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Es war wieder Sonntagnachmittag, auch im Hause des Tischlermeisters Handorf, der jetzt eine vollkommen getheilte Wirthschaft führte – eigentlich etwas Unnatürliches in dem sonst so einfachen Hause. Er lebte mit seiner Familie ganz allein, während die Gesellen und selbst die Lehrburschen abgesonderte Räume für sich hatten, in denen sie verkehrten. Es wurde auch für beide Theile verschieden gekocht, das heißt nicht etwa in der Güte der Speisen, denn beide bekamen genau dasselbe – nur in verschiedenen Töpfen. Es kostete das allerdings mehr als im gewöhnlichen Leben, aber Meister Handorf hatte es so angeordnet, denn er fühlte, daß er nur dadurch seinem armen Sohn eine neue Demüthigung – und wenn es durch ein einzelnes Wort, durch einen Blick selbst gewesen wäre – ersparen könne. Er war ein einfacher Handwerker, aber ein streng rechtlicher, braver Mann, mit einer vollen Empfindung für das Gute und Ehrenhafte. Wie er sich aber jetzt fest überzeugt hielt, daß sein einziger Sohn an dem ihm schuldgegebenen Verbrechen unschuldig gewesen sei, so begriff er doch auch, wie die Masse noch nicht zu der Ueberzeugung gelangt sein könne, und dachte an seine eigene Jugend zurück, wie er in einem solchen Falle gehandelt haben würde. Er verlangte deshalb von den Gesellen nicht, daß sie an die Unschuld seines Sohnes glauben sollten; es ging sie das ja auch eigentlich gar nichts an. Sie hatten nur ihre Arbeit zu thun, und um die Familie sollten und durften sie sich nicht bekümmern.
Nur Einer seiner Leute hatte ihn verlassen, und zwar der Altgeselle, derselbe, der sich damals zuerst geweigert, mit Karl an einem Tische zu essen, wonach auch die anderen Gesellen zu ihm hielten. Es war ein tüchtiger Arbeiter und sonst braver Mensch, auch aus guter Familie, und vierzehn Tage später, da er sich in einer benachbarten Stadt etabliren wollte, hielt er um Gretchen's Hand an, denn er glaubte zu wissen, daß ihm das Mädchen ebenfalls gut sei. Gretchen war es auch vielleicht gewesen, jetzt aber hatte er eine schlechte Zeit gewählt. Wie er sie bat, seine Frau zu werden, sagte sie ihm ruhig, er möchte sich eine Familie suchen, bei der er auch am Tische essen könne, und drehte ihm einfach den Rücken zu, und der Altgeselle verließ noch an demselben Tage die Werkstätte und das Haus.
Wer sich aber um die Familie in der Zeit bekümmerte, war der kleine Hofapotheker Semmlein, der, selber ein durchweg rechtlicher und braver Mann, auch den Meister Handorf als solchen kannte – sie waren sogar zusammen in die Schule gegangen – und dessen Erzählung über das unglückliche Schicksal seines Sohnes unbedingt glaubte. Er nahm sich auch seiner an, wo er nur irgend konnte, und war selber untröstlich, daß ihnen der Notar Püster so jede Hoffnung genommen hatte, den ehrlichen Namen des jungen Mannes auch von Regierungswegen wieder hergestellt zu sehen. Das nämlich galt ihm als die Hauptsache, denn das Andere würde sich, wie er meinte, nachher auch rasch von selber finden.
Um so mehr bemühte er sich aber jetzt, dem armen jungen Menschen, den er einmal unter seinen Schutz genommen, eine neue Zukunft zu bereiten, die er denn allerdings nur in einem andern Welttheile für ihn schaffen konnte: Amerika – er kannte kein anderes Ziel, dorthin mußte er, und als er vor kurzer Zeit vom Calculator Obrichter erfuhr, daß der Rentamts-Kassirer einen ächten Amerikaner bei sich wohnen habe, einen Mann, der sieben Jahre drüben gewesen sei und »jedes Kind« in Amerika kenne, setzte er sich auch augenblicklich mit diesem in Verbindung, um vor allen Dingen die nöthigen Schritte einzuleiten.
Allerdings galt es hier erst, dem Fremden die Unschuld des Verurtheilten darzulegen, denn verheimlichen ließ sich nichts an der Sache, und mit Heimlichkeiten gab er sich überhaupt nicht ab. Das hatte aber insofern seine Schwierigkeiten, als der Calculator selber nicht daran glauben wollte, ein wirkliches Gericht könne keinen solchen Irrthum begehen und einen unschuldigen Menschen zu Zuchthaus verdammen; das fiele nicht vor und könne nicht vorfallen, wie er meinte, denn dann wäre es keine Gerechtigkeit mehr. Mr. Hummel war dadurch auch stutzig geworden, denn einen »Zuchthäusler« mochte er natürlich nicht nach Amerika recommandiren; es galt daher, ihn selber bei Handorf einzuführen, damit er nicht allein Karl, sondern auch die ganze wackere Familie kennen lerne, und er erreichte damit, was er wollte.
Hummel's Vater war selber ein Tischler gewesen, er fühlte sich dort gleich heimisch, wie er sich äußerte, und wie er erst einmal mit Karl gesprochen, hielt er es selber für unmöglich, daß der einen Raub begangen haben könne. Was aber die Gerichte betraf, so wären dem Herrn Calculator wohl die Haare zu Berge gestanden, wenn er gehört hätte, wie sich Mr. Hummel über die äußerte: das war alles Lumperei, fauler aristokratischer Kram hier in dem »Tschermanie«, wo ein armer Mann nie Recht bekam, sondern eingespunnt wurde, während die großen Lumpen frank und frei draußen herumliefen. Der junge Handorf aber war ein ehrlicher Kerl, der eben » bad luck« gehabt hatte – das kam vor, und wenn sie ihn hier über die Achsel ansahen, so sollte er nur getrost nach den » states« gehen, und wenn er dahin ein paar hundert Thaler mitnähme, so wollte er ihm garantiren, daß er sich in ein paar Jahren herausarbeiten und ein »gemachter Mann« werden würde.
Hummel hatte, seit er in Handorf's Familie eingeführt worden, sie oft besucht, und nur Eins genirte ihn noch im Hause: die Reinlichkeit in der Stube, die immer blank gescheuert und mit weißem Sande bestreut war. Dahinein konnte er natürlich nicht spucken, und er mußte dann immer vor die Thür gehen, wo der Vorsaal aber eben so blank aussah. Margarethe hielt darauf und hatte nur dem Manne noch nichts darüber gesagt, weil er sich ja ihres Bruders annehmen wollte. Nur als er das letzte Mal dagewesen, wo wieder das Gespräch natürlich auf Amerika kam – denn Mr. Hummel kannte eben kein anderes –, äußerte er über das Tabakskauen, daß es alle Amerikaner thäten, reiche und arme, und Margaretha sagte da: »Dann möcht' ich mein Lebtage keinen Amerikaner zum Manne haben!«
Mr. Hummel, der auch nur mit geringen Mitteln nach Amerika gekommen war, besaß jetzt eine große Farm in Illinois und schien, indem er seinen Bruder in seiner Abwesenheit darauf gelassen, allein nach Deutschland herübergekommen zu sein, um seine Mutter abzuholen und mit dorthin zu nehmen. Die alte Frau, wie er Handorfs erzählte, machte ihm anfangs vielen » trouble«, denn sie fürchtete sich vor der Seereise und behauptete trotz der Einwendungen des Sohnes, sie hielte das nie im Leben aus. Endlich aber hatte er sie doch überredet, und nun konnte sie wieder mit ihren Vorbereitungen nicht fertig werden. Jetzt aber schien er sich auch da hinein gefunden zu haben. Das Ganze war ja auch bei ihm, nach Jahre langer schwerer Arbeit, eine Art von Vergnügungs- und Erholungsreise gewesen, um einmal Deutschland und alte Bekannte wieder zu sehen, und er meinte selber, es käme dabei auf ein oder zwei Wochen nicht an.
Das letzte Mal, als er bei Handorfs gewesen, hatte er ihnen eine genaue Beschreibung des dortigen Ackerbaues und der Feld- und Viehwirthschaft, die er aus dem Grunde verstand, gegeben und Karl den Vorschlag gemacht, mit ihm zu gehen und erst einmal ein halbes oder ganzes Jahr auf seiner Farm zu arbeiten, damit er Amerika erst ordentlich kennen lerne. Nachher könne er ja noch immer machen, was er wolle, wirklich Farmer werden oder auf sein eigenes Geschäft arbeiten. Uebrigens sei es auch für einen Farmer von sehr großem Vortheil, wenn er etwas von Tischlerei und Zimmermannsarbeit verstände, denn »da drüben« müsse man eben alles selber machen und jeder richtige Farmer wäre auch eigentlich sein eigener Schlosser, Schmied, Tischler, Bäcker, Schneider und Schuster, was dem Meister Handorf nun allerdings nicht in den Kopf wollte.
Die kleine Familie saß heute Nachmittag beim Kaffee zusammen und ihr Gespräch drehte sich natürlich um Amerika, von dem die Mutter freilich nichts wissen wollte. Auch Karl hatte keine rechte Lust dazu, aber was anders blieb ihm übrig?
»Es mag ein schönes, großes Land sein,« sagte er, »und Sehnsucht habe ich schon immer gehabt, es einmal zu sehen; aber Du glaubst nicht, Vater, welch ein peinliches Gefühl es für mich ist, daß ich jetzt dort hinüber muß, um mich vor den Menschen hier in Deutschland zu verstecken.«
»Ach was, verstecken!« brummte der Vater vor sich hin, »wenn Du selber ein gutes Gewissen hast, so brauchst Du Dir deshalb auch keine Sorgen zu machen, und Du gehst ja als freier Mann.«
»Es war immer mein sehnlichster Wunsch gewesen,« fuhr Karl leise fort, »hier einmal in meiner Vaterstadt auch als Meister einzutreten; ich hatte einen Stolz darein gesetzt, und daß nun alles so kommen mußte …«
»Und bist Du gewiß, Karl,« fragte der Vater nach einer längeren Weile, in der Alle ihren eigenen Gedanken gefolgt waren, »daß jener Mann, den Du neulich gesehen, der Nämliche gewesen, der Dir damals den Stock abgekauft hatte? Man kann sich so leicht täuschen, und so lange Jahre sind darüber hingegangen …«
»Ja, Vater, das ist wohl wahr,« sagte Karl, »aber in dem Gesicht täusch' ich mich nicht, oder es müßte ein Zwillingsbruder gewesen sein. Die langen Jahre habe ich die Gestalt, das Gesicht vor meinen Augen gehabt und fast an nichts Anderes gedacht, während ich die furchtbare Strafe verbüßte. Ich wußte dabei, daß ich es wieder erkennen würde, wo ich ihm auch begegnete; aber was hilft's, der Notar hat vollkommen Recht, ich kann ihm nichts mehr beweisen, wenn er es nicht selber eingestehen wollte, und daß er das thun würde, daran ist natürlich nicht zu denken. Jetzt hab' ich den Menschen wiedergefunden, der, wie ich immer glaubte, allein im Stande gewesen wäre, mir meinen ehrlichen Namen zurück zu geben, und nun sehe ich selber ein, daß es mir nichts hilft und daß ich, wenn ich hier in Deutschland bliebe, mein ganzes langes Leben herumlaufen müßte wie Kain, der seinen Bruder Abel erschlug.«
»Aber, Vater,« sagte die Margareth, die den Bruder indessen mit mitleidigen Blicken betrachtet hatte, »der Mensch soll ja, wie Herr Semmlein neulich erzählte, in ganz kurzer Zeit hier ein vornehmes Weibsen aus der Stadt heirathen. Müßte man denn da nicht eigentlich hingehen und es den Leuten sagen, was sie für einen Schwiegersohn bekämen?«
»Verbrenne Du Dir das Maul,« sagte der Tischlermeister, finster vor sich hin mit dem Kopfe nickend. »Erstlich, was hilft's Dir, denn kein Mensch würde es glauben und der Karl könnt's nicht einmal beschwören, und dann wäre das nur ein gefundenes Fressen für das Gerede in der Stadt; dann zög' ich selber von hier fort, denn die Leute würden mit Fingern auf uns weisen. Nein, Grethel, der ist ein vornehmer Mensch, der die gute Meinung der Anderen schon allein für sich hat; es klingt auch zu merkwürdig, daß ein vornehmer Graf einen armen Juden auf der Straße todtschlagen und berauben sollte, ich würd's selber nicht glauben; er mag jenem Schurken ähnlich sehen, aber ich kann mir's nicht denken, daß er's selber gewesen ist. Also fang Du da mit denen etwas an! Wo aber der Hummel heute bleibt; er wollte doch den Nachmittag herkommen, vielleicht ist er noch gar nicht zurück.«
»Das ist ein recht braver Mensch,« sagte die Mutter leise, »wenn man ihn nur besser verstehen könnte, aber er hat eine solche Menge von kauderwälschen Worten, daß ich manchmal gar nicht herauskriegen kann, was er nur will.«
»Ja,« sagte Margarethe, »und mit dem häßlichen Tabakkauen. Immer hat er einen gelben Rand um den Mund, und das ewige Spucken, brrrr, mich graust's, wenn ich daran denke. Wie sich ein Mensch nur so etwas Häßliches angewöhnen kann, was ihn allen anderen Menschen verhaßt machen muß!«
»Ja,« sagte der Vater, »das ist nun einmal so in dem Amerika Mode, und wer's einmal angefangen hat, kann's nicht wieder lassen. Mir gefiel's aber auch nicht und das Rauchen wär' jedenfalls reinlicher.«
»Ich glaub', da ging Herr Hummel g'rad vorbei,« sagte die Frau Handorf, »mir war's, als ob ich ihn eben vor dem Fenster gesehen hätte.«
In demselben Moment knarrte auch die Hausthür, und Mr. Hummel, mit dem freundlichsten Gesicht von der Welt, stand in der Thür.
» How do you do, alltogether?« rief er dabei, »glücklich wieder eingetroffen in Rhodenburg! Na, wie geht's?«
»Ja, wie soll's gehen, Herr Hummel,« sagte der Meister, indem er aufstand und ihm die Hand reichte, die der »Amerikaner« derb schüttelte – »noch immer in der alten Weise; dem Karl geht die Reise im Kopfe herum. Er möchte gern hier bei uns bleiben, und die Alte da läuft mir immer mit verweinten Augen herum, aber es wird doch wohl nicht anders werden, und wenn es denn sein muß, nun, dann mit Gott! Wir Menschen sind ja doch schwache Geschöpfe und können seinen Rathschlägen nicht entgegen arbeiten.«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Mister Handorf,« sagte Hummel; »der Karl wird die states schon »leiken« ( to like, Gefallen daran finden) und dort bald 'was vor sich bringen, und jetzt geht auch die Reise bald fort. Meine Mutter hat endlich ihre Vorbereitungen so ziemlich zu Ende gebracht, und ich denke, ich werde mit dem nächsten Schtiemer ( steamer, Dampfer) fortkönnen.«
»Aber trinken Sie nicht eine Tasse Kaffee, Herr Hummel?« fragte die Mutter.
»Na, wenn noch eine da ist, why not? please, Madame – aber Eins hab' ich der Mutter versprechen müssen, daß ich da drüben nämlich nicht sterben möchte – hehehe, wenn ich's eben verhindern kann! Zehn Jahre wollen wir noch da drüben bleiben – und Mutter ist gar nicht so alt, daß sie die nicht noch recht gut abwarten könnte –, dann hab' ich genug, wenn die Jahre nur middling sind, und dann verkauf' ich meine Farm für cash und ziehe wieder mit ihr nach Deutschland herüber.«
Margarethe hatte Hummel indessen erstaunt angesehen, denn sie bemerkte gar nicht, daß er kaute. Er spuckte nicht ein einziges Mal aus, und wie er seine Tasse bekam, ging er auch nicht, wie er es sonst immer gethan, erst an die Thür, um das ekelhafte Priemchen hinaus zu werfen. Er machte allerdings noch, wohl aus alter Angewohnheit, die Bewegung mit den Lippen, aber es stak wirklich kein Tabak dahinter, und zuletzt konnte sie es nicht über's Herz bringen – sie mußte ihn fragen.
»Aber, Herr Hummel, Sie kauen ja heute keinen Tabak?«
» No, miss,« sagte Hummel, indem er sie von der Seite anblinzelte – » I'm done with.«
»Was?« fragte Gretchen.
»Ich habe es mir abgewöhnt,« sagte Hummel.
»Wirklich?« rief Margarethe, und man sah ihr an, daß sie sich darüber freute. »Aber wie ist das eigentlich gekommen?«
»Ja, seh'n Sie,« meinte Hummel – und er wurde ein wenig verlegen dabei – »erstlich hat mich the old woman – meine Mutter wollt' ich sagen – auch schon ein paar Mal gebeten gehabt, ich möcht's stoppen, und dann – dann meinten Sie auch neulich, es wäre so häßlich und Sie würden nie einen Husband nehmen, der tschuhte ( to chew, kauen).«
»Was?« sagte Gretchen, welcher der Kopf von all' den fremden Worten wirbelte. »Ich verstehe ja gar nicht, was Sie meinen!«
»Nun,« wiederholte Mr. Hummel und wurde dabei feuerroth, »ich dächte, Sie hätten damals gesagt, das Tschu –, das Kauen wäre häßlich …«
»Ja, gewiß …«
»Und Sie würden nie einen Mann nehmen, der kaute …«
Jetzt war es an Margarethe, roth zu werden. – »Ja, da hat er Recht,« lachte sie verlegen der Mutter zu, »das hab' ich auch gesagt und ich meint's auch so; es paßt sich hier nicht in Deutschland, und Ihre Mutter ist eine ganz kluge Frau, weil sie auch darum gebeten hat, daß Sie das Kauen sollen sein lassen.«
»Das ist sie,« rief Hummel, »und eine gute, brave Frau dazu, und ich will Gott danken, wenn ich sie erst einmal auf meinem eigenen property sitzen habe und sie pflegen kann!«
»Und wann wollen Sie wieder fort?« fragte die Frau Handorf.
» Well, wissen Sie,« sagte Hummel, »es kommt mir so nicht drauf an, daß ich mich auf einen bestimmten Schtiemer verlassen hätte, wenn ich auch noch einen andern abwarte. Kriegen Sie nur Ihren Sohn indessen a going, daß er alles fertig hat, wenn es fortgehen soll, und glauben Sie mir, Mister Handorf, ich wäre der Letzte, der Ihrem Sohne zuredete, auszuwandern, wenn ich nicht wüßte, daß es ihm drüben gut gehe und er 'was Tüchtiges vor sich bringen würde.«
»Ich glaub's Ihnen, Herr Hummel, daß Sie es ehrlich und rechtschaffen mit dem armen Jungen meinen, und was ich dazu beitragen kann, ihn durch die Welt zu bringen und ihn wieder glücklich zu machen, soll gewiß geschehen. Ich sehe auch selber ein, daß ihm nichts Anderes übrig bleiben wird, als eben über See zu gehen, denn hier quält und grübelt er sich zu Schanden, während er dort freien Raum für seine Arbeit hat. Was Sie also denken, daß er an Geld brauchen wird, das sagen Sie mir; ich bin gerade nicht reich, aber so viel hab' ich doch immer übrig, und wir bringen uns hier schon durch, besonders wenn mir die Sorge nicht mehr am Leben frißt.«
»Hm, ja,« sagte Mr. Hummel und nickte still vor sich hin, »das wollen wir schon besorgen und das wird sich alles schon fixen – aber …«
»Hatten Sie noch ein Bedenken?« fragte die Mutter.
»Ich?« rief Hummel ordentlich erschrocken. »Nein, ich wüßte nicht; es war nur – ich wollte sagen – hahaha,« unterbrach er sich dann, selber laut auflachend, »das kommt davon, wenn man von einer Sache spricht und an eine andere denkt – damn it, ich bin ganz confus geworden! Aber es wird sich schon alles machen, I'll fix it, darauf können Sie sich verlassen; wir wollen das schon alles in Ordnung bringen, ich – ich habe nur noch eine Kleinigkeit für mich selber zu besorgen, ehe ich wieder hinübergehe, und bis jetzt noch immer keine Zeit dafür gehabt.«
»Und kann ich Ihnen vielleicht dabei helfen?« sagte der alte Handorf freundlich. »Sie haben sich unsertwegen so sehr bemüht, und ich möchte Ihnen so gern dafür auch in etwas beistehen …«
»Hm,« lächelte Hummel verlegen, » I d'ont know, vielleicht doch – man kann in der Welt nie wissen, wo gerade Einer dem Andern helfen mag. Ich war eigentlich nur wegen Zweierlei hier nach Tschermanie gekommen – einmal wollte ich meine alte Mutter abholen, und dann mich auch ein bischen hier in Tscher –, in Deutschland umsehen.«
»Nun, und das haben Sie doch beides jetzt so ziemlich fertig gebracht.«
» Not by a long way,« rief Hummel rasch, »das zweite wenigstens noch lange nicht, denn Sie wissen ja noch gar nicht, nach was ich mich umsehen wollte! Nach – nach einer Frau!«
Jetzt war's heraus – Hummel, dabei purpurroth geworden, guckte keinen Menschen an, sondern sah gerade in die Ecke hinein, und Gretchen, der es siedendheiß über den Rücken lief, die sich aber nicht um die Welt hätte etwas merken lassen, griff rasch nach der Kaffeekanne und sagte: »Nicht noch eine Tasse, Herr Hummel? Er ist nicht so stark und schadet Ihnen gewiß nichts.«
» Thank you,« sagte Hummel und schob ihr die Tasse hin.
Der Vater sah Gretchen und dann Hummel an, und der Mutter schnitt es wie ein Messer durch die Seele. Was war das? Sollte sie beide Kinder mit einem Schlage verlieren?
Hummel stak für einen Moment gründlich fest; aber er war auch nicht der Mann danach, ein Wort wieder zu verschlucken, das er erst einmal auf die Zunge gebracht. »Seh'n Sie, Mister Handorf,« fuhr er nach einer kleinen Weile fort und ehe Gretchen eigentlich hatte zu Athem kommen können – »ich bin, was man so sagen kann, »gut ab« in der Welt, ich verdiene mehr als ich brauche, und es fehlt mir eigentlich nichts als eine Frau, denn ein Farmer ohne Frau ist just about wie eine Kirche ohne Pfarrer oder ein Thurm ohne Glocke. Wo ich mich aber auch umgeguckt habe, war's immer nichts; ich bin vielleicht ein bischen particular und die Amerikanerinnen sind auch ganz saubere Frauenzimmer, aber es geht doch nichts über die Deutschen, und wenn mich die Margareth wollte …« – jetzt stak er noch gründlicher fest, und Margarethe war so roth geworden,, als ob alle Adern ihres Gesichts auseinander bersten müßten.
»Aber, mein lieber Herr Hummel!« sagte der Vater, wirklich selber erschreckt über den Antrag, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel in die Familie schlug.
»Seh'n Sie, Margareth,« wandte sich aber Hummel jetzt – und es war das Vernünftigste, was er thun konnte – an das Mädchen selber, »Ihnen zu Liebe habe ich das Tabakkauen gelassen und werde es nie im Leben wieder versuchen, denn ich habe auch hier in Deutschland erst eingesehen, wie nasty es eigentlich ist. Außerdem bin ich aber ein ehrlicher Kerl, das kann ich mit gutem Gewissen von mir selber sagen, und was ich Ihnen zu Lieb' thun könnte, wenn Sie erst einmal meine Frau wären, das thät' ich gewiß. Gut sollten Sie's schon haben, und mit meiner alten Mutter hätten Sie auch nicht viel Plage, denn die ist noch rüstig genug auf den Füßen; aber,« setzte er mit einer rauhen Art von Zartgefühl hinzu, indem er sah, wie die Farbe auf des Mädchens Antlitz wechselte und ihr Auge einen fast fieberartigen Glanz annahm, »glauben Sie nicht, daß ich Sie jetzt drängen will. Als ehrlicher Kerl wollte ich Ihnen nur meinen mind sagen, das heißt, wollte Ihnen nur sagen, wie ich gesinnt bin und daß meine alte Mutter vor Freuden wieder jung würde, wenn ich ihr eine solche Schwiegertochter in's Haus brächte. Jetzt überlegen Sie sich die Sache,« fuhr er fort, indem er aufstand und sich nach seinem Hute umsah, »der Herr Rentamts-Kassirer Bollig, bei dem ich wohne – er hat einen verwünscht langen Titel, aber es ist ein braver Mann –, kann Ihnen jede Auskunft über mich geben, denn er kennt meine Familie genau. Also nichts für ungut, Mr. Handorf – ist es nix, na, dann muß ich mich hineinfinden; mit dem Karl da bleibt's aber immer dasselbe, der geht mit mir, und daß ich ihn dort auf den richtigen track bringe, darauf können Sie sich verlassen. Haben Sie sich's aber überlegt, dann komme ich morgen früh wieder vor und hole mir Antwort, ich habe heute überdies noch business in der Stadt. Good bye, Margaret,« sagte er dann, dem jungen, jetzt wieder tief erröthenden Mädchen die Hand reichend – » good bye, Mr. Handorf und Mrs. Handorf – good bye, Charles!« – und mit einer etwas ungeschickten Verbeugung, denn er wußte nicht recht, wie er jetzt am geschwindesten aus der Thür käme, verließ er das Zimmer.
Fräulein Constanze Blendheim war an diesem Abend zum letzten Mal als Julia in der Oper Romeo und Julia, so weit ihr Engagement ging, aufgetreten, und wenn man auch wußte, daß sie noch am nächsten Abend – auf den Dienstag war die Trauung angesetzt – das Benefice für den Chor geben würde, so hatte man ihr doch auch schon bei dieser Gelegenheit manche Ovation bereitet. Es waren ihr zahlreiche Blumensträuße und Kränze zugeworfen worden, und ein stürmischer Herausruf folgte dem andern. Das Publikum bedauerte wirklich, daß sie schied. Es war, wie das sonst fast stets der Fall ist, nichts Gemachtes und Künstliches dabei, es kam aus dem Herzen der Menge, und das junge Volk in Rhodenburg hatte sich sogar schon verabredet, ihr morgen Abend nach der Vorstellung, wo sie auf immer von der Bühne schied, ein Ständchen und einen Fackelzug zu bringen – etwas Außerordentliches für die sonst so stille Stadt.
Schon heute hatte, man ihr aber am Theater aufgepaßt, und als sie dasselbe verließ und in den ihrer harrenden Wagen stieg, empfing sie ein lautes, sich über den ganzen Platz verbreitendes Hoch! Sie war so tief ergriffen, daß sie kaum den ihr Nächsten danken konnte, dann lehnte sie sich zurück, drückte ihr Tuch gegen die Augen und weinte sich recht herzlich aus.
Es war das nicht Rührung allein über die lebhafte Theilnahme des Publikums, das sie stets freundlich, ja herzlich aufgenommen – es war auch ein bitterer Tropfen Wermuth mit in den Kelch ihrer Freude gemischt, daß sie jetzt, noch so jung und in ihrer vollen Kraft, inmitten ihrer Triumphe inne halten und die Laufbahn verlassen sollte, an der bis jetzt ihre ganze Seele gehangen.
Sie wußte und fühlte, daß sie an Dürrbeck's Seite glücklich werden würde, sie begriff auch vollkommen, daß sie in ihrer künftigen Stellung nicht mehr dem öffentlichen Leben angehören könne und dürfe und hatte nicht einmal in sich selbst auch nur den leisesten Wunsch dazu gehabt; aber trotzdem erfaßte sie jetzt, wo dieser Abschied von der Bühne, von der Kunst eine Wahrheit werden sollte, doch ein recht wehes, drückendes Gefühl. Als ob sie zum zweiten Mal aus dem Vaterhause scheiden sollte, war es ihr, und als der Wagen bald darauf vor ihrer Thür hielt und Hauptmann von Dürrbeck sie noch dort erwartete, um ihr gute Nacht zu sagen, brachte sie kein Wort über die Lippen, drückte ihm nur stumm die Hand und eilte dann in ihre Wohnung hinauf.
Dürrbeck war selber bewegt; er begriff recht gut, welches Opfer sie ihm brachte, und zürnte ihr wahrlich nicht, daß sie es empfand – sie wäre sonst keine ächte Künstlerin gewesen. Es hatte ihn selber ergriffen, das Zujauchzen der Menge, die augenscheinliche Rührung der Geliebten, und mit raschen Schritten, um seiner Gefühle Herr zu werden, ging er die Straße hinab und kehrte erst oben wieder um, um wenigstens noch einmal, ehe er selber seine Wohnung aufsuchte, Constanzens erleuchtete Fenster zu sehen und sie dann dort hinter den niedergelassenen Rouleaux zu wissen.
So stand er noch an der andern Seite der Straße eine Weile und sah, in seine Träume versunken, hinauf, als Jemand, der eben aus dem nächsten Hause trat, seinen Arm berührte und ausrief:
»Hauptmann – alle Wetter, stellen Sie astronomische Betrachtungen an? Was machen Sie hier?«
»Mein lieber Oberstlieutenant!« rief Dürrbeck, wirklich erstaunt den kleinen Mann noch so spät auf der Straße zu sehen, denn sonst liebte die Frau Oberstlieutenant derlei »Nachtschwärmerei«, wie er recht gut wußte, eigentlich nicht; es mußte da also etwas ganz Besonderes vorgefallen sein, »aber – wie ist mir denn?« lächelte er auch, »Sie gehen um diese Abendstunde noch aus? Wie kommt denn das? So spät sieht man Sie eigentlich selten draußen …«
»Ja,« lachte Klingenbruch leise vor sich hin, »das hat heute seine guten Gründe. Meine Damen sind bei Noltjes eingeladen, wo nur junges Volk und die Mütter als Ehrendamen hinkommen – ältere Herren sind Gott sei Dank ausgeschlossen und werden nur zum Abholen verwandt. Ich war deshalb heute im Eckfenster drüben, wo wir noch eine hübsche Gesellschaft hatten, bin dann nur zu mir hinaufgegangen, um ein wenig Abendbrod zu essen – denn das ist dort mordschlecht –, und will nun noch eine Partie Domino spielen und ein Glas Grog trinken. Kommen Sie mit hinüber – was thun Sie jetzt schon zu Hause!«
»Ich fühle mich eigentlich heute nicht mehr recht in der Stimmung, noch in ein Café zu gehen,« sagte Dürrbeck; »ich bin überdies schon etwas aufgeregt.«
»Dann regen Sie sich wieder ab,« lachte der kleine Mann, indem er seinen Arm ohne Weiteres in den des Hauptmanns schob – »kommen Sie, thun Sie's mir zu Liebe! Sie machen eine Partie Domino mit und sollen einmal sehen, wie gut Sie danach schlafen.«
»Lange bleib' ich auf keinen Fall …«
»Aber, komischer Mensch! Jeder ist sein eigener Herr und bleibt eben so lange, wie es ihn freut. Ich halte übrigens heute bis halb ein Uhr aus, denn dann muß ich zu Noltjes, um meine Damen abzuholen – und jetzt wollen wir erst noch ein Glas Grog trinken.«
Dürrbeck fügte sich – allerdings nur ungern, aber er fügte sich, denn er mochte den überhaupt seelensguten Oberstlieutenant nicht kränken, da er noch außerdem wußte, wie selten der einmal einen freien Abend hatte. »Also gut,« sagte er, »trinken wir noch ein Glas Grog zusammen« – und einen letzten Blick nach Constanzens Fenster hinaufwendend, schritt er mit ihm über die Straße hinüber dem Café zu.
Dort drinnen saß indeß noch eine ganz lebendige Gesellschaft fast ausschließlich von Officieren oder ihnen näheren Freunden. Die meisten von ihnen waren aber erst nach dem Theater hier zusammengekommen, um ihr Abendbrod zu verzehren und noch ein Glas Wein oder einen Grog zu trinken, die wenigsten, um zu spielen, denn gerade eine solche Vorstellung lieferte ihnen nachher trefflichen Stoff zu Unterhaltung und Gedankenaustausch und bot ihnen dadurch einen doppelten Genuß.
Um den Tisch im Eckfenster hatte sich besonders eine Gruppe zusammengefunden, meist junge Lieutenants, die noch für das Theater, wenn auch vorzugsweise das Ballet schwärmten. Diese, die zuerst eingetroffen sein mochten, saßen auf den zwei Fauteuils in der Ecke, mit dem Rücken nach den jetzt fest verschlossenen Fenstern zu, während die letzt Gekommenen die Stühle inne hatten, die den Rücken dem eigentlichen Hauptlocal zuwandten. Unter diesen befand sich Graf Rauten, und zwar gerade einem der schmalen Pfeilerspiegel gegenüber, von denen zwei die Hauptsäulen des Vorbaues deckten und den ganzen Raum, besonders nach der hell erleuchteten Thür zu, reflectirten.
Das Gespräch beschäftigte sich gerade mit der heute ganz ungewöhnlichen, der Künstlerin gebrachten Ovation, dem Kränze- und Sträußewerfen und dem endlosen Herausrufen, und ein junger Artillerie-Officier, dem man nachsagte, daß er für die zweite Sängerin nicht unempfindlich sei – er wurde wenigstens oft mit ihr geneckt –, behauptete ziemlich bestimmt, daß das Ganze eine gemachte »Geschichte« gewesen wäre. Jede Sängerin und Schauspielerin habe eine Anzahl von Verehrern, die ihr das besorgten; denn würde das Publikum wirklich einmal von dem Spiel oder Gesang einer solchen Dame hingerissen, so hätte es natürlich keine Kränze bei der Hand. Die vorhandenen seien also schon angeschafft gewesen, ehe man wußte, wie sie spielen oder singen würde, und zeichnete sie sich an dem Abend auch noch so wenig aus, der Blumenflor sei dann eben da und müsse geworfen werden, denn mit nach Hause könne man ihn unmöglich wieder nehmen.
Dagegen erklärte ein Anderer, daß das allerdings heut Abend bestimmt der Fall gewesen wäre, aber die Blumen hätten auch nicht dem heutigen Gesang von Fräulein Blendheim, sondern ihren sämmtlichen bisherigen Leistungen auf hiesiger Bühne gegolten. Es sei gewissermaßen der Abschluß ihrer Künstlerlaufbahn gewesen, und wenn irgend Jemand eine solche Auszeichnung wirklich verdient habe, so sei es doch gewiß diese Dame.
Rauten hatte in die ganze Unterhaltung, so lange sie sich um das Theater drehte, noch kein Wort mit eingesprochen. In diesem Augenblick traten Oberstlieutenant von Klingenbruch und Hauptmann von Dürrbeck in das Local, blieben aber, da sie das Eckfenster dicht besetzt sahen, weiter vorn und ließen sich dort an einem der Tische nieder, und Klingenbruch bestellte natürlich gleich zwei Glas Grog.
Rauten hielt seinen Blick eine Weile auf den Spiegel geheftet, dann sagte er mit seiner ruhigen, kalten Stimme: »Meine Herren! Ich weiß nicht, ob es in meinem schlechten und vielleicht verwöhnten, oder sagen wir verdorbenen Geschmack wurzelt; ich aber habe für meine Person jede Freude am Theater verloren und besuche es nur manchmal, um eine halbe Stunde todt zu schlagen, aber wahrlich nicht, um mich an einem sogenannten und ausposaunten Kunstgenuß zu erfreuen. – Kunst! Was verstehen wir jetzt darunter? Das Ganze ist doch weiter nichts als Komödienspielerei, ein gewisser Charlatanismus, der mehr oder weniger frech auftritt und der eigentlichen Masse vielleicht für den Augenblick imponirt, und auf den Augenblick ist ja auch alles berechnet, aber nicht im Stande, einen wirklichen Kunstgenuß hervor zu rufen, wenigstens nicht bei mir, wie ich ausdrücklich bemerken muß.«
»Aber, lieber Graf,« sagte ein junger Rittmeister, »ich glaube, da urtheilen Sie doch zu egoistisch allein nach sich selber. Wir Anderen, und ich könnte Ihnen dafür manche Zeugen stellen, empfinden wirklich das, was Sie entschieden abzuleugnen suchen, ein Kunstgenuß, und ich glaube für Viele zu sprechen, wenn ich Ihnen sage, daß uns den Fräulein Blendheim heut Abend in der That bereitet hat.«
»Du, George, da drüben sitzt Hauptmann Dürrbeck,« flüsterte ihm ein anderer Officier zu, »der Blendheim Verlobter, laß uns lieber davon abbrechen.« Der Rittmeister nickte zustimmend, Rauten aber nahm das Wort auf und fuhr ruhig und mit keineswegs unterdrückter Stimme fort:
»Ja, sehen Sie, lieber Herr Rittmeister, da tritt wieder die Verschiedenheit des Geschmacks in den Vordergrund. Für mich hat die Blendheim etwas positiv Widerliches, Abstoßendes, und was einige Kunstenthusiasten Leidenschaftlichkeit und Feuer in ihrem Vortrag nennen, dem würde ich den Namen Frechheit und unweibliche Geberden geben.«
Der Rittmeister und einige der anderen Officiere hatten versucht, ihn in seiner Rede durch Zeichen und leise geflüsterte Worte aufzuhalten; er mußte das aber nicht verstanden oder auf etwas Anderes bezogen haben; oder wollte er sich eben nicht stören lassen; aber er beendete den Satz mit der größten Kaltblütigkeit und that dann, während sich ein peinliches Schweigen um den Tisch lagerte, einen langsamen Zug aus dem vor ihm stehenden Glase. Nur sein Nachbar, ein junger Officier, flüsterte ihm jetzt rasch und dringend zu: »Herr Graf, Fräulein Blendheim's Bräutigam ist im Local und kommt gerad' zu uns herüber.«
»In der That?« sagte Rauten, ohne sich jedoch beunruhigt darüber zu zeigen.
Hauptmann von Dürrbeck ging langsam an dem Tisch vorüber, es geschah wohl nur mehr, um sich zu zeigen, als um Theil an dem Gespräch zu nehmen. »Guten Abend, meine Herren!« sagte er ruhig, das vorher Gesprochene nicht berührend, oder hatte er es auch vielleicht nicht verstanden und nur gehört, daß von seiner Verlobten die Rede war, wonach er es denn für passend hielt, sich wenigstens zu zeigen; er sah aber sehr bleich und finster aus, und der Blick, den er im Vorbeigehen aus Graf Rauten warf, ohne daß dieser aber selbst den Kopf nach ihm drehte, war nichts weniger als freundlich.
Die übrigen Officiere grüßten in augenscheinlicher Verlegenheit, der junge Husarenrittmeister stand sogar auf und verließ den Tisch und gleich darauf auch das Local. Die Sache schien ihm furchtbar fatal, und er mochte nichts weiter damit zu thun haben. Dürrbeck selber ging ruhig vorüber und wieder zu Klingenbruch, der indessen dort wie auf Kohlen gesessen hatte, denn ihm war kein Wort von dem vorigen Gespräch verloren gegangen, und Dürrbeck mußte es eben so gut verstanden haben.
Der Hauptmann leerte indessen, zum Tisch zurückgekehrt, sein Glas Grog, ohne sich wieder zu setzen, und dann Klingenbruch die Hand hinüberreichend, sagte er freundlich: »Nun gute Nacht, mein lieber Herr Oberstlieutenant, ich habe Ihnen jetzt Ihren Willen gethan, bin aber nun müde und will schlafen gehen.«
»Warten Sie, ich gehe mit, Dürrbeck,« sagte der Oberstlieutenant, der ebenfalls sein Glas leerte und aufstand – die ganze Sache fing ihm hier an unheimlich zu werden und er wünschte vor allen Dingen unnöthigen Streit zu vermeiden.
»Aber, meine Herren,« lachte indessen Rauten am Tisch im Eckfenster, »was ist denn mit Ihnen auf einmal? Haben Sie einen Geist gesehen? Todtenstille? Wovon sprachen wir denn gleich?«
»Von einem Capitel, das wir lieber fallen lassen,« erwiderte ziemlich bestimmt ein Hauptmann von den Jägern, »ich dächte, wir hätten außerdem Stoff genug …«
»Ah, vom Theater! Ja,« rief Rauten, »und warum nicht davon, mein Herr Hauptmann? Wenn mir Jemand für einen Thaler Entrée den ganzen Abend etwas vorsingen und vorspielen muß, so erwerbe ich mir für das Geld auch das Recht, darüber zu urtheilen, und weshalb ich loben soll, was mir zuwider ist, weiß ich eigentlich nicht.«
Dürrbeck und der Oberstlieutenant verließen in diesem Augenblick das Local, und der Jägerofficier, ein Hauptmann von Soling, sagte jetzt, da er die Luft rein sah: »Das mag alles recht schön und gut sein, Herr Graf, und ich gebe Ihnen zu, daß viele Leute ein Recht haben, das sie bald bescheiden, bald ohne Rücksicht auf andere Rechte gebrauchen. Hauptmann von Dürrbeck aber, der, wie wir Alle wissen mit Fräulein Blendheim verlobt ist, befand sich unmittelbar in unserer Nähe und ist uns Allen ein so lieber und allgemein geachteter Kamerad, daß es uns peinlich sein mußte, sein Gefühl verletzt zu sehen.«
»Und konnte ich wissen, daß er hinter mir eingetreten war?« sagte Rauten. »Uebrigens scheint er die Sache, wenn er überhaupt meine Worte gehört, was ich noch bezweifle, sehr kaltblütig genommen zu haben. Er kann sich auch gar nicht beklagen, denn so lange seine Braut, wenn wir das denn wirklich annehmen wollen, noch öffentlich auftritt, gehört sie dem Publikum an und nicht ihm.«
»Fräulein Blendheim ist eine sehr anständige Dame,« sagte ein anderer Officier.
»So?« lachte Rauten, »wer von Ihnen war es denn neulich, der mir erzählte, sie habe früher einmal ein Verhältniß mit dem Erbprinzen gehabt?«
»Guten Abend, meine Herren,« sagte Hauptmann von Soling, stand kurz auf und verließ den Tisch, und einige der anderen Officiere folgten ihm bald nach; es war überhaupt spät geworden.