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Herr von Schaller glitt wie ein Pfeil über die Straße hinüber und in seine Wohnung. Die Thür stand offen, da das Mädchen gerade Wasser holte, und der Baron wollte eben in sein eigenes Zimmer hineinfahren, als ihn seine Gattin bemerkte und ihm entgegenrief: »Denke Dir nur, Theodor, bei Solbergs ist heute abgesagt!«
»Merkwürdig,« sagte Schaller, indem er stehen blieb und seine Gattin ansah, »das ist rasch gegangen! Wir werden es aber mit unserem nächsten Feste ebenso machen, mein Herzblatt, und jetzt sei so gut und packe, was Du mitzunehmen gedenkst, besonders das Silberzeug und Deinen Schmuck, so rasch als irgend möglich ein und schicke es als Depositum auf den Bahnhof.«
»Bist Du verrückt geworden?« sagte seine zärtliche Gattin, indem sie aber doch einen scheuen Blick zu ihm hinaufwarf, denn es lag etwas in dem hellgrauen Auge desselben, das ihr nicht gefiel.
»Nein, mein süßer Schatz, noch nicht,« erwiderte dieser, »zeige jedoch Anlage dazu, denn – der Teufel ist zu bezahlen und kein Pech heiß!«
»Ist etwas vorgefallen?« rief die gnädige Frau, die bilderreiche Sprache des Gatten dahin deutend.
»Ja, meine Holde,« sagte Herr von Schaller, »Rauten heirathet Franziska nicht, die Polizei hat ihn, und Solberg behält sein Geld; genügt Dir das vielleicht als Neuigkeit?«
»Und habe ich Dir nicht immer gesagt, Vater, daß Rauten ein gefährlicher und böser Mensch sei?« rief Kathinka, die in der Thür gestanden und die Worte gehört hatte; »aber Du wußtest es selber,« setzte sie mit leiser, doch fast drohend klingender Stimme hinzu, »und Du wolltest nicht hören.« »Wußte was?« rief Schaller, sich rasch nach ihr umdrehend – »albernes Geschwätz! Packt jetzt Euren Plunder zusammen und macht, daß Ihr fertig werdet. Ich selber werde Euch auf der nächsten Station in Ohsheim erwarten.«
»Aber das ist ja nicht möglich,« rief Frau von Schaller erschreckt, »wir Frauen können das nicht allein besorgen!«
»Ich werde Dir helfen, Mutter,« sagte Kathinka ruhig; »aber verlangt nicht von mir, daß ich Euch auch dieses Mal wieder begleite. Ich bleibe hier.«
»Bist Du jetzt auch verrückt geworden?« schrie der Baron, der eben in sein Zimmer wollte und jetzt rasch auf den Hacken herumfuhr. »Du bleibst hier? Wo? In dem Logis? Kannst Du die Miethe dafür bezahlen?«
»Ich werde nicht hier in die Stadt bleiben, Vater,« sagte das junge Mädchen, das, wenn auch bleich geworden, doch fest entschlossen schien, »wir sind hier zu bekannt geworden, und ich möchte den Hohn böswilliger Menschen nicht auf mich lenken; aber ich ziehe in die nächste größere Stadt.«
»Und was wollen das gnädige Fräulein da machen?« fragte Schaller, vor Grimm innerlich kochend, aber äußerlich mit spöttischer devotester Höflichkeit; »vielleicht von den Renten Ihres Herrn Vaters leben?«
»Verzeihe Dir Gott, Vater,« sagte Kathinka ernst, »von was wir die letzten Jahre schon gelebt haben und mit äußerem Prunk das Elend übertünchen mußten, in dem wir uns befanden. Nein, von meiner Hände Arbeit will ich leben, wie es jenes brave, wackere Mädchen thut, die drüben in einer Dachstube der Apotheke wohnt. Ich habe schon mit ihr gesprochen, und sie hat mir treue, ehrliche Rathschläge gegeben, offen aus dem Herzen heraus und nicht von Lug und Trug in dem ich jetzt die langen Jahre gelebt.«
»Aber, Kathinka,« rief die Mutter erschreckt, »das kann doch um Gottes willen nicht Dein Ernst sein!«
»Unsinn!« sagte Schaller, der ihr einen mürrischen Blick zuwarf; »laß das alberne Ding doch reden, wer weiß denn, was ihr durch den Kopf gefahren ist. Packt Euren Kram zusammen, und wenn Ihr einen guten Rath annehmen wollt, so macht, daß Ihr damit zu Stande kommt, oder die ganze Mühe wird Euch vielleicht erspart« – und die Thür hinter sich zuschlagend, trat er in sein Zimmer.
Die gnädige Frau ging scharf an die Arbeit. Sie wußte vielleicht schon selber manches früher Vorgefallene und konnte sich deshalb weitere Fragen über die Ursachen dieses plötzlichen Umsturzes ersparen. Uebrigens hatte sie dem Mädchen strengen Befehl gegeben, keinen Besuch herein zu führen, sie wären einfach nicht zu Hause, und fing dann ebenfalls an, in ihrem eigenen Zimmer zu kramen und zu packen.
Auch Kathinka war in ihr Zimmer gegangen, das Herz aber zum Zerspringen voll, und auf ihr kleines Sopha warf sie sich dort, während heiße Thränen ihren Augen entströmten. Das erst brachte ihr Linderung; sie hatte schon lange das Bedürfniß empfunden, sich einmal ordentlich auszuweinen, jetzt war ihr wohl und das Herz leichter geworden, und auch der von ihr fest beschlossene Schritt erschien ihr nicht mehr in einer so düstern Färbung wie bisher.
Sie wollte allein in das Leben hinaustreten. Ja! Aber hatte sie nicht bis jetzt schon immer allein gestanden, allein und verlassen in der großen, weiten Welt? Wohl hatten Viele versucht, sich ihr zu nähern; aber durfte sie, mit dem brennenden Gefühl für Ehre, das sie besaß, und mit den Verhältnissen ihrer Eltern leider zu genau bekannt, gewissermaßen unter dem falschen ausgestreuten Glanz ihres Vaters, einen Betrug begehen und gerade die, die ihr vertrauensvoll nahten, täuschen? – Nie hätte sie das gethan, und jeder Bewerbung um ihre Hand, ja nur jeder Annäherung, die vielleicht dahin führen konnte, setzte sie ein so kaltes, schroffes Benehmen entgegen, daß die jungen Leute nicht wagten, sich der Gewißheit eines Korbes auszusetzen.
Und welche heftige Scenen hatte sie deshalb schon mit ihrem Vater gehabt! Wie roh war der sonst so geschmeidige und höfliche, jede Form beachtende Herr von Schaller gegen sein einziges Kind da aufgetreten! Aber sie ertrug alles still und in sich selber, und nur das Gefühl ihres Elends blieb ihr die ganze Zeit.
Jetzt sollte das anders werden, und mit dem Bewußtsein, selbstständig und frei auftreten zu können, zog auch ein Gefühl der Beruhigung in ihr Herz ein.
Sie ging selber daran, ihre Papiere zu ordnen und ihre Wäsche in einen Koffer zu packen, der sich in ihrem Bereich befand und den sie immer benutzt hatte. So war sie etwa eine halbe Stunde beschäftigt gewesen, als draußen die Vorsaalthür ging und gleich darauf das Mädchen den dicken Kopf zwischen ihre Thür steckte.
»Gnädiges Fräulein, der Doctor ist drinnen.«
»Aber Mutter hat Ihnen doch gesagt, Niemand herein zu lassen?«
»Ja, Besuch,« meinte die Magd – »aber den Doctor kann man doch nicht so wieder wegschicken! Die Mama ist aber noch nicht angezogen – Sie möchten hinübergehen.«
Kathinka seufzte tief auf; sie hätte heute gerade Gott weiß was darum gegeben, eben den Doctor Potter nicht mehr zu sprechen. Es ging jedoch nicht anders, denn die Höflichkeit, der gute Ton erforderte es, und sie war ja nur allein dazu aufgezogen worden, den stets zu beobachten.
»Ich komme gleich. Hast Du den Herrn in den Salon geführt?«
»Na natürlich; in dem andern Zimmer liegt ja alles wie Kraut und Rüben durcheinander – Herr Du meine Güte, ist das eine Wirthschaft! Wollen Sie denn verreisen?«
»Ja,« sagte Kathinka ruhig. – Ihre einfache Toilette war im Nu geordnet, und sie schritt, um weiteren Fragen des Mädchens zu entgehen, in den Salon hinüber.
Doctor Potter stand dort, seinen Hut in der Hand, mitten in der Stube.
»Mein gnädiges Fräulein,« sagte er mit halblauter Stimme, denn er schien erregt, wie sie nur die Schwelle überschritt – »ich freue mich herzlich, daß es mir wenigstens vergönnt ist, Sie noch einmal zu sehen, bevor ich Rhodenburg verlasse.«
»Sie wollen fort von hier?« sagte Kathinka, wirklich erstaunt. »Und wie ich doch weiß, hat sich Ihre Praxis hier in der letzten Zeit so sehr ausgebreitet …«
»Das allerdings,« bestätigte Potter, »aber ich habe einen so ehrenvollen Ruf nach meiner Vaterstadt Bonn erhalten, der mir außerdem eine gesicherte Zukunft in Aussicht stellt …«
»Das ist freilich etwas Anderes,« sagte Kathinka leise, »und kein Mensch wird es Ihnen da verdenken können, Rhodenburg es aber gewiß sehr bedauern.«
»Sie haben hier so viel geschickte Aerzte,« erwiderte Potter ausweichend – »aber ich wollte doch die Gelegenheit nicht versäumen, Ihnen Lebewohl zu sagen und Ihnen wie Ihren Eltern für die vielen lieben Stunden zu danken, die Sie mir verstatteten in Ihrem gastlichen Hause zuzubringen.«
»Vater und Mutter sind gerade so beschäftigt,« erwiderte Kathinka verlegen, »und eben im Begriff, selber eine Reise anzutreten.«
»Ich sah draußen schon einen Koffer stehen – und wohin werden Sie sich wenden?«
»Meine Eltern? Wahrscheinlich wieder nach Berlin.«
»Ihre Eltern? Werden Sie dieselben nicht begleiten?« fragte Potter verwundert.
Kathinka zögerte mit der Antwort. Daß ihres Vaters Lage kein Geheimniß in der Stadt sein konnte, mußte sie wissen; sie hatte nun dreimal in verschiedenen Städten und Ländern diesen traurigen Abzug mit durchgemacht, und das Gefühl war ihr peinlich, daß auch Doctor Potter glauben sollte, sie habe Theil an diesem unredlichen Handeln. Aber was war er ihr? Ein Fremder – und ihm gegenüber durfte sie die Eltern nicht bloßstellen; nur belügen konnte und wollte sie ihn nicht. – »Nein,« sagte sie leise, »ich werde zu einer alten Verwandten gehen und dort bleiben.«
Potter schwieg und sah still, aber erregt vor sich nieder. Er kannte das junge Mädchen und ihren Charakter; er hatte sie oft bei prahlerischen Aeußerungen des Vaters die Farbe wechseln sehen und glaubte, jetzt alles zu durchschauen. Daß Herr von Schaller hier bis über die Ohren in Schulden saß, wußte er außerdem – es hatte eben kein Geheimniß mehr bleiben können. In welch trauriger Lage befand sich dann das arme Mädchen unter der Obhut solcher Eltern, und war es da nicht natürlich, daß sie einem solchen Schicksal zu entgehen suchte?
Er hob den Blick fast schüchtern zu ihr auf, aber noch immer so stolz und selbstbewußt wie früher stand sie ihm gegenüber, ja vielleicht jetzt noch mehr, da sie von dem Gefühl gehoben wurde, sich von jetzt ab nur allein selber anzugehören. – »Gnädiges Fräulein,« sagte er endlich mit bewegter Stimme, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie weh es mir thut, jetzt so von – von hier zu scheiden. Ich habe eine zu glückliche und doch wieder schmerzliche Zeit in Rhodenburg verlebt, und das Herz hängt in der Erinnerung fast noch fester an seinen überstandenen Leiden als Freuden …«
»Sie werden sich bald in Ihrer Heimath einen neuen Wirkungskreis schaffen,« sagte Kathinka leise, »und Rhodenburg dann rasch vergessen.«
»Das Erstere – ja, das Letzte – nein, Fräulein Kathinka, seien Sie dessen versichert, und wenn ich …« (er zögerte wieder) – er stand vor dem jungen Mädchen, er hatte die feste Absicht gehabt, ihr wenigstens eine Andeutung zu geben, wie gerade sie allein alles gewesen sei, was ihn in dieser Stadt beglückt und elend gemacht; aber jetzt fehlte ihm der Muth, er wagte es nicht, und das Beste war, ein für beide Theile vielleicht peinliches Gespräch abzubrechen. – »Ich nehme Ihre Zeit zu lange in Anspruch,« sagte er scheu und getraute sich nicht einmal, den Blick zu ihr zu erheben – »wenn ich Ihre Eltern nicht mehr sehen kann, so bitte ich Sie, mich ihnen zu empfehlen, und Sie selber, Fräulein Kathinka,« fuhr er mit nur eben hörbarer Stimme fort und war jetzt wirklich kaum im Stande, seiner heftigen Aufregung Herr zu werden – »und Sie selber – bewahren Sie mir ein freundliches Andenken.«
»Leben Sie wohl,« hauchte das junge Mädchen vollkommen tonlos. Sie reichte ihm die Hand, aber kein Muskel ihres Antlitzes regte sich. Potter sah zu ihr auf in die marmorbleichen Züge, aber zwei große helle Thränen, über die sie keine Gewalt hatte, rollten ihre Wangen hinab, und das fühlend, wandte sie sich, um den Saal zu verlassen.
»Kathinka,« rief Potter, der ihre Hand noch nicht losgelassen – denn die einzelne Thräne hatte seine Zunge gelöst, das Eis gebrochen, welches, wie er geglaubt, ihr Herz ihm verschlossen gehalten – »in dem Glanze Ihres Hauses wagte ich nicht, Ihnen zu gestehen, daß meine ganze Seele nur an Ihnen hängt, daß ich unglücklich und einsam mein ganzes Leben verbringen würde, wenn ich Ihnen nicht sagen dürfte, wie lieb ich Sie habe! Jetzt stehen Sie selber allein, mit eigener Hand haben Sie die Bande getrennt, die Sie an Ihre Eltern fesselten, jetzt muß ich reden, wenn ich mir nicht mein ganzes Leben die bittersten und verdientesten Vorwürfe machen soll! Ich liebe Sie, Kathinka, von ganzer Seele, mit der festen Kraft eines treuen und ehrlichen Herzens – werden Sie mein Weib! Wir ziehen fort von hier nach Bonn, wo keine Erinnerung des Vergangenen Sie mehr quälen soll, und haben Sie Vertrauen zu mir, oh, so sehen Sie mir in's Auge – Kathinka …«
So weich, so klagend klang das letzte Wort – Kathinka versuchte anfangs ihre Hand aus der seinen zu ziehen, aber er ließ sie nicht. Ihr Herz klopfte fast hörbar in der Brust; im Glück, in dem er sie glauben mußte, hatte er scheu zurückgehalten, jetzt erst im Unglück trat er ihr nahe – und war er ihr denn nicht selber stets das Muster eines braven, wackern Mannes gewesen?
Noch zögerte sie – durfte sie seine Hand annehmen, wenn er nicht alles wußte, wie es mit ihr und ihren Eltern stand? – Der Gedanke zog wie ein eisiger Stahl durch ihr Herz.
»Herr Doctor,« sagte sie mit leiser Stimme, ohne sich aber zu ihm zu wenden, »ich danke Ihnen für die freundlichen Worte, und sie werden mir ein Trost in meinem künftigen Leben sein, aber …«
»Oh, kein Aber, Kathinka – kein Aber!«
»Aber die Verhältnisse in unserem Hause haben sich in solcher Art geändert,« fuhr das Mädchen fort, »daß ich Ihren Antrag nicht annehmen kann. Ich bin arm, ich habe nichts in der Welt als einen guten Willen, zu arbeiten, um mich dadurch selbstständig zu stellen – was uns hier umgiebt, ist nichts als eine hohle, glänzende Schale. Mein Vater« fuhr sie kaum hörbar fort, als der Doktor schwieg, »ist tief verschuldet und, wie ich fast fürchte, nicht im Stande, seine Gläubiger zu befriedigen – die Baronesse Schaller hätte Ihnen mit Freuden die Hand gereicht – die arme Kathinka …«
Sie kam nicht weiter; mit einem Jubelruf schloß er das Mädchen in die Arme. »Sieh mich an, Kathinka,« rief er unter vorquellenden Thränen – »sieh mir in's Auge, Geliebte und sage dann, ob ich das Mißtrauen verdient habe!«
Kathinka blieb regungslos, ihr ganzer Körper zitterte, aber sie sprach kein Wort; endlich wandte sie sich gegen ihn, und ihn mit einem seligen Blick anschauend, sagte sie leise: »Ja, ich habe mich nicht in Dir getäuscht, Du bist gut und brav. Im Glück schwiegst Du, und da Leid über mich hereingebrochen, reichst Du mir die helfende Hand. Ich will Dein sein, Dein für immer, und ich danke Gott, daß er Dich mir gegeben.«
Hans hatte ein schweres Amt übernommen: seiner Schwester, seiner Mutter die furchtbare Nachricht von dem Vorgefallenen zu bringen, und schon wie er das Haus betrat und die überall getroffenen festlichen Vorkehrungen, das rege Leben und Treiben überall, das Herumschwärmen der Dienerschaft sah, fehlte ihm fast der Muth, das alles jetzt mit einem einzigen Wort zu Boden zu schmettern.
Die Mutter begegnete ihm zuerst.
»Nun, Hans,« sagte sie, »wie gefällt Dir unsere Ausschmückung? Es ist leider noch nicht weit genug im Jahre, daß wir mehr Blumen hätten anbringen können; aber mit dem, was aufzutreiben war, haben wir doch das Meiste gemacht, und der alte Claus, ein so mürrischer Patron er sonst sein mag, hat darin ein wirkliches Geschick.«
»Soll ich Dir sagen, Mama, wie es mir vorkommt?« sagte Hans wehmüthig – »wie die Vorbereitung zu einem Begräbniß.«
»Hans, um Gottes willen!« rief die Mutter erschreckt aus, »wie kommst Du auf den gräßlichen Gedanken? Geh weg, das ist häßlich! Aber wo ist denn der Vater?«
»Er hat noch einen Spaziergang gemacht, oder mich vielmehr vorausgeschickt, um Dir etwas zu sagen.«
»Mir etwas zu sagen?« fragte die alte Dame und sah besorgt den Sohn an, der ihr heute gar so feierlich, so ganz anders als sonst vorkam.
»Die Gesellschaft wird heut Abend nicht kommen, Mutter; ich habe alles abbestellt.«
»Hans,« schrie Frau von Solberg entsetzt in die Höhe fahrend, »was ist geschehen? Du hast alles abbestellt? Wo ist der Vater – um Gottes willen, Hans –«
»Sorge Dich nicht, Mutter,« sagte Hans mit dem Kopfe schüttelnd, »der Vater ist wohl und munter und wird vielleicht in einer halben Stunde hier sein – aber …«
»Aha, da ist auch der Herr Bruder!« rief Franziska mit ihrer lachenden Stimme, als sie in das Zimmer trat. »Aber wo bleiben die anderen Herren? Es ist noch so viel zu besprechen und anzuordnen, daß wir hier gar nicht wissen, wo uns der Kopf steht.«
»Denke Dir,« platzte die Mutter heraus, »Hans hat die Gesellschaft heut Abend abbestellt!«
»Ja,« lachte Fränzchen, »das sieht ihm ähnlich – aber, um Gottes willen, Hans,« setzte sie bestürzt hinzu, »was hast Du? Wie siehst Du denn aus? So bleich, so verstört – um aller Heiligen willen, was ist vorgefallen?«
»Fränzchen,« sagte Hans ruhig, »glaubst Du an eine Vorsehung?«
»Was soll die Frage, Hans?« rief Franziska, jetzt am ganzen Körper zitternd. »Gewiß thue ich das – wer thut es nicht? Aber was hast Du? Es ist etwas vorgefallen, etwas Schreckliches – oh, Du ängstigst mich so, ich fürchte mich ordentlich vor Deinen Augen!«
»Und doch bringe ich Dir nur Gutes, Fränzchen,« sagte Hans herzlich – »und doch habe ich Dir nur zu künden, daß Du einer entsetzlichen Gefahr in kaum Haaresbreite entgangen bist, während Dich sonst schon morgen ein Teufel in Menschengestalt Deinem Elend entgegen geführt hätte …«
»Leopold?« schrie Franziska mehr als daß sie das Wort sprach. »Was ist mit ihm? Hans, bei Deiner Seele Seligkeit beschwöre ich Dich, gieb mir Antwort!«
»Um Gottes willen, Graf Rauten?« rief auch die Mutter.
»Graf Rauten,« sagte Hans bitter – »ein Betrüger war er, ein feiger Mörder und Dieb, der sich hier bei uns unter falschem Namen eingeschlichen …«
Er hatte eben noch Zeit, zuzuspringen und Fränzchen in seinen Armen aufzufangen. Es war zu viel gewesen, zu viel auf einmal, und ohnmächtig brach die verrathene Braut da, wo sie stand, zusammen.
Das half der Mutter wenigstens über den ersten Schreck hinweg, denn die Sorge um die Tochter nahm für den Moment ihre ganze Geistesthätigkeit in Anspruch.
Hans indessen, indem er die Schwester vor der Hand ihrer Kammerfrau und der Mutter überließ, überraschte die Dienerschaft gründlich durch den Befehl, die Vorbereitungen für den heutigen Tag einzustellen. Die Gesellschaft sei um einen Tag hinausgeschoben, und in der Küche sollten sie ebenfalls darauf Rücksicht nehmen.
Daß der Koch da unten in vollem Grimm herumfluchte und schwur, er wolle doch lieber sein Geschäft aufgeben und Holzhacker werden, wenn ihm so eine Arbeit unter den Händen weggenommen würde, kümmerte ihn nicht, er erfuhr es auch gar nicht, und es hatte weiter keinen Zweck, als den Küchenjungen in Angst zu setzen, denn mit seinem Chef war heute nicht zu spaßen.
Ebenso mußte das Geschirr wieder weggeräumt werden, und einer der Diener fragte schüchtern, ob man auch die Blumen wieder abnehmen solle. Das aber verbot Hans auf das Entschiedenste. Die Blumen sollten bleiben, und was etwa bis morgen verwelkt wäre, könnte dann durch frische ersetzt werden.
Als er die Schwester wieder aufsuchen wollte, begegnete ihm schon die Kammerfrau, die nach ihm geschickt worden. Er fand auch die Schwester wieder auf, aber wenn auch bleich und in Thränen gebadet, doch weit ruhiger, als er erwartet hatte, sie zu finden.
Sie streckte den Arm, wie Hülfe suchend, ihm entgegen, als er das Zimmer betrat, und Hans eilte auf sie zu, nahm ihre Hand, und sie schmeichelnd in der seinen haltend, ließ er sich neben ihrem Lager nieder. Er fürchtete, sie gerade jetzt noch stärker aufzuregen, und bat sie nur, sich recht ruhig zu halten, bis der böse Anfall vollkommen vorüber sei; aber Fränzchen sagte mit leiser Stimme: »Nein, Hans, erzähle mir jetzt alles, alles! Hörst Du? Verheimliche mir nichts. Der ärgste Schlag ist überstanden, und nur die Ungewißheit, der Zweifel könnte mich jetzt noch zur Verzweiflung treiben.«
»Den kann ich Dir nehmen, Herz,« sagte ihr Bruder, »und wenn Du Dich stark genug fühlst, so glaube ich selber, daß es das Beste ist, Dir alles offen und einfach zu erzählen. Dein eigener ruhiger Verstand wird Dir dann selber sagen, wie glücklich Du Dich fühlen mußt, einer solchen entsetzlichen Gefahr entgangen zu sein.«
Und jetzt erzählte Hans, in gedrängter Kürze wohl, aber doch vollkommen ausführlich, die verschiedenen Verdachtgründe erst und dann die Beweise, die sich gegen Rauten gehäuft, und die Thätigkeit, welche Notar Püster dabei entwickelt, um dem Verbrecher auf die Spur zu kommen.
Als er der verlassenen Frau erwähnte, die ihm bis hierher gefolgt, und nicht etwa um den meineidigen Gatten wieder zu gewinnen, sondern um einen Theil dessen zu retten, was er ihr gestohlen, um sie im größten Elend zurück zu lassen, da barg Fränzchen schaudernd ihr Antlitz in den Händen, und Hans sagte leise: »Und das hätte auch Dir bevorgestanden, Herz, denn wohin sollte er Dich führen? Auf seine Güter? Er hat nichts, als den Raub vielleicht in seinem Koffer, und jeder Schandthat fähig, würde er auch keinen Augenblick gezögert haben, Dich in irgend einer Wildniß zurück zu lassen.«
»Und was ist jetzt aus ihm geworden?« fragte die Mutter scheu.
»Er liegt an der Wunde, die er sich bei dem Sturz geholt, darnieder, aber wird nur geheilt werden, um im Zuchthaus sein elendes Dasein zu beschließen. Und eines solchen Menschen wegen,« setzte er dann bitter hinzu, »habt Ihr das arme Käthchen aus dem Hause gestoßen?! Hatte das Kind nicht Recht, als es Euch mit ahnungsvoller Seele vor dem Buben warnte?«
»Oh mein Gott, oh mein Gott,« seufzte die Mutter, »aber wer hätte es für möglich gehalten! Doch das wenigstens ist wieder gut zu machen,« setzte sie dann rasch hinzu, »Käthchen soll wieder zu uns zurück. Du selber brauchst Zerstreuung, Fränzchen, und ihre Gesellschaft wird Dir wohl thun.«
»Und glaubst Du, Mutter, daß sie in das nämliche Haus, aus dem sie verstoßen wurde, zurückkehren würde? Müßte sie nicht immer der Gedanke quälen, daß sie ja doch nur eine Fremde sei und jeden Augenblick in der nämlichen Weise entfernt werden könne? Nein, das ist zu spät, aber vielleicht findet sich doch noch ein Mittel, sie zu entschädigen oder doch wenigstens in etwas gut zu machen, was an ihr gesündigt wurde. Aber lassen wir das jetzt – wir haben ernstere Dinge im Kopf, aber das Schwerste ist doch überstanden, da ich jetzt Fränzchen so ruhig und gefaßt sehe. Auch keine Thräne weine mehr um den Buben, Schatz, er hat sie wahrlich nicht verdient, und schon die feige That allein gegen meinen armen Dürrbeck verdiente, daß er gebrandmarkt an den Galgen käme. – Aber jetzt muß ich fort,« brach er kurz ab, »es bleibt mir heute noch viel zu thun, und wenn ich nicht zum Essen kommen sollte, so wartet nicht auf mich.«