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Eine Woche war nach dem letztbeschriebenen Abend verflossen, Hans schon lange von seiner Jagd, auf welcher er wirklich ein paar Enten und einen Auerhahn erlegt, zurückgekehrt und in Rhodenburg indessen nichts Besonderes vorgefallen. Nur der heutige Tag wurde insofern namentlich für Klingenbruchs wichtig, als heute das Testament eröffnet werden sollte, und zwar wiederum auf Antrag des Missionsvereins, der vor Gericht aussagte, daß er die feste Versicherung der selig Verstorbenen habe, einen namhaften Zuschuß für seine »wohlthätigen Zwecke« ausgesetzt zu erhalten.
Auf diesen Antrag hin wurde dann der Tag bestimmt, und Verwandte wie sonst dabei Interessirte erhielten die Aufforderung, bei der Testaments-Eröffnung zu erscheinen.
Hans war, mit keiner bestimmten Beschäftigung, an dem Morgen durch die Stadt geschlendert, hatte in Baumann's Restauration ein Glas Bier getrunken, aber keine Bekannten angetroffen, und schritt eben wieder langsam nach Hause zurück, als er am Brink, wie er die Hofapotheke gerade passirte, plötzlich stehen blieb und leise vor sich hin ausrief: » Caramba, wohnt denn hier oben nicht Käthchen und wollt' ich sie nicht einmal besuchen? Daß ich das auch so lange vergessen konnte! Aber, du lieber Gott, mich wird sie gar nicht mehr wiedererkennen – und ich sie wahrscheinlich auch nicht. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, und das Kind von damals weiß sich vielleicht gar nicht mehr zu erinnern, daß ein Hans Solberg überhaupt existirt. Aber, guten Tag muß ich ihr jedenfalls sagen« – und mit dem Entschlusse sprang er auch in's Haus und die ihm von Claus bezeichneten drei Treppen hinauf, wo er freilich so vollkommen unter das Dach gerieth, daß er kaum noch in dem niedern Gange aufrecht gehen konnte. Den Hut mußte er wenigstens abnehmen, um nicht oben anzustoßen. Es war dort auch ziemlich dunkel, denn die wenigen Dachfenster brauchte man nothwendig zur Erhellung der kleinen Zimmer; aber sein Auge gewöhnte sich bald an das hier herrschende Dämmerlicht, und schon an der zweiten Thür fand er den ihm von Claus bezeichneten Zettel: »Katharina Peters, Näherin«, mit ein paar kleinen Stiften befestigt, und klopfte auch dort ohne Weiteres an.
»Herein!« sagte eine jugendliche Stimme, und wie er die Thür öffnete und auf der Schwelle stand, sah er sich fast erschreckt in dem engen Raume um, denn so ärmlich hatte er sich Käthchen's jetzigen Aufenthalt doch nicht gedacht.
Das junge Mädchen saß, emsig mit ihrer Arbeit beschäftigt, am Fenster und mochte den Besuch eines jungen Herrn wohl am wenigsten erwartet haben. Sie fuhr erschreckt von ihrem Sitz empor, und die Arbeit noch immer in den Händen haltend, ohne sich aber weiter zu bewegen, stand sie, die Anrede erwartend. Jedenfalls beruhte der ganze Besuch auf einem Mißverständniß – der Herr war vielleicht in die falsche Thür gerathen.
Hans stand auf der Schwelle, sprach aber kein Wort, denn mit Staunen hing sein Blick an dem jungen Mädchen, das schüchtern, erröthend ihm gegenüber in seiner regungslosen Stellung verharrte, dem aber dieses Schweigen und stumme Anstarren natürlich mit jeder Secunde peinlicher werden mußte.
Und das war Käthchen, das Kind, mit dem er früher gespielt, ja, das er in frühester Zeit sogar auf seinen Armen herumgetragen?
»Was steht Ihnen zu Diensten?« brach endlich das junge Mädchen das ihr unheimlich werdende Schweigen.
Hans antwortete noch immer nicht gleich; ein wehmüthiges Lächeln stahl sich über seine Züge, und mit weicher, aber herzlicher Stimme sagte er endlich: »Kennen Sie mich nicht mehr, Käthchen? – Er hatte sie früher mit dem traulichen »Du« genannt, brachte aber die Anrede jetzt nicht mehr über die Lippen.
Käthchen sah erschreckt zu ihm auf. Sie war wirklich blaß dabei geworden, aber nur für kurze Momente; dann schoß ihr das Blut in einem Strahle wieder in die Schläfe zurück: »Herr von Solberg?«
»Früher sagten Sie Hans, Käthchen …«
»Ja, früher«, flüsterte Käthchen leise – »ich hörte, daß Sie zurückgekommen waren, und bin Ihnen so dankbar, daß Sie mich nicht ganz vergessen haben.«
»Gewiß nicht, Käthchen; aber nie im Leben hätte ich Sie wiedererkannt, so sehr haben Sie sich verändert. Sie waren noch ein Kind, als ich das Vaterhaus verließ …«
»Lange Jahre sind darüber hingegangen«, sagte das junge Mädchen scheu – »aber wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen, Herr von Solberg? Ich freue mich so, Sie nach Ihren langen und gefahrvollen Reisen wieder zu sehen.«
Sie hatte ihre Arbeit auf den kleinen Tisch vor sich gelegt, der ihr zum Nähtisch diente, und ging nach einem Stuhle; Hans kam ihr zuvor.
»Und ist das der ganze Gruß, Käthchen?« sagte er herzlich. »Bekomme ich nicht einmal eine Hand? Ich habe erst ganz kürzlich erfahren, daß Sie überhaupt noch hier in der Stadt sind; ich hörte, Sie wären mit einer Familie nach Italien gegangen.«
»Nach Italien?« – Käthchen schüttelte langsam mit dem Kopfe, reichte aber doch dem früheren Spielgefährten, wenn auch nur schüchtern, die Hand, und Hans, der sie in seiner rechten hielt und mit der linken streichelte, sagte herzlich:
»Käthchen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie weh es mir that, Sie nicht mehr bei uns im Hause zu finden – ich weiß nicht, was vorgefallen ist«, setzte er rasch hinzu, als er den schmerzlichen Zug erblickte, der durch ihr Antlitz zuckte, »aber ich weiß, daß Sie keine Schuld tragen. Ich brauche Sie nur anzusehen, und ich fühle das – mir glauben Sie das gewiß, Käthchen, denn wir sind ja von früh auf Gespielen gewesen, und wenn wir uns auch manchmal gezankt haben«, setzte er wehmüthig hinzu, »blieben wir doch immer gute Freunde.«
»Herr von Solberg« – sagte Käthchen und suchte ihre Hand frei zu machen; Hans ließ sie aber noch nicht.
»Herr von Solberg,« sagte er leise – »wie fremd und unnatürlich das klingt! Aber ich fühle auch recht gut, daß ich kein Recht auf einen andern Namen habe. Nur das glauben Sie mir, daß, was auch in unserem Hause vorgefallen sein mag, ich demselben fern stehe. Für mich sind Sie noch immer mein kleines Schwesterchen aus jener Zeit, und wenn ich Sie jetzt hier sehe« – und sein Blick schweifte beklommen in dem ärmlichen, ja dürftigen Raum umher – »kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie weh mir dabei ums Herz ist.«
Er ließ jetzt ihre Hand frei, und Käthchen, die ihrige zurückziehend, flüsterte:
»Bitte lasten Sie das, Herr von Solberg; ich danke Ihren Eltern so viel, so unendlich viel – ich könnte es ihnen nie, nie vergelten, und seien Sie versichert, daß allein das Gefühl in meinem Herzen vorherrscht und vorherrschen wird, so lange ich lebe. Was dort vorgefallen? Nichts, wenigstens nichts, wegen dessen ich mir auch nur den leisesten Vorwurf zu machen hätte. Es muß allein ein Mißverständniß gewesen sein, ich wüßte nichts anderes; aber es war zu meinem Glück, denn ich fühle jetzt recht gut, daß mich das Schicksal in eine Stellung gehoben hatte, in der ich mich doch auf die Länge der Zeit nicht halten konnte. Der Zeitpunkt, wo ich daraus schied, mußte einmal kommen und hätte mich vielleicht schwer betroffen, wenn ich in Jahren weiter vorgerückt gewesen wäre. Jetzt, da ich noch jung bin, wurde es mir leicht, und durch die Güte Ihrer Eltern, die mich in allem unterrichten ließen, bin ich in den Stand gesetzt, mir mein Brod in ehrenvoller Weise zu erwerben.«
»Aber, liebes Käthchen«, sagte Hans, dem noch immer in dem ärmlichen Raume ein beängstigendes Gefühl auf der Brust lag, während er doch nicht wußte, wie er dem Worte geben sollte, ohne das arme Kind zu verletzen – »wie schwer müssen Sie jetzt arbeiten, und waren das doch sonst nicht gewohnt!«
»Und soll ich ein Vorrecht vor Anderen meines Gleichen haben?« sagte Käthchen ernst. »Ja, ich muß arbeiten, Herr von Solberg, aber wenn Sie das Gefühl kennten, sich selber zu erhalten und ehrlich, keinem Menschen für Hülfe zu Dank verpflichtet, durch's Leben zu bringen, Sie würden mich wahrlich nicht bedauern.«
»Ich kenn' es, Käthchen, ich kenn' es«, rief Hans bewegt »und ich kann begreifen, wie sich ein starker Geist davon gehoben fühlt! Aber trotzdem«, setzte er leiser hinzu, »ist es mir ein bitteres Gefühl, daß ich Sie gerade darauf angewiesen sehe. Daß Sie es können, haben Sie gezeigt, aber, liebes Käthchen, zürnen Sie mir nicht, wenn ich die Frage an Sie richte – denken Sie, daß Ihr Bruder zu Ihnen spricht –, sollte es nicht ein Mittel geben, Ihnen Ihre Anstrengungen zu erleichtern, ohne daß sie das Geringste an ihrem Werth verlören? Haben Sie noch ein klein wenig Vertrauen zu mir, noch eine Spur von der alten geschwisterlichen Liebe, so sagen Sie mir so frei und offen, wie ich Ihnen hier gegenüberstehe: kann ich Ihnen in irgend etwas helfen, und sind Sie nicht zu stolz, meine Hülfe anzunehmen?«
Käthchen's Antlitz hatte sich bei diesen Worten wieder mit Purpurröthe gefärbt. Es war, als ob sie hastig darauf erwidern wollte; aber wie sie dem jungen Mann in das ehrliche, treue Auge sah, hielt sie inne, und nur mit leiser Stimme sagte sie: »Ich glaube, daß Sie es gut mit mir meinen, Herr von Solberg; ja, ich bin es fest überzeugt, und wenn von irgend einem Menschen auf der Welt, würde ich Hülfe von Ihnen annehmen – wenn ich eben deren bedürfte. Das ist aber nicht der Fall. Sie sind im Irrthum, wenn Sie glauben, daß mich irgend welche Sorgen quälten oder gar der Mangel bei mir eingekehrt sei; ja,« setzte sie mit einem freilich erzwungenen Lächeln hinzu, »ich habe sogar so viel über das verdient, was ich zum Leben brauche, daß ich in allernächster Zeit im Stande sein werde, mir eine gute Nähmaschine anzuschaffen, und wer sich solche Ausgaben erlauben darf, ist sicher nicht in Not.«
»Darf ich Ihnen eine Nähmaschine schicken, Käthchen?« bat Hans. »Machen Sie mir die Freude …«
Das junge Mädchen schüttelte leise mit dem Kopfe. »Nein,« sagte sie, »das geht nicht, und ich darf es nicht annehmen; aber eine Bitte habe ich doch an Sie – wenn Sie mir deshalb nicht zürnen wollen …«
»Was ist es Käthchen?« rief Hans rasch. »Sprechen Sie es frei heraus! Sie glauben nicht, wie glücklich Sie mich damit machen!«
»Sie dürfen mich aber auch nicht mißverstehen,« sagte das junge Mädchen leise. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich freue, Sie wiedergesehen zu haben. Es ist nicht allein eine Erinnerung aus alten, lieben Zeiten, nein, es ist mehr, es beweist mir, daß Sie das Kind nicht ganz vergessen haben, das damals in Ihren Kreisen weilen durfte. Weiter dürfen wir aber nicht gehen, und die Bitte, die ich an Sie richte, Herr Baron, ist die, daß Sie nicht wieder hier herauf in meine Stube kommen.«
»Käthchen!« rief Hans wirklich erschreckt.
»Ich habe nichts auf der Gotteswelt, als meinen guten Namen,« fuhr das junge Mädchen mit leiser Stimme fort, »und die Beweise sind mir aufgedrungen worden, daß die Menschen nun einmal immer gleich das Schlimmste von ihren Nebenmenschen denken. Thun Sie mir die Liebe, Herr von Solberg …«
»Es wäre das Letzte gewesen, was ich gewünscht hätte, das Sie von mir erbäten, Käthchen,« sagte Hans wehmütig; »aber ich fühle auch, daß Sie Recht haben, und ich hätte vielleicht gar nicht heraufkommen sollen – ich hatte mir ja nichts Böses dabei gedacht.«
»Ich weiß es, ich weiß es,« rief Käthchen rasch, »und ich bin Ihnen für diesen Besuch recht von Herzen dankbar!«
»Gut denn, hier haben Sie meine Hand, Käthchen. Ich sage freilich nicht auf Nimmerwiedersehen, denn es würde mir zu weh thun, gar nichts wieder von Ihnen zu hören, aber ich werde Ihre Wohnung nicht wieder, ausgenommen in Damengesellschaft – den Vorbehalt müssen Sie mir gestatten – betreten.«
»In Damengesellschaft, Herr von Solberg?«
»Ich meine, nicht allein oder mit einem andern Herrn – es ist nur eine Clausel, Käthchen –, aber in dem Sinne, wie Sie es verlangt haben, soll Ihre Bitte vollständig und ohne Hintergedanken erfüllt werden; befriedigt Sie das?«
»Ja, Herr von Solberg, vollkommen.«
»Und nun leben Sie wohl, mein liebes, gutes Käthchen, und seien Sie fest versichert, daß die Erinnerung an unsere Jugendzeit und an die Tage und Jahre, die wir dort zusammen verlebten, noch zu den schönsten gehört, die ich im Herzen trage – und die hat mich auch besonders herüber und zurück geführt in die Heimath. Ich glaubte, ich fände alles so wieder, wie ich es verlassen, und sehe erst jetzt, wie ich mich getäuscht. Es ist alles anders geworden, aber nichts besser, und die Leute haben Recht, die da behaupten, der Mensch bekäme nur einmal das Heimweh und dann nie mehr im Leben. Ich glaube, wenn ich jetzt wieder zurück nach dem Stillen Meere gehe, sehne ich mich nie zum zweiten Mal zurück in's liebe deutsche Vaterland.«
»Sie haben Ihre Eltern …«
»Ja, und trotzdem – aber leben Sie wohl, Käthchen, ich sehe, daß Ihnen meine Gegenwart peinlich ist; das darf nicht sein.«
»Herr Baron, Sie sind mir böse geworden …«
»Ich Ihnen, Käthchen? Nein, bei Gott nicht, und ich wollte nur, daß ich es Ihnen beweisen könnte! Aber Eins versprechen Sie mir – das ist die Bitte, die ich an Sie richte –: wenn Sie jemals eines Menschen Hülfe brauchen, dann wenden Sie sich getrost an mich – wie an einen Bruder. Wollen Sie das?«
»Ja, Herr Baron,« sagte Käthchen bewegt, indem sie ihre Hand in die seine legte, »ich verspreche Ihnen das.«
»Schön, das ist mir wenigstens eine Beruhigung – und nun, mein liebes Schwesterchen, auf Wiedersehen!«
Er drückte ihr herzlich die Hand, die er doch in der seinen hielt, und verließ dann rasch die Stube, um sich jetzt die etwas sehr dunkle Treppe hinunter zu fühlen. –
Unten bei Klingenbruchs ging es indessen nicht so ruhig zu wie in dem stillen Stübchen der armen Näherin.
Das Testament sollte heute Morgen im Beisein der Verwandten wie aller Solcher, die Anspruch daran zu haben glaubten, geöffnet und vorgelesen werden, und der Oberstlieutenant war deshalb hinüber in die Wohnung der Verstorbenen gegangen, um dem wichtigen Acte als nächster Verwandter beizuwohnen. Die Frauen blieben indeß zu Hause, aber in welcher Spannung und Erwartung, läßt sich denken, und mit fast peinlicher Angst horchten sie nach der Klingel, ob denn der Vater, der ihrer Meinung nach ewig lange ausblieb, noch nicht zurückkäme.
Die drei Damen waren in tiefer Trauer. Schon bei der Beerdigung der Tante, deren Sarg sie in einer großen Glaskutsche folgten, hatten sie die neuen Kleider fertig gehabt – die Stadt mußte doch sehen, daß sie den Tod der nahen Verwandten auch beweinten –, und wie reizend waren die neuen Hüte geworden, und wie hübsch stand das Schwarz dem überdies zarten Teint der beiden jungen Damen! Henriette hatte sich doch noch schließlich für die großen Ohrringe entschieden. Und der Vater kam noch immer nicht – konnte denn irgend etwas vorgefallen sein, was die Eröffnung des Testaments verhindert hätte? Es ließ sich das doch nicht gut denken. Hätten sie den Oberstlieutenant gesehen, wie er ganz ruhig bei Baumanns saß und ein Glas Bier trank, es wäre ihm trotz der Trauer bös daheim ergangen! Aber die Thatsache war, daß er selber keinen großen Drang fühlte, nach Hause zurückzukehren, denn die Kunde, die er dahin brachte, war auf der einen Seite wohl gut, hatte aber auf der andern auch einen bedeutenden Haken, und er mußte erst ein klein wenig mit sich in's Klare kommen – er hoffte das wenigstens –, um die Sache, so viel es anging, zu mildern.
Leider fiel ihm aber in der Restauration auch kein Ausweg ein; es gab eben keinen, denn ein Geheimniß konnte das Testament nicht bleiben, und da er schließlich nicht länger zögern durfte – wußte er doch recht gut, wie sehnsüchtig und ungeduldig er zu Hause erwartet wurde –, stand er endlich mit einem Seufzer auf, zahlte seine kleine Zeche und schritt dann langsam seiner eigenen Wohnung zu.
»Da kommt der Vater!« rief Flora, die wohl schon fünfzigmal aus dem Fenster gesehen hatte, um sein Nahen anzumelden. »Aber er geht so langsam, als ob er Blei unter den Füßen hätte!«
»Oh Du lieber Gott, das ist ein böses Zeichen!« rief Henriette und wurde todtenblaß.
»Na, ich hab' es vorhergesagt,« nickte die Frau Oberstlieutenant in böser Ahnung mit dem Kopfe; »wundern sollt' es mich gar nicht.«
»Aber, beste Mama, es ist ja doch gar nicht denkbar – gar nicht möglich!«
»Möglich ist alles, meine Tochter!« sagte die Frau Oberstlieutenant bestimmt, »und bei der Frau, Deiner Tante – Gott hab' sie selig –, nun schon einmal gar! Aber wir werden es ja jetzt gleich hören; ist denn der Vater noch nicht in's Haus? Der Mann kann einen zur Verzweiflung treiben!«
»Eben tritt er herein, Mama!« rief Flora, die schon wieder im Fenster lag; »nein, er spricht erst noch unten in der Thür mit dem Apotheker.«
»Mit Herrn Semmlein?« rief Henriette rasch.
»Ja, da unten stehen sie zusammen, jetzt kommt er herein. Ich sage Dir, Mama, mir klopft das Herz in der Brust wie ein Schmiedehammer.«
Flora hatte das Fenster geschlossen, und Henriette war aufgesprungen, um den Vater einzulassen. Sie öffnete die Vorsaalthür und hörte dabei, wie Jemand von oben die Treppe herunterkam. Er mußte ganz oben gewesen sein, denn er war schon auf der zweiten Treppe – und der Vater ließ sich noch immer nicht sehen. Die Mutter hatte Recht: er konnte einen wirklich zur Verzweiflung treiben.
Jetzt bog der schwere Schritt von oben um den letzten Treppenabsatz, und – »Herr von Solberg!« rief Henriette wirklich erstaunt aus, als sie in dem Herrn den jungen Mann erkannte, »wollen Sie zu uns?«
»Mein gnädiges Fräulein,« erwiderte Hans, der sich jetzt gar nicht in der Stimmung fühlte, eine gleichgültige Unterhaltung anzuknüpfen, ich freue mich, Sie begrüßen zu können, aber ich wollte Sie nicht belästigen; ich hatte oben eine Besorgung auszurichten. Sie haben so schweren Verlust erlitten« – die Trauerkleider mahnten ihn daran.
»Ach Gott, ja!« sagte Henriette; »aber da ist der Vater, wir haben ihn schon so erwartet.«
»Ich will Sie nicht stören. Guten Morgen, lieber Oberstlieutenant!«
»Ah, guten Morgen, Herr von Solberg! Wie geht es? Waren Sie bei mir?«
»Nein, ich hatte nur hier im Hause etwas zu thun. Auf Wiedersehen, später!« und mit einer Verbeugung gegen die junge Dame, während er ihrem Vater die Hand schüttelte, sprang er jetzt die von hier hellen Stufen hinab.
Henriette sah ihm etwas verdutzt nach. Wo in aller Welt war der junge Solberg da oben gewesen? In der zweiten Etage nicht, denn sie hatte ihn ja schon auf der oberen Treppe gehört. Aber des Vaters Anwesenheit lenkte auch in diesem Moment ihre Gedanken rasch in eine andere Bahn.
»Aber, Papa, wir haben Dich schon so lange erwartet!«
»Ja, mein Kind,« sagte der Oberstlieutenant, »es liegt mir heute so schmählich im Kreuz, ich kann kaum von der Stelle, sonst wäre ich schon vor einer Viertelstunde da gewesen. Ist die Mutter zu Hause?«
»Gewiß, Papa, sie ist in der Stube.«
»Schön, mein Kind, schön.«
»Und ist das Testament eröffnet?«
»Gewiß, es war ja Termin angesetzt – versteht sich. Na, dann komm nur herein,« sagte er mit einem Seufzer, denn er wußte, daß er jetzt in's Feuer mußte.
»Aber Heinrich, wo, um Gottes willen, bist Du so lange gewesen? Nun, wie ist es?« rief ihm seine Frau schon auf der Schwelle entgegen.
»Ja, mein liebes Herz,« sagte der Oberstlieutenant, indem er seine Dienstmütze auf die Kommode legte und den Degen abschnallte und in die Ecke stellte – »die Gerichte nehmen sich bei so etwas Zeit, das muß alles seinen geregelten Gang gehen, und dann ließ uns der Präsident oder Director des Missionsvereins auch wohl noch eine halbe Stunde warten.«
»Aber ich bitte Dich um Gottes willen, was hat denn der damit zu thun? Und auf den brauchten sie doch wahrhaftig auch keine Minute zu warten; das hätte ich gar nicht gelitten!« rief die Frau.
»Ja, mein Herz, ich hatte nur gar nichts dabei zu bestimmen und mußte mich dem fügen, was die Gerichte anordneten.«
»Und was haben die bestimmt, Mann? Laß nicht jedes Wort aus Dir herausziehen – es ist ja rein um wahnsinnig zu werden! Was steht in dem Testament? Wie viel hat die Tante hinterlassen?«
»Nun, mein Kind,« sagte der Oberstlieutenant mit einem Seufzer, »das Vermögen ist eigentlich nicht so groß, als man hier und da erwartet hatte.«
»Nun, was hab' ich gesagt?« rief die Frau Oberstlieutenant und ihre Augen blitzten wie in unheimlichem Feuer. »Mir wolltet Ihr aber immer nicht glauben!«
»Aber klein ist es auch nicht,« sagte von Klingenbruch; »das Ganze, ohne das Silberzeug, beläuft sich auf achtzigtausend Thaler.«
»Achtzigtausend Thaler?« rief seine Frau. »Nun, das ist mehr, als ich erwartet hatte! Und hat sie noch einen andern Erben außer uns?«
»Allerdings, mein Herz, noch verschiedene,« sagte der Oberstlieutenant mit einem Seufzer, »und es scheint, als ob der Missionsverein sehr gut gewußt hätte, sich in ihrer Gunst festzusetzen.«
»Oh, diese scheinheiligen Creaturen! Also denen wirft sie das Geld in den Hals?«
»Ich bin ebenfalls der Meinung, daß sie es besser hätte anwenden können, aber hier habe ich den Zettel, auf den ich mir alles notirte, wie es vorgelesen wurde.«
»Laß einmal sehen,« rief seine Frau ungeduldig und wollte ihm den kleinen Papierstreifen abnehmen.
»Du wirst es nicht lesen können, Schatz,« sagte aber ihr Gatte, »ich habe es mir durch Zeichen notirt. Also vor allen Dingen bekommen drei noch lebende Verwandte ihres seligen Mannes zwanzigtausend Thaler.«
»Zwanzigtausend? Das ist ja schon der vierte Theil!«
»Aber ich glaube, sie hat recht dabei gehandelt, denn aus deren Familie hat sie ja doch das ganze Geld.«
»Und das Andere?«
»Zehntausend bekommt der Missionsverein.«
»Es ist scheußlich!«
»Fünftausend das Alte-Weiber-Spital hier, das sogenannte Frauen-Asyl.«
»Und das ist so schon eine reiche Stiftung!«
»Dreitausend, mit Leinenzeug und Möbel, ihre alte Magd, mit der Bedingung, den Hund und die Katze bis an ihr Ende zu pflegen.«
»Mit dem ganzen Leinenzeug?« rief seine Frau, die Hände zusammenschlagend, während die beiden jungen Damen in peinlichster Spannung dem Berichte lauschten.
»Sechstausend Thaler sind noch für verschiedene kleine Legate ausgesetzt.«
»Na, das sind ja aber schon achtzigtausend!«
»Nein, noch nicht, mein Herz, erst vierundvierzigtausend. Dann bekomme ich ein Legat von sechstausend Thalern, oder vielmehr nur die Zinsen, da es allein auf meine Person und nach meinem Tode auf den Missionsverein zurückfällt.«
»Und die Kinder? Hat denn das alte – Gott verzeih' mir die Sünde – hat denn die alte Person – Gott hab' sie selig – gar nicht an die Kinder gedacht?«
»Oh ja, mein Herz, Henriette und Flora bekommen jede fünfzehntausend Thaler.«
Die beiden jungen Damen athmeten hoch auf.
»Aber bis zu ihrem fünfzigsten Jahre nur die Zinsen,« fuhr der Oberstlieutenant fort; »dann wird ihnen das Capital ausgeliefert weil dann, wie es ausdrücklich im Testament bemerkt ist, eine Heirat nicht mehr stattfinden kann.«
»Na, wenig genug ist es,« sagte die Mutter.
»Aber es hat noch eine böse Clausel,« setzte der Oberstlieutenant mit einem etwas scheuen Blick auf die Töchter hinzu: »die Zinsen werden ihnen nur ausgezahlt, so lange, sie – unverehelicht bleiben.«
»Was?« schrieen alle Drei wie aus einem Munde.
»Sobald sich Eine von ihnen, gegen den Willen der Erblasserin, verehelichen sollte, fällt ihr Antheil zurück und ebenfalls an den Missionsverein.«
»Aber das ist ja gar nicht möglich – nicht denkbar!« kreischte die Frau Oberstlieutenant, während die beiden jungen Mädchen todtenbleich geworden waren. »Wer kann ihnen wieder etwas wegnehmen, was sie einmal geerbt haben?«
»Nach dem fünfzigsten Jahre nicht mehr, bis dahin aber behält ein Curator das Capital in Händen,« sagte seufzend ihr Gatte; »das Testament ist einmal so gemacht, und wenn ich es auch selber hart finde, ändern läßt sich kein Titelchen daran.«
»Nun – was hab' ich gesagt?« rief jetzt die Frau Oberstlieutenant mit wild aufkochendem und nicht mehr zurück zu dämmendem Zorn. »Hatt' ich Recht oder nicht? Und deshalb hat der alte Drache die Kinder bis aufs Blut gepeinigt und geärgert!«
»Aber Veronica!«
»Ach was, Veronica!« – Die Frau war einmal im Gange, und nichts anderes als ein Schlagfluß hätte sie in diesem Augenblick können verstummen machen. »Deine Schwester, ja wohl – ein alter, frommthuender Geizteufel war es, so hat sie sich gezeigt, als sie noch lebte, und so setzt sie's im Grabe fort!«
»Aber ich bitte Dich – vor den Kindern!«
»Ach was, vor den Kindern – gerade an den Kindern hat sie sich versündigt, versündigt in schmählicher, nichtsnutziger Weise, und wenn sie ihren Mann in die Grube hinein ärgern konnte, muß sie dann noch hinterher alle Männer schlecht machen und ihren eigenen Nichten eine Heirath verbieten?«
»Aber sie verbietet ihnen ja doch keine Heirath und kann das nicht!«
»Und von was sollen sie heirathen, heh? Von Deinen paar hundert Thalern jährlich, die Du selber nothwendig zum Leben brauchst? – und wenn Du einmal stirbst, sitze ich da mit gar nichts. Oh, diese alte Gifttrute, wie sie sich das alles ausgerechnet und zusammengezählt hat, und wie freundlich sie immer that, wenn sie einmal hierher kam – so eine falsche Katze!«
»Sie ist tobt, Veronica, und liegt in ihrem Grabe!«
Die Frau hatte ein recht häßliches Wort auf den Lippen, aber selbst in ihrem Hasse und Zorn fühlte sie, daß sie das nicht vor dem Gatten aussprechen durfte. Sie klemmte ihre Unterlippe fest zwischen die Zähne und zog die buschigen Brauen fest zusammen. Aber ihre Gedanken schweiften rasch nach etwas anderem hinüber, das ihr ebenfalls durch den Kopf ging.
»Und wer bekommt das Silberzeug? Sie hatte ganze Schränke voll davon.«
»Das soll eingeschmolzen und ein Crucifix davon gegossen werden, das für den Altar der Sebastianskirche bestimmt ist.«
»Das ist recht,« sagte die Frau Oberstlieutenant mit bitterem Hohne und stechenden Augen, »die alte Heuchlerin! Und damit glaubt sie, daß sie sich einen Sperrsitz im Himmel kauft – ob sie sich aber nicht irrt – ob sie sich nicht irrt! Und die Kinder will sie mit Gewalt zu alten Jungfern machen – nein, es ist scheußlich – es ist himmelschreiend!« – Und jetzt waren ihre Wuthausbrüche erschöpft, und ihr Taschentuch herausreißend, warf sie sich in die Sophaecke und überließ sich ihrem Schmerze – ihrer Enttäuschung.
Den beiden jungen Mädchen wäre es weit eher wie Weinen zu Muthe gewesen, aber das Ganze brach noch zu neu, zu überwältigend über sie herein; sie konnten das ganze Unglück noch nicht fassen, nicht begreifen, und nur mit stieren Blicken hingen sie an den Lippen des Vaters, immer noch neues Unheil, eine neue Bosheit dieser Rabentante erwartend. Dem Vater aber wurde es jetzt selber unheimlich bei den Seinen, denn wenn er sich auch tief verletzt durch die rohen Aeußerungen über die Verstorbene fühlte, so wußte er einmal, daß er selber keine Macht über die Zunge seiner Frau hatte, und war andererseits auch wirklich selber schmerzlich in seinen Hoffnungen enttäuscht worden. Die Schwester hatte nicht hübsch an der Familie gehandelt, sagte er sich; aber wie hatte es früher die Familie mit dieser nämlichen Schwester gemacht? Sie war einfach einem alten, reichen Manne geopfert worden, um sie erstens zu versorgen und aus dem Wege zu bekommen, und dann auch wieder in der Hoffnung, durch jene Heirath Geld und Capital in das etwas sehr heruntergekommene Geschlecht der Klingenbruchs zu bringen. Sollte sie, die Geopferte, der Familie etwa dafür dankbar sein? Ihr Leben war ihr verbittert und gestohlen worden, und die Geistlichen, die das rasch herausgefunden, wußten solche Stimmung gut zu benutzen und auszubeuten.
Der Oberstlieutenant hatte sich übrigens kaum in sein Zimmer zurückgezogen, als sich auch der starre Schreck seiner beiden Töchter löste. Worte fanden sie allerdings nicht gleich, aber dafür Thränen, und während sie sich in die Arme fielen und einander fest umschlangen, schluchzten sie laut und heftig und konnten sich gar nicht wieder zufrieden geben.
Mux, der kleine Schreiber des Notars Püster, hatte mehrere Wege in der Stadt gehabt und kehrte eben nach Hause zurück, er war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sich viel um die ihm Begegnenden zu kümmern. Es passirte ihn jetzt ein Mann, sah ihn genau an, blieb stehen, als er vorüber war, sah ihm einen Moment nach und rief dann:
» Oh Sir – holla! Sie da!«
Mux, der die Stimme so nahe hinter sich hörte, drehte sich unwillkürlich um und bemerkte jetzt, daß der Fremde wirklich ihm zuwinke und ihn zu sprechen wünsche; er blieb also stehen, um ihn zu erwarten.
»Sie da, little fellow,« sagte der Fremde, wie er heran war, »sind Sie das nicht, der einmal an Purpeß ( on purpose, absichtlich) zu mir in mein lodging kam und sich nach einem Namen erkundigte?«
»Ach ja,« rief Mux, der sich bei der sonderbaren Ausdrucksweise rasch auf den Mann besann, – »wohnen Sie nicht beim Herrn Rentamts-Kassirer Bollig?«
» Of course, thu' ich – aber was ich Sie fragen wollte, wie war der Name gleich – ich habe es in meinem mind herüber und hinüber getürnt ( to turn in one's mind, sich auf etwas besinnen) und ich komme nicht wieder drauf.«
»Der Name?« sagte Mux, sich jetzt selber besinnend. »Ja, warten Sie einmal, wie hieß denn der Mann gleich – ich komme jetzt selber nicht darauf, aber ich muß ihn mir damals in mein Taschenbuch geschrieben haben. Wenn Sie mir erlauben, sehe ich einmal gleich nach.«
»Seh'n Sie nur zu,« sagte der Mann, indem er – beide Hände in den Taschen – seinen Tabakssaft bis ziemlich mitten auf den Fahrweg spritzte – »ich habe plenty Zeit und gar nichts zu thun.«
Mux hatte indessen sein kleines Taschenbuch herausgenommen und fing an darin zu blättern; aber es standen so viele Notizen darin, daß er nicht gleich auf die richtige kam. »Strohmeier?« sagte er endlich – »der Name steht hier.«
»No,« erwiderte der Amerikaner kopfschüttelnd, »der war es nicht – einen Strohmeier habe ich in meiner ganzen acquaintance nicht.«
»Hm – Christoph Busch – nein, der war es auch nicht, der wohnt hier – ich habe es mir doch notirt, denn ich konnte ihn selber nicht behalten – halt, ich glaube, das muß er sein – war es nicht Rehberg?«
»I'll be damn'd, if that aint him!« rief der Amerikaner, indem er beide Hände zugleich aus der Tasche zog und mit der rechten, geballten Faust in seine linke, offene Hand hineinschlug. »Jetzt weiß ich, wie er heißt, und auf den Namen habe ich mich schon so lange besonnen, daß ich abends manchmal gar nicht einschlafen konnte und mich im Bette herüber und hinüber getürnt habe! Rieberg (Rieberg, die englische Aussprache von Rehberg), that's the name, that's the fellow!«
»Und erinnern Sie sich vielleicht, was aus ihm geworden ist?« fragte Mux, der sich jetzt ebenfalls wieder auf alle die Einzelheiten besann.
»Was aus ihm geworden ist? No,« sagte der Amerikaner; »aber er ist hier – in der Stadt.«
»Hier in Rhodenburg?«
» To be sure – eben vor fünf Minuten, keine Minute vorher, ehe wir miteinander miteten ( to meet, begegnen), begegnete ich ihm wieder.«
»Und wohin ging er?« fragte Mux rasch.
»Dort hinüber; wollen wir einmal dahin gehen? Vielleicht ketschen ( to catch, fangen) wir ihn. Ich habe ihn schon früher einmal angeredet, er kam mir gleich so bekannt vor …«
»Und fragten Sie ihn nicht nach seinem Namen?«
» Yes, of course, aber er nannte mir einen ganz andern.«
»Und welchen?«
»Well, den hab' ich natürlich vergessen; der Henker soll alle die fremden Namen in mind behalten! Aber das thut nichts, vielleicht treffen wir ihn noch einmal – hierhinzu ist er.«
Die beiden Männer waren indeß, der von dem Amerikaner angegebenen Richtung folgend, zurückgegangen und suchten dort mehrere Straßen ab, aber sie begegneten dem Herrn nicht wieder.
»By the bye,« sagte der Amerikaner, »was ich Sie gleich fragen wollte, haben Sie denn eine Suht ( suit, Klage) gegen den Mr. Riberg, daß Sie ihm so gern finden wollen?«
»Nein,« sagte Mux, mit dem Kopf schüttelnd, »es hat sich nur Jemand bei uns nach ihm erkundigt und Auskunft über ihn verlangt, und deshalb kam ich auch neulich zu Ihnen, weil mir erzählt wurde, daß Sie lange in Amerika gewesen wären.«
»Yes,« nickte der Mann selbstgefällig vor sich hin; »ich war einen ganzen stretch drüben und gehe auch wieder hinüber, denn hier in dem Tschermany ist es doch eigentlich nichts – kein business, kein Leben, kein nothing – es ist nirgends besser als drüben.«
»Ja, mein lieber Herr,« sagte jetzt Mux, der doch wohl einsehen mochte, daß sie einen vergeblichen Weg gemacht hatten, »hierher scheint sich der Herr Rehberg nicht gewandt zu haben, oder er ist auch vielleicht in irgend ein Haus oder in einen Laden getreten, und darauf kann ich nicht warten, denn ich habe zu Hause zu thun. Aber glauben Sie nicht, daß es Ihnen möglich sein wird, den betreffenden Namen des Herrn zu erfahren?«
»Nun, ich denke, er heißt Rieberg …«
»Ja, allerdings; aber es wäre doch möglich, daß er sich hier anders nennt.«
» Well, jetzt haben Sie wieder Recht, und das thut er auch; aber das krieg' ich 'raus, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Und dürfte ich Sie dann bitten, wenn Sie es heraus haben, vielleicht beim Herrn Notar Püster den Namen anzugeben? Sie thun ein gutes Werk.«
»Notar Püster – verfluchter Name! Aber den behalt' ich; wo wohnt er?«
»Im Eckfenster.«
»Im Eckfenster?«
»Das spitze Haus am Brink …«
»Oh, jetzt weiß ich's – wo das Kaffeehaus unten drin ist! Well, das wollen wir schon fixen.«
»Aber irren Sie sich nicht auch vielleicht?«
»Irren – wie so? Einen mistake meinen Sie? No, das glaub' ich nicht, es müßten denn zwei Menschen herumlaufen, die Einer genau so ausseh'n wie der Andere, und das giebt's nicht. No, das krieg ich jetzt heraus – habe so weiter nichts in der Gotteswelt on hand, und passire meine Zeit ( pass my time) dabei.«
»Also guten Morgen, Herr … – wie war doch gleich Ihr Name?«
»Mr. Hummel – Philipp Hummel, Esquire …«
»Danke Ihnen – also guten Morgen, Herr Hummel!«
»Guten Morgen, guten Morgen – wie heißen Sie eigentlich?«
»Mux …«
»Mux? – bless my soul, das nimmt nicht viel Zeit, um den auszusprechen, der ist gleich fertig – also guten Morgen, Mr. Mux!« – Damit schüttelte er ihm die Hand, während er ihm in dem nämlichen Moment den Tabakssaft wieder fast über die Schulter hin auf die Straße spritzte, schob dann seine Hände in die Taschen und schlenderte die Gasse hinab.