmer ein.«

»Ein guter Schwimmer!«

»Er kommt auf uns zu –«

»Paßt auf! es geht um den goldenen Zweig!«

Solche Rufe schwirren durcheinander, als Rufus und der Centurio sich der wild aufgeregten Gruppe nähern.

Auf der smaragdenen Fläche des Dianaspiegels erscheinen in der Nähe der goldigen Terrassen der Galeere kleine glänzende Risse, wie breite Pfeilspitzen geformt – der vorderste, dem in einigem Abstand drei andere folgen, gleitet gerade auf die Zuschauer zu, die übrigen richten sich quer nach dem linken Ufer, das nur durch eine ziemlich schmale Wasserfläche von dem schwimmenden Palast getrennt ist.

Jetzt sind schon einige Schwimmer an dem felsigen Gestade angelangt. Winzige Gestalten schwingen sich an herabhängenden Baumzweigen in die Höhe oder klimmen an Wurzeln und über Gestein empor. Sie verschwinden im Gebüsch, zeigen sich wieder – vorwärts über Stock und Stein. Auch die letzten sind jetzt am Lande.

»Ob es ihnen wohl gelingt, ihn abzuschneiden?«

»Das ist eher möglich, als daß ihn die anderen einholen.«

Es sind die beiden Zwillinge, die ihre Meinungen austauschen.

Die Zuhörer stimmen lebhaft der Meinung des Hermes zu.

In höchster Spannung verfolgen die Priester die Jagd im und am See. Freilich auch mit sehr gemischten Gefühlen.

Der natürlichen, allgemein menschlichen Teilnahme für den von so vielen Verfolgten stellt sich der Eigennutz mit der Erwägung entgegen, daß es sich offenbar um einen Feind handele, um einen neuen Bewerber des Priestertums, der jedem von ihnen um so bedrohlicher ist, wie er sich jetzt tüchtig zeigt; denn wer so schwimmt, wird gewiß kein mäßiger Ringer sein!

»Ich wette fünf Denare gegen einen, daß sie ihn abschneiden,« ruft Hermes.

»Angenommen!«

Einstimmig von den beiden anwesenden Triumvirn.

»Ich wette zehn gegen einen, daß ihn die Schwimmer nicht einholen,« bietet Euripides Alter.

Aber niemand nimmt die Wette an.

»Um das zu prophezeien, braucht man kein Sterndeuter zu sein,« meint Briareos.

Der erste Schwimmer hat in der Tat schon mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich. Zwischen ihm und seinen beiden Verfolgern – (der dritte hat die Jagd schon aufgegeben) – wächst jetzt der Abstand fast zusehends mit jedem weitausholenden Ruderschlage seiner Arme. Bei einem solchen tauchen Schultern und Kopf hoch aus der Flut; zu beiden Seiten blitzt der Stahl einer Schwertklinge, die er im Munde hält. Wenn jedoch das vorgestreckte Händepaar das Wasser wie ein Bootsteven teilt, verschwindet das Gesicht völlig, und eine goldige Mähne fließt auf den Wellen, als ob ein Löwe durch den See schwämme.

»Der Flachskopf schwimmt wie eine Otter,« ruft der Neffe.

»Und wie ein Bär wird er ringen, denk' ich,« meint Rufus grimmig.

»Bei Zeus!« bricht Marcus aus, scharf unter der beschattenden Hand hinausspähend, – »das ist der Germane.«

»Segismundus? Der Geisel der Chatten?«

Verwundert blickt der Centurio sich um, als eine eifrige Hand bei dieser Frage seinen Arm ergreift.

Es ist der jugendliche Priester.

»So kennst du ihn, Priester?« fragt er zurück, seinerseits nun nicht weniger wißbegierig. »Wie ich höre, bist du erst gestern hier angekommen. Du hast den jungen Germanen in Rom gekannt? Was weißt du von ihm?«

»Ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nie gesehen. Wohl aber hörte ich viel von ihm. Ein gemeinsamer Bekannter wollte uns zu einem politischen Zweck sogar zusammenführen. Bist du aber auch sicher, daß er es ist?«

»Kein anderer. Niemand sonst am Bord der Galeere hat solches Haar.«

»Was kann aber geschehen sein, daß er flüchten und um sein Leben schwimmen muß? Hast du nichts bemerkt, was dies erklären könnte? Er muß sich schwer vergangen oder sich mächtige Feindschaft zugezogen haben.«

Der Centurio schüttelt den Kopf.

»Es ist mir ein völliges Rätsel. Ich war täglich in Sejanus' Gefolge mit ihm zusammen, von Rom bis nach Campanien und von dort hierher zurück. Ein prächtiger Jüngling mit offenem vertrauenerweckendem Wesen; und was mächtige Feindschaften betrifft, so war es deutlich zu merken, daß er bei Sejanus hoch in Gunst stand. Auf dem Rückweg aber schien er sich das Wohlwollen des Princeps erworben zu haben, dem er auch noch heute mit einer Landsmännin vorgesungen hat. Es muß sich in der Tat etwas völlig Überraschendes ereignet haben.«

»Wir werden das wohl aus seinem eigenen Mund erfahren,« bemerkt Rufus.

»Ja, er kommt gewiß hierher,« sagt Telemachos mit leichtem Schaudern.

Seit der Centurio die Selbsteinladung des Tiberius überbracht hat, zweifelt der junge Priester kaum noch, daß er hier die Bekanntschaft mit dem jungen Germanen anknüpfen soll, was in Rom durch seine Flucht verhindert wurde – ein Zusammentreffen und Sichkreuzen der Umstände, das ihm sehr rätselhaft und bedeutungsvoll erscheint. Und jetzt geschieht es sogar früher, als er erwartet hatte, und noch dazu auf eine unheimlich drohende Weise. Kaum hat er sein Leben gerettet und die schützende Priesterschaft erworben, so scheint beides wieder in Frage gestellt zu werden. Gewinnt der Germanenjüngling den goldenen Zweig so kann ihn selbst ja schon heute das unbarmherzige Los so gut wie jeden anderen der Zwölfe treffen – und diesem Gegner aus dem sagenhaften Waldnebel Germaniens ist er nicht gewachsen!

»Gewonnen!« ruft der Neffe.

»Her mit den fünf Denaren!« fügt Lepidus hinzu.

Denn der hellhaarige Schwimmer schwingt sich jetzt an einer langen Kieferwurzel auf den äußersten Felsblock des Ufers empor. Mit ein paar kräftigen Schwerthieben trennt er die Wurzel vom Stamme; dann schüttelt er seine nasse Mähne, wie ein großer Hund nach einem Bad, und fängt an, bergauf zu klimmen und zu springen.

»Abwarten!« entgegnet Hermes und späht mit dem Fieberblick des Spielers nach links hinaus, wo sein altes Diebesauge zwischen Gestein und Gebüsch ein paar herannahende Gestalten entdeckt.

Im dicken Geflecht der Stämme und Zweige des Olivenhaines, der über den steilen Abhang zwischen zerstreuten Felsblöcken hinabsteigt, sind nur seltene, teilweise und unsichere Schimmereindrücke des Germanen zu erhaschen; bis er endlich, über einen schräg hinaushängenden Ölbaum sich emporschwingend, auf einer ebenen Felsplatte steht, die sich nur einen Steinwurf entfernt und etwa dreißig Fuß unter dem Standpunkte der Priester befindet.

Ein wild-schöner Anblick wie der eines gehetzten aus dem Dickicht hervorbrechenden Hirsches.

Die durchnäßte, sich eng anschmiegende Tunica läßt jede Form der mächtigen Schultern und der breiten Brust deutlich erkennen. Da er beim Erklimmen der steilen Berghalde alle Augenblicke beide Hände gebraucht hat, steckt ihm das kurze Schwert noch im Munde: links von der elfenbeinernen Zahnreihe die in den Sonnenstrahlen blitzende Klinge, rechts das glitzernde Goldheft. Der kurze hellbraune Schnurrbart, der die Oberlippe beschattet, und die goldige, in nasser Schwere über die Schultern zurückflutende Haarmasse vollenden das fremdartige Aussehen und den Eindruck des Barbaren. Brust und Bauchmuskeln arbeiten gewaltsam, die Augen rollen.

Er wirft einen Blick nach unten, wo seine Verfolger erst jetzt das Gestade erreichen, aber – dank seiner Besonnenheit – nicht denselben leichten Aufstieg über die beinahe senkrechten glatten Steine finden, der seine Flucht begünstigte.

Dann beugt er sich vor, während seine beschatteten Augen den zu seiner Rechten aufsteigenden Bergwald durchspähen.

In diesem haben jetzt nicht nur Hermes sondern auch die Gegenwettenden einige Verfolger entdeckt, von denen der eine schon in gefährlicher Nähe ist: ein großer Mann, einen Wurfspeer in der Faust, das kurze Schwert unter den rechten Arm gehängt; in Tunica, selbstverständlich ohne Toga – offenbar ein Prätorianer, und, wie es scheint, kein Gemeiner; denn Scheide und Griff des Schwertes sind reich verziert und der Gürtel aus Silber – was deutlich zu sehen ist, als er jetzt, sich hinter einem Baumstamm versteckend, regungslos dasteht.

Aber der Germane hat ihn schon entdeckt. Mit schnellen Blicken schätzt er den Abstand, der ihn vom Gipfel, und den, der ihn vom Feinde trennt, und errät die Richtung des Pfades, dem dieser zu folgen hat.

Kurz entschlossen reißt er das Schwert aus dem Mund. Er duckt sich tief und geht in langen, unregelmäßigen Sprüngen zum Angriffe vor.

Mit erhobenem Speer erwartet ihn der Prätorianer.

In diesem Gewirr von Ästen und Stämmen ist schlecht zielen auf einen beweglichen Gegner, der von den Kinderspielen her an alle Schliche eines Waldkampfes gewöhnt ist. Mehrmals holt der Prätorianer zum Wurfe aus und gibt es wieder auf, bis der Feind schon in bedrohlicher Nähe ist.

Endlich blitzt der Speer durch die Luft. Er bleibt zitternd in einem Ölbaum stecken, während der Germane zur Seite springt. Was jetzt geschieht, geht so gedankenschnell vor sich, daß die Zuschauer kaum wissen, was sie gesehen haben, als der Prätorianer mit einem lauten Schrei sich am Boden wälzt, die Brust der Tunica vom hervorquellenden Blute gerötet.

Zwei seiner Kameraden erscheinen in diesem Augenblick auf dem Kampfplatze. Der eine stürzt im Hervorspringen über eine Wurzel. Der andere kommt zum Wurf. Der Speer, von schwankenden Zweigen abgelenkt, fällt matt viele Schritte hinter dem Flüchtling zu Boden.

Die lange atemlose Spannung will sich Luft machen. Natürliches Mitgefühl mit männlichem Geschick, das vom Glück gekrönt wird, siegt über den Eigennutz. Ein schallender Heilruf begrüßt den Germanenjüngling, als dieser sich auf die Felsplatte des Tempelvorplatzes heraufschwingt und im nächsten Nu innerhalb der Einhegung auf der hohen Wurzel des Ölbaumes steht, den goldenen Zweig in der Hand.

Dann freilich durchschauert jeden – Rufus allein ausgenommen – das bange Gefühl: »welch ein Gegner!«

Hermes aber wendet sich kaltblütig an die Triumvirn.

»Bitte um zwei Denare. Abgeschnitten hat der Prätorianer ihn schon. Habe ich etwa gewettet, daß er ihn auch zur Strecke bringen würde?«


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