Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Neuntes Kapitel

Vom Tode des großen Pan

»Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen« – wiederholt Rufus. Er steht, in tiefe Gedanken versunken, an das Fußstück der Tiberiusstatue gelehnt.

Daß ein Gottessohn und ein Gott eines gewaltsamen Opfertodes stürbe, ist ihm keineswegs ein unerhörter Gedanke. War nicht Osiris ebenso gestorben? Und Dionysos und Attis und Adonis? Widerhallte nicht ganz Westasien im Frühjahr von dem Linos-Liede, von Jammer und Klage über den gestorbenen Gott und vom Jubel über seine Auferstehung – alljährlich, wenn der Adonisfluß zwischen seinen anemonenblühenden Ufern sein Wasser in Blut verwandelte, vom waldigen Libanon herströmend, wo das Wildschwein den jugendschönen Gott getötet hatte? Und wer hätte nicht von dem syrischen Byblos gehört mit seinem wundervollen Terrassen-Tempel, in dessen Kuppelhalle bei dem Priesterumzuge die Gestalt des Gottes sich von der goldenen Tragbahre erhob und unter Flöten- und Cymbelklängen emporschwebend in den Weihrauchwolken der Wölbung himmelwärts verschwand?

Dieser neue Gottessohn Jesus, der Retter, der Heiland – reihte er sich nicht jenen sterbenden Gottheiten an? Obwohl von unvergleichlich höherer Art! Nicht umsonst ähnelte er ja Phidias' Zeus, wie der Sohn dem Vater, dem obersten Gott, und zwar nicht dem Himmelsgott des Volksglaubens, sondern jenem Zeus, von dem das »alte Wort« sagt: –

›Zeus ist Anfang und Mitte, in ihm ist alles beschlossen.‹

›Tod und Auferstehung‹ – das war ja das Doppelzeichen, in dem alle diese Gottheiten des Osiristypus kreisten. Zweifelsohne war auch dieser Jesus auferstanden. Aber wiederum nicht wie jene. Denn diese Frühlingsgötter gaben ja ihr Leben dahin, um die Natur zu beleben, um ihr ihre eigenen Kräfte einzuflößen, mit ihrem Blut Flüße und Bäche zu schwellen, mit ihrem Leib die Erde zu befruchten. Sie erstehen sichtbar in Laub und Blumen und Früchten, und so mochten denn auch die Priester ihr Bildnis zur Erbauung der Menge sichtbar gen Himmel aufsteigen lassen. Dieser jedoch hatte seinen Leib als heilige Nahrung des Geistes dargebracht, sein Blut zur Tilgung der Sündenschuld der Menschheit vergossen. Ihm ziemte es, unsichtbar aufzuerstehen und sich mit dem göttlichen Urvater zu vereinigen.

Kein Wunder also, wenn Marcus nur von seinem Tode, nicht aber von seiner Auferstehung zu berichten wußte.

Wenn nicht – – ! Ja, wie war es – – ?

Seine nervige Hand legt sich über die zusammengezogenen Brauen.

Langsam erhebt sich sein Blick, der bis jetzt am Mosaikmuster des Fußbodens haftete, und klammert sich unwillkürlich, wie hilfesuchend, an das wettergebräunte Gesicht des Schwagers.

Plötzlich flammt im klaren Auge des Alten ein freudiger Funke.

»Du sagst doch, Marcus, du hättest noch etwas erlebt – etwas, was sogar die meisten für noch wundervoller halten würden, als das, wovon du mir erzählt und wodurch du mich so sehr erschüttert hast.«

»Nicht nur das, Titus, sondern ich denke, fast alle würden erst dies als ein wirkliches und unzweifelhaftes Wunder ansehen. In dem anderen würden sie eben nur den Tod eines am Kreuze gestorbenen Menschen erkennen. Vielleicht eines unschuldigen, wohl gar eines edlen und auch bedeutenden Mannes, aber auch nicht mehr. Denn auch die Finsternis, der Donner und die Erschütterung der Erde ließen allenfalls eine natürliche Erklärung zu, wonach ja unsere Epikuräer gewiß nicht lange suchen würden. Dieser zweite Göttertod dagegen – –«

»Ah! es handelte sich um einen Göttertod?«

Etwas wie Enttäuschung klingt aus diesem Ausruf des Alten.

»Um nichts Geringeres, Titus. Und das ereignete sich während meiner Reise. Das Schiff, womit ich von Cäsarea segelte, wurde durch stürmisches Wetter nordwärts verschlagen und mußte wegen der erlittenen Beschädigung in den Piräus einlaufen. Hier entschloß ich mich, es zu verlassen und auf gut Glück den Landweg nach Korinth einzuschlagen, wo ich dann auch glücklich ein Handelsschiff vorfand, das sich gerade zur Fahrt nach Brundisium vorbereitete. Mehrere Reisende benutzten wie ich diese Gelegenheit zur Überfahrt nach Italien, unter anderen ein alter Schulmeister. Mit diesem unterhielt ich mich lange, während wir die schöne Korinthische Meeresbucht durchsegelten. Helikon und Parnaß zur Rechten, zur Linken Akrokorinth mit seiner schimmernden Tempelkrone und das über Arkadiens Terrassen sich hinlagernde schneegipfelige Kyllene – lauter Götterberge, die uns viel Stoff zum Gespräche boten. Denn der Schulmeister war sehr bewandert in göttlichen Dingen, so daß es eine Lust und reiche Belehrung war, seinen Worten zu lauschen.

Es war spät geworden, als wir die offene See gewannen. Niemand dachte aber daran, sein Lager aufzusuchen, so schön war die Nacht. Eine leichte Wolkendecke verbarg den Mond, aber sein Licht verbreitete sich hell über die sanftwogende Meeresfläche. Ernst und geheimnisvoll tauchten rings die felsigen Schattenrisse der Echinadischen Inseln hervor. Der Wind, der rechts von achtern stand, flaute ab, so daß die Segel gegen die Masten schlugen, zum großen Verdrusse des Schiffers, der schon davon sprach, zu den Rudern greifen zu müssen, da die Strömung uns unter die hohe Küste der Insel Naxae trieb.

Man hatte sich auf dem Verdeck beim Wein versammelt, heitere Erzählungen und Späße wechselten ab mit Lachen, Saitenspiel und Gesang.

Mir sagte dies laute Wesen nicht sehr zu. Mein Erlebnis in Jerusalem, das mir ohnedies nie lange aus dem Sinn kam, war durch das Gespräch mit dem Schulmeister noch lebendiger geworden. Ich dachte an Jesus, wo sein Geist wohl jetzt weile und ob er mein gedenke, denn er hatte mich des öfteren, noch während er am Kreuze hing, mit seinem tiefen Blick angesehen.

Dem Schulmeister mochte die lustige Geselligkeit auch nicht recht zusagen, denn er verließ die anderen und setzte sich zu mir. Gar zu gern hätte ich nun diesem frommen und gelehrten Griechen jenes Erlebnis mitgeteilt; ich hielt mich aber nicht für berechtigt, auch nur das Geringste davon zu sagen, bevor ich nicht vor Tiberius selber stand.

Während ich nun dies erwog, klang durch die stille Nachtluft ein Ruf – ein Name: Thamus!

Wir waren unweit der Felsenküste, gerade da wo eine tiefe Waldschlucht ausmündete. Aus dieser schien der Ruf zu erschallen.

Alle an Bord hatten ihn gehört. Gespräche und Saitenspiel verstummten. Auch die Schiffsleute, die gerade die Segel anders richteten, um zu versuchen noch einen Windhauch aufzufangen, stellten ihre geräuschvolle Arbeit ein. Alle lauschten.

Zum zweitenmal klang es aus der Waldkluft laut herüber: Thamus!

Alle waren aufgesprungen. Die höchste Verwunderung, ja der größte Schreck bemächtigten sich der Gemüter. Man sah einander an, man fragte – jedoch nur mit gedämpfter Stimme – was dies wohl bedeuten möge? Ob jemand hier diesen sonderbar klingenden Namen trüge? Die Reisenden kannten einander schon beim Namen, aber auch von den Seeleuten schien keiner so zu heißen, denn niemand gab Antwort.

Als aber der Name zum dritten Mal und noch gebieterischer herüberklang, da kam vom Heck des Schiffes ein langer hagerer Mann gegangen. Es war der Steuermann, den ich schon früher bemerkt hatte und von dem mir der Schiffer gesagt hatte, daß er Ägypter sei und daß er das Ruder sehr geschickt führen könne.

Er trat in den Stern des Schiffes, der landwärts gerichtet war, hielt die Höhlung der Hände vor den Mund und rief hinein:

›Hier bin ich, Thamus. Wer ruft mir?‹

Alsdann kam die Antwort noch machtvoller zurück:

›Wenn du nach Palodes kommst, dann verkünde dort, daß der große Pan gestorben ist.‹

Dann trat völlige Stille ein.

Nur das Knarren der Rahen und das Klatschen der sich blähenden und straff gezogenen Segel ließ sich hören, und die Befehle des Schiffsherrn und die Rufe der Seeleute mischten sich darein, denn der Wind frischte wieder.

Nun erhob sich ein lebhafter Streit unter uns Reisenden, ob man gut täte, diese Botschaft auszurichten. Es fehlte nicht an Leuten, die der Meinung waren, jemand habe sich einen unziemlichen Spaß mit uns erlaubt, und man würde sich nur lächerlich machen, wenn man eine so unsinnige Botschaft brächte und wohl gar zu solchem Zweck es unterließe, die günstige Brise auszunutzen. Diese letzte Rücksicht sprach beim Schiffsherrn sehr mit. Ich aber warnte ihn dringend vor den ernsten Folgen, die die Vernachlässigung eines solchen Göttergebotes nach sich ziehen könnte, und der wackere Schulmeister unterstützte mich so beredt, daß der Schiffer uns wenigstens versprach, falls der Wind nicht zu günstig wäre, Palodes anzulaufen.

Es war um Mitternacht, als wir uns diesem Hafen näherten, und siehe, völlige Windstille trat ein. Die Stadt mit ihren Tempeln lag deutlich sichtbar vor uns, und so still, als ob sie ausgestorben wäre. Kein Laut fern und nah, außer dem sachten Geräusch des Wassers am Buge. Da stand nun der Steuermann wieder im Stern und rief durch die hohlen Hände hinein: –

›Höret was ich, Thamus der Ägypter, göttlichem Befehl gehorchend, euch kündige: Der große Pan ist gestorben!‹

Kaum aber hatte das Echo die letzten Worte zurückgebracht, da erhob sich auf der Insel ein Geschrei und Jammern, als ob eine unzählbare Menge in Trauerklagen ausgebrochen wäre. Diese erschütternden Laute erreichten uns noch, als wir uns mit vielem Knarren der Rahen und Geräusch der Segel von der Küste entfernten, denn ein frischer Landwind setzte sofort ein, und wir hatten von diesem Augenblick an eine überaus glückliche Fahrt.

Der Schulmeister folgte mir nach Rom, wo ihn schon eine Botschaft des Tiberius erreicht haben wird, die ihm verbietet, die Stadt zu verlassen, bevor er nicht mit dem Princeps gesprochen habe. Ebenso ist Thamus aus Brundisium, wo das Schiff noch im Hafen liegen dürfte, hierher befohlen worden. Denn Tiberius will alles, was diese wichtige Sache betrifft, aufs genaueste feststellen. Wundern sollte es mich nicht, wenn Pilatus herübergerufen würde, denn meine beiden Berichte versetzten den Princeps in großes Staunen und beschäftigten ihn dauernd; ja mir schien, daß er sie irgendwie in geheime Verbindung setze oder auch eine solche rätselhafte Verbindung suche.

Das mag nun allerdings auch davon herrühren, daß ich dies von Anfang an selber getan habe, so wenig es auch meinem bißchen Soldatenverstand gelingen wollte, einen solchen Zusammenhang herauszufinden.

Ich blieb in der Tat auf dem Verdeck, als wir von dannen segelten, und hing solchen für mich viel zu tiefen Gedanken nach. Auch der Schulmeister konnte nicht schlafen und gesellte sich zu mir. Noch mehr als je zuvor bedauerte ich jetzt, ihm nichts von Jesus und seinem Kreuzestod sagen zu dürfen. Doch hoffte ich, daß auch so seine fromme und gelehrte Rede die sich natürlich von selber auf das, was wir soeben gemeinsam erlebt hatten, richtete, für die Lösung jenes Rätsels nicht ganz ohne Förderung bleiben würde.

Er sprach von den Klagen über den gestorbenen Adonis, die ja auch ungefähr zu dieser Zeit durch ganz Westasien widerhallten, geradeso wie wir jetzt die Wehklage über Pan vernommen hatten; nur daß es freilich dort Menschen sind, die jammern, hier aber, wie wir ja alle wußten, göttliche Wesen und Naturgeister – ein Unterschied von furchtbarer Bedeutsamkeit.

›Du hast ja,‹ sagte er, ›im Lande der Juden gelebt, und so weißt du wohl, daß sie und die östlichen Völker Adonis ›Thammuz‹ nennen?‹

Ich bejahte das, denn ich hatte sogar selber im vorigen Jahre zu Bethlehem, einer kleinen Stadt nicht weit von Jerusalem, nach der ich wegen einiger Unruhen hingeschickt worden war, die Thammuzklage bei der dortigen Adonisgrotte gehört. Erst jetzt aber fiel es mir ein, daß unser ägyptischer Steuermann denselben Namen trug.

›Und ohne Zweifel,‹ sagte der Schulmeister, ›ist das auch der Grund, warum gerade er dazu auserkoren wurde. Denn ein großes Geheimnis und eine mächtige magische Kraft ruht wie in den Zahlen so auch in den Namen, die recht eigentlich die Siegel der Dinge sind. Wie begreiflich, daß es gleichsam Adonis selber sein mußte – Adonis-Osiris können wir sagen, denn der Mann kommt ja aus Ägypten, – der der Welt diese schreckliche Botschaft brachte. Aber merke dir folgendes, mein Sohn: daß Adonis-Osiris alljährlich dahinstirbt und wieder aufersteht, das ist verständlich, ja kann nicht anders sein. Denn er ist der Gott des Pflanzenlebens, dessen ganzes Sein ein ewiges Werden, ein fortwährend auf- und abwogendes Entstehen und Vergehen ist. Da mag denn sein Tod von den Menschen durch Klagelieder gefeiert werden, in deren Jammergeschrei sich schon das Aufjauchzen sicherer Hoffnung verbirgt. Der Tod des großen Pan ist jedoch etwas so Entsetzliches, daß darob wohl auch die Götter in Wehrufe und schluchzende Klagen ausbrechen mögen, wie wir soeben hörten. Ja, mir will es scheinen, als ob ein schon nahe bevorstehendes Weltende, das Vergehen dieser alten Erde in vernichtendem Feuer, wovon viele tiefe und fromme Geister schon längst gesprochen haben, sich uns in dieser Nacht angekündigt habe.‹

Ich sagte ihm, daß ich von solchen Erwartungen besonders viel im Judenlande gehört hätte, wo sie in derartigen wilden Prophezeiungen stark wären. Ja, ich wagte hinzuzufügen, daß wenn nicht ein Gelübde meine Lippen versiegelte, ich ihm von einem ähnlichen, noch ganz kürzlich stattgefundenen Erlebnis erzählen könnte, bei dem ich selber das Gefühl gehabt hätte, nun müsse der Himmel sich öffnen und diese ungerechte Erde in seinem Flammenzorn vertilgen.

Der alte Schulmeister nickte nachdenklich, viel zu feinfühlend, um einen Versuch zu machen, mir mein Geheimnis zu entlocken.

›Ja ja,‹ sagte er, ›es mag wohl sein, daß diese Erwartungen wieder aufleben. Aber du bist zu jung, um die Zeit ihrer allgemeinen Blüte erlebt zu haben. Ja, das bin sogar ich selber, trotz meiner grauen Haare. Ich war noch ein Kind, als die ewigen Bürgerkriege zwar ihrem Abschluß sich näherten, aber ein Ende des Mordens und der Schrecken noch nicht zu erblicken war; trotzdem erinnere ich mich wohl – und der Eindruck ist mir unauslöschlich geblieben – wie die Leute den Weltbrand erwarteten und sich allerlei Himmelszeichen und sonstige Vorbedeutungen erzählten, die das Ende aller Dinge ankündigten. Als nun aber Augustus den Janustempel schloß und uns den Frieden auf Erden brachte, da sahen ja die meisten den Weltheiland in ihm und fingen an, sich dem Leben und der Hoffnung zuzuwenden. Ich aber habe es nie so ganz auf diese Weise betrachten können, mein Sohn! Denn ich sah nicht, daß die Menschen besser wurden, weil ihnen die Waffen genommen waren, so wenig wie ein Wolf besser wird, weil man ihm die Klauen beschneidet und einen Maulkorb anlegt. Sondern diese Übel liegen tiefer, als daß siegreiche Feldherrn und kluge Staatsmänner sie beheben könnten.‹

Unter solchen Gesprächen war die kurze Nacht verflossen. Beim aufsteigenden Morgengrauen bemerkten wir, daß an Backbord ein paar Inseln uns ganz nahe lagen. Ein großer runder Felsen erhob sich dunkel aus den mattleuchtenden flachen Dünungen. Dahinter zeigte sich blässer ein längerer Bergbogen.

Plötzlich ergriff mich der Schulmeister am Arm.

›Ihr Götter!‹ rief er, ›sollte denn dies nicht Ithaka sein?‹

Ein Bootsmann, der mit einem Eimer an uns vorbeiging, nickte und zeigte hinüber.

›Ithaka.‹

›Ist das alles Ithaka, oder gehört der hintere Berg zu einer anderen Insel?‹ fragte der Schulmeister.

›Ithaka. Alles Ithaka‹ antwortete der Mann und ging wieder dem Heck zu.

Lange standen wir schweigend da, in den Anblick dieses verzauberten Eilands versunken.

›Wußte ich doch,‹ sprach dann der Schulmeister, ›daß wir nahe an Ithaka vorüberkommen mußten, wenn uns nicht ungünstige Winde ganz aus unserer Richtung vertrieben. Ich hatte mir selber geschworen, wie müde ich auch sei, kein Auge zu schließen, bis ich nicht die geheiligte Insel gesehen hätte. Und nun war mir dies doch durch jenes Erlebnis gänzlich aus der Erinnerung geschwunden, bis sich Ithaka selber zur rechten Zeit unseren Blicken zeigt. Und wie sehr habe ich unrecht gehabt, sie über Naxae zu vergessen! Mag auch Pan gestorben sein, Homer lebt, und wenn uns die ganze Götterwelt verließe, die göttliche Dichtung bleibt uns, solange wir atmen.‹

Die Gestalt der Insel hatte sich nach und nach verändert. Sie lag langgestreckt auf der See da, zwei bogenförmige Felsberge, durch eine tiefe, meerberührende Einsenkung getrennt. Die Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten die beiden Gipfel.

›Sieh da!‹ rief der Schulmeister, ›erhebt sie sich nicht dort wie aus dem Meere der Ewigkeit, gleich einem Denkmal der Homerischen Dichtung, von der rosenfingerigen Eos zur Unsterblichkeit geweiht! Ein sinnfälliges Denkmal fürwahr: denn ist sie nicht anzusehen wie ein versteinerter Hexameter – jene rhythmische Doppelwelle mit der trennenden Cäsur in der Mitte? Aber ein gar sonderbarer Gedanke – oder soll ich es Ahnung nennen? – regt sich bei diesem Anblick in meinem Herzen. Wer weiß, ob es nicht geschehen mag, mein Sohn, wenn diese Welt doch zu einem langen Leben bestimmt sein sollte, daß einst späte Geschlechter wie wir auf dem Schiffsdeck stehen werden und mit denselben Gedanken nach jenem Inselbild hinüberblicken; der große Pan jedoch – ja nicht bloß er, sondern die ganze Olympische Götterwelt würde ihnen nur bekannt sein durch jene Homerische Dichtung, um deretwillen sie dieses Eiland verehren; sonst aber ist sie längst wie ein Traumbild verblichen, und eine neue Religion höherer Art hat ihre Stelle eingenommen.‹

Bei diesen denkwürdigen Worten regte sich nun auch in meinem Herzen ein ›gar sonderbarer Gedanke‹, den für eine Ahnung zu halten ich nicht wenig versucht bin: – der nämlich, ob ich vielleicht gar selber an der Geburtsstätte dieser neuen Religion gestanden habe. So fühlte ich mich zwar durch dies Gespräch gefördert; jene gesuchte Verbindung meiner beiden großen Erlebnisse hatte ich jedoch nicht gefunden.«

»Und doch ist sie da, o Marcus, und ihr habt sie berührt. Du hast mir von dem Tode des Gottessohnes gesprochen, aber von Tod und Auferstehung des Adonis. Nun denn, der Tod des großen Pan – das ist die Auferstehung deines Jesu. Sieh dich um hier in diesem heiligen Haine. Welchen Gottheiten sind hier Altäre geweiht? Der Diana, dem Baumgott Virbius, der Nymphe Egeria, deren Gebirgsbach sich wie ein Schaumschleier in den See senkt; Äsculapius, der die Heilkräuter sprießen läßt, Hyacinthus, Faunus, Bacchus, Ceres, Priapus und noch anderen – einer großen Dienerschaft des großen Pan, die samt und sonders seines Todes stirbt. Jedoch nicht sie allein, sondern auch Neptunus und Amphitrite und Äolus – alles das ist der große Pan. So haben wir die Natur vergöttert. Sie wird jetzt entgöttert, damit nur ein Geistesgott die Herzen und Gemüter der Menschen zu ihrem Heil beherrschen möge – das ist die Auferstehung jenes Gottessohnes, und deshalb hattest du recht, als du seine Todesstätte eine Geburtsstätte nanntest.«

»O Titus!« ruft Marcus, indem er aufspringt und die Hand des Greises ergreift, »du sagtest vorher, dir sei nicht priesterhaft zumute. Und doch stehst du jetzt als wahrer gotterfüllter Priester vor mir.«


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