Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Tafel war im Solberg'schen Hause eben aufgehoben, der Kaffee wurde gebracht, und Hans hatte sich an dem heute wirklich prachtvollen und heißen Apriltage hinaus auf die offene Gartenterrasse gesetzt, um dort seine Cigarre zu rauchen. Trotz aller Rathschläge des Kammerherrn und der Beschwörungen seiner Mutter lachte er nur immer, wenn man ihm vorschlug, den Versuch zu machen und das Rauchen zu lassen, da es in der That nicht gentil sei. Se. Königliche Hoheit duldeten ebenfalls in ihrer Nähe nicht die Ausübung dieses Lasters und könnten sogar den Geruch nicht vertragen.
»Dann soll er um Gottes willen nicht selber rauchen!« meinte Hans in wirklich profaner Weise. »Aber ich begreife nicht, Mama, wie mich das geniren könnte!«
»Aber Se. Königliche Hoheit …«
»Mag ein sehr guter Herr sein; aber was geht das mich an!«
»Und wenn Du nun zu Hofe befohlen wirst?«
»Erstlich, Mama, kann ich nicht befohlen werden,« sagte Hans, »denn ich stehe in keinem dienstlichen Verhältnisse dazu, und dann habe ich überhaupt gar nicht die Absicht, mich vorstellen zu lassen, wie ich auch eben so wenig weiß, ob dem Fürsten an meiner Gesellschaft etwas gelegen ist.« – Damit waren denn derartige Unterhaltungen gewöhnlich abgebrochen, ohne die gewünschte Wirkung auf den Sohn hervor zu bringen. Er ließ sich in seinem Genuß nicht stören, und während Graf Rauten mit Franziska jetzt vor der Terrasse auf dem gelben Kiesgang Arm in Arm hin und her schritten, blies er den blauen Rauch behaglich in die Luft, nippte seinen Kaffee dazu und blätterte in den verschiedenen, auf dem Tische vor ihm ausgestreuten Zeitungen und Journalen.
Die Eltern, hatten sich, wie stets nach Tische, auf kurze Zeit zurückgezogen, um ein Mittagsschläfchen zu halten; das dauerte aber nie sehr lange, und als die Mutter jetzt wieder, wenige Minuten vor ihrem Gatten, mit einer sehr rothen linken Backe auf der Terrasse erschien, sagte sie gleich zu Hans: »Ach, mein Sohn, was ich Dir vergessen hatte schon bei Tisch zu sagen: wir sind auf Donnerstag zu Schallers zu einer Art thé dansant geladen.«
»Ich doch nicht, Mama?« rief Hans, sie etwas bestürzt ansehend.
»Du – gewiß,« bestätigte die Mutter, »und ich glaube sogar, daß es Deinetwegen besonders oder hauptsächlich arrangirt ist, um Dich gleich ein wenig in unsere Gesellschaft einzuführen.«
»Aber wie käme ich dazu, Mama? Ich kenne die Leute ja gar nicht und muß Dir aufrichtig gestehen, ich habe gar keine besondere Lust, hier große und neue Bekanntschaften zu machen, wenigstens noch nicht in der ersten Zeit. Ich hatte mich so lange Jahre darauf gefreut, die ersten Monate so mit Euch in aller Ruhe und häuslichen Stille zu verbringen, und nun soll mir die ganze Geschichte zu Wasser werden! Fränzchen ist mir auch schon total abhanden gekommen, denn die bekümmert sich jetzt nur noch um ihren Bräutigam – Liebesleute sind überhaupt und allbekannt elende Gesellschafter –, und beginnen erst wieder einmal die Gesellschaften, dann hat dieses prachtvolle Stillleben ein Ende und das ganze gesellschaftliche Elend, für das ich außerdem nicht einmal mehr passe, bricht herein und verschlingt und verdaut uns.«
»Hans, Du könntest passendere Ausdrücke wählen,« sagte die Mutter: »Du bist entsetzlich roh da draußen geworden …«
»Sprecht Ihr von Schallers?« sagte der Kammerherr, der jetzt dazutrat, indem er Hans über seine Brille ansah.
»Ja,« erwiderte die Mutter; »aber Hans scheint keine rechte Lust zu haben …«
»Nein, wahrhaftig nicht, Papa!«
»Das geht aber nicht anders,« sprach hier der Vater das Machtwort. »Wir sind Schallers große Verbindlichkeiten schuldig und durch sie eigentlich auch nur mit Graf Rauten bekannt geworden. Sie haben sich dabei stets so freundlich gegen uns gezeigt, daß wir besonders diese Einladung gar nicht ablehnen könnten, ohne sie direct vor den Kopf zu stoßen, und daß Du dabei nicht fehlen darfst, versteht sich von selbst. Aber da ist es unbedingt nöthig, daß Du auf der Stelle etwas nachholst, was Du gar nicht so lange hättest versäumen sollen: ihnen nämlich Deinen Besuch zu machen.«
Hans seufzte recht aus tiefster Brust. »Da geht's los,« sagte er resignirt; »kaum den Fuß auf der Heimath Boden gesetzt, und ich höre schon, was sich schickt und nicht schickt, und was unbedingt nöthig und geboten erscheint. Papa, ich fürchte, Ihr treibt mich mit Eurem langweiligen Formenwesen sehr geschwind wieder über die Grenze.«
»Aber, lieber Sohn,« sagte der Kammerherr, der solche Ansichten gar nicht begreifen konnte, denn er hatte die Beobachtung jeder nöthigen Form mit der Muttermilch eingesogen. – »Wenn wir im Leben jede Rücksicht außer Augen setzen wollten, was sollte da zuletzt aus der menschlichen Gesellschaft werden? Eine rohe Masse, die sich blindlings durcheinander stürzt und, was ihr nicht paßt, unter die Füße tritt. Das geht nicht, mon cher, das geht nicht und mag in eine Republik oder zu Cannibalen passen, aber in einem civilisirten und durch strenge und gerechte Gesetze geregelten Lande kommst Du damit nicht durch.«
»Mein bester Papa,« sagte Hans, »ich begreife nicht recht, was die Civilisation und die Gesetze damit zu thun haben. Menschen, die man gern hat und in deren Nähe und Gesellschaft man sich wohl fühlt, ei, die sucht man auf und verkehrt mit ihnen je öfter, desto besser, und bei denen das nicht der Fall ist, nun gut, gegen die ist man artig und höflich, so weit man mit ihnen in Berührung kommt, drängt sich aber nicht in ihre Nähe. Ich gebe Dir mein Wort, Papa, es würden dann allerdings nicht so viele Gesellschaften gegeben werden, aber es bestände dann auch ein viel freundschaftlicheres und, was noch mehr sagen will, ehrlicheres Verhältnis. Die vielen gesellschaftlichen Lügen fielen außerdem fort.«
»Gesellschaftliche Lügen giebt es gar nicht, mein Sohn,« sagte Frau von Solberg mit etwas schneidender Stimme. »Du sprichst da nur einfach eine jener schalen Redensarten nach, die wohl auf dem Theater Effect machen mögen, aber außerdem nicht wahr sind.«
»Aber, beste Mama,« lachte Hans gutmüthig, »wer ließ sich gestern Morgen bei Dir anmelden? Die alte Staatsdame von Pankenstein. Und wer ließ sich – wegen heftiger und ganz entsetzlicher Zahnschmerzen – verleugnen und saß doch dabei so gesund und munter am Tische wie nur möglich?«
»Aber die alte Staatsdame ist auch fürchterlich,« erwiderte die gnädige Frau, und es war ihr augenscheinlich nicht recht, daß Hans gerade dieses, noch zu frisch im Gedächtniß gebliebene Beispiel erwähnte; »Du weißt außerdem, daß ich am Tage vorher wirklich heftige Zahnschmerzen hatte …«
»Ja, Mama …«
»Und daß ich – daß ich in dem Augenblick sehr beschäftigt war.«
»Du legtest Patience …«
»Du bist unausstehlich, Hans, und wirklich in Deinem Amerika so furchtbar verwildert, daß es vielleicht Jahre benöthigen wird, um Dich noch einigermaßen wieder einzurichten. In diesem Falle aber ersuche ich Dich dringend, uns zu Willen zu sein, es würde mich wie Deinen Vater sehr kränken und auch Franziska und Rauten nicht angenehm sein. Es sind wirklich liebe Leute, ein wenig excentrisch vielleicht in mancher Hinsicht, aber sonst brav und zuverlässig und von wirklich aufopfernder Liebenswürdigkeit für uns. Hast Du uns so wenig lieb, uns eine so kleine Gefälligkeit zu versagen?«
»Meine liebe, gute Mutter,« bat Hans, »jetzt hast Du mich vollständig geschlagen und kannst mich um den kleinen Finger wickeln. Du sollst einmal sehen, wie liebenswürdig ich gegen Schallers sein werde, noch heute Nachmittag werde ich ihnen meinen Besuch machen.«
»Der Morgen wäre eigentlich eine passendere Zeit …«
»Mir wurde gesagt, daß die Herrschaften hier in der Stadt am liebsten Besuch vor dem Theater empfingen,« meinte Hans, »und das ist auch insofern praktisch, als man dann immer eine treffliche Entschuldigung hat, nicht zu lange zu bleiben – Apropos, was wird heute Abend gegeben?«
»Robert der Teufel,« sagte die Mutter; »aber ich weiß nicht, ob ich hingehe.«
»Ach ja, Mama,« rief Hans, »Fräulein Blendheim soll ja ganz wunderbar singen!«
»Sie hat eine leidliche Stimme, ja,« sagte Frau von Solberg mit etwas zurückhaltendem Tone, »aber kein angenehmes und feines Spiel, sie ist zu leidenschaftlich …«
»Wie kommt es,« fragte Hans nach einer kleinen Pause, in der ihm andere Dinge durch den Kopf gegangen waren, »daß Hauptmann Dürrbeck – oder eigentlich – was ist vorgefallen? Habt Ihr etwas gegen ihn? Ich bat ihn schon zweimal, mich hier aufzusuchen, und er wich mir aus; er meinte, wir würden später darüber sprechen – also muß doch irgend etwas passirt sein …«
»Daß er uns nicht mehr besucht,« sagte Frau von Solberg mit Würde, »entspringt jedenfalls aus einem ganz schicklichen Höflichkeitsgefühl. Da er seine Stellung im Leben so weit vergessen hat, sich mit einer Schauspielerin zu verloben, so muß er sich auch natürlich künftig in diesen Kreisen seine Freunde suchen, und ich würde Dir selber rathen, Hans, ihn wenigstens nicht aufzusuchen.«
»Dürrbeck ist ein braver, prächtiger Mensch, so einfach, so natürlich und so herzlich …«
»Das mag sein, aber …«
»Ihr habt ihn doch nicht gekränkt?«
»Gekränkt? Gott bewahre! Nur als er uns seine Verlobungskarte sandte, haben wir nicht darauf erwidert.«
»Aber, lieber Gott, das kann ein Vergessen sein!« rief Hans. »Wenn mir ein Freund seine Verlobungskarte schickte, so erwiderte ich vielleicht auch nichts darauf und freute mich deshalb eben so herzlich darüber.«
»Du bist, wie gesagt, verwildert,« erwiderte die Mutter, »und scheinst alles, was die eigentliche Gesellschaft betrifft, vergessen zu haben. Hauptmann von Dürrbeck ist aber darin eher zu Hause. Er wußte danach recht gut, daß wir keinen Verkehr mit ihm wünschten, und hat deshalb auch sehr kluger Weise unterlassen, uns seine Braut vorzustellen.«
»Aber, Mama,« rief Hans, »das nimm mir nicht übel, ich weiß mich noch sehr deutlich selbst von früher her zu erinnern, daß man besonders Sänger und Sängerinnen oder tüchtige Tonkünstler selbst zu den höchsten Kreisen, ja, bei Hofe eingeladen hat.«
»Das, mein Sohn,« sagte der Kammerherr, der den Kopf gebeugt hielt und sich in der letzten Viertelstunde damit beschäftigt hatte, das officielle Journal zu lesen – denn er las nur Officielles –, während er jetzt seine Stellung nicht im Geringsten veränderte, sondern nur über seine Brille weg- und zu dem Sohne aufsah – »ist etwas ganz Anderes und Verschiedenes. Derartige sogenannte Künstler und Künstlerinnen werden allerdings zuweilen aus ihnen sonst nie zugänglichen Kreisen mit einer Einladung beehrt, aber das geschieht unter einer ganz andern als freundschaftlichen Voraussetzung, daß sie sich nämlich dabei in ihrer Kunst produciren, wofür ihnen dann ein entsprechendes Honorar in's Haus gesandt wird. Wir erwarten aber dafür keineswegs, daß sie uns ihre Verlobungs- oder sonst häuslichen Anzeigen zusenden.«
»Aber,« warf Hans ein, »die Kunst wird jetzt viel höher geachtet als früher, und haben sich denn nicht in letzter Zeit selbst Prinzen mit Künstlerinnen verheirathet?«
»Darüber,« sagte der Kammerherr achselzuckend, »steht mir kein Urtheil zu, das ist ihre Sache, und ich bin darin auch nie um meine Meinung gefragt worden, es wäre sonst vielleicht manches Unpassende nicht geschehen.«
»Dürrbeck ist ein wirklicher Edel- und Ehrenmann, Vater.«
»Das bezweifle ich nicht im Geringsten, habe ihn auch persönlich gern und weiß, daß Se. Königliche Hoheit viel auf ihn hält, aber …«
»Aber?«
»Es würde nur zu vielleicht peinlichen Momenten führen, wenn wir einen intim gesellschaftlichen Umgang unterhielten,« sagte der Kammerherr. »Wenn ich mich auch selber über Manches hinwegsetzen würde, so verkehren wir doch in zu ausgewählten Kreisen, um nicht gezwungen zu sein, jeden Mißton zu vermeiden, besonders ich in meiner Stellung. Ich habe nichts gegen den bürgerlichen Stand, gar nichts, ich achte ihn, selbst den Handwerker, wenn er eben in seiner Sphäre bleibt und die ihm gestellten Grenzen einhält; aber ich wünsche keinen gesellschaftlichen Verkehr mit ihnen, und Du könntest Dir ein Beispiel an Deinem künftigen Schwager nehmen. Graf Rauten ist das Muster eines Cavaliers und hat besonders einen so feinen Tact, daß ich ihn oft selber bewundert habe. Ueberhaupt, was bei uns das Blut im Körper sein mag, das ist der Tact in der Gesellschaft, der zuletzt zu einer Art von Instinct wird – wenn ich ein so gemeines Wort gebrauchen darf, – durch den wir augenblicklich fühlen, ohne es uns manchmal selbst bewußt zu sein, was sich schickt und was nicht. Du bist jetzt allerdings durch Dein wildes, ungeordnetes Leben davon entwöhnt worden; dieser Sinn, wie ich sagen möchte – denn wir können den Tact recht gut den sechsten Sinn nennen – hat bei Dir vielleicht noch keine genügende Gelegenheit gehabt, sich richtig auszubilden …«
Hans blies, still vor sich hinlächelnd, den Kräuseldampf in die blaue Luft hinaus.
»Aber ich verzweifele deshalb doch nicht daran,« fuhr der Vater beruhigend fort, »daß es Dir bald gelingen wird, Dich hinein zu arbeiten. Du hast unser Blut in den Adern, und Deine Mutter, mein Sohn, ist eine Frau, die, wie ich Dir versichern kann, diese Eigenschaft im höchsten Grade in sich ausgebildet hat. Folge ihr nur in allen zweifelhaften Fällen, in denen Du unsern Rath suchen solltest, und sie wird Dich gewiß immer den richtigen Weg führen.«
»Ja, Papa,« sagte Hans, dem dieses Gespräch über Tact und Schicklichkeit doch ein wenig lange dauern mochte, indem er nach seiner Uhr sah, »wenn ich aber noch einen Besuch bei Schallers machen soll, so, glaub' ich, ist es die höchste Zeit, oder ich möchte ihnen nachher ungelegen kommen.«
»Du kannst Recht haben,« sagte der Vater; »aber willst Du allein gehen? Du bist noch gar nicht einmal vorgestellt oder eingeführt …«
»Und weshalb kann ich das nicht selber thun, Papa? Ich gebe Dir mein Wort, ich habe mich schon an vielen Orten selber einführen müssen und bin nicht schlecht dabei gefahren.«
»Ja, ja, mein Sohn,« lächelte der Kammerherr, »ich glaube es Dir – in Deinen Republiken wohl, oder unter den Indianern oder Wilden, aber hier bei uns gelten andere Sitten, und wir können uns dessen nur freuen.«
»Leopold wird ihn gewiß begleiten,« sagte Frau von Solberg; »ich glaube, er sprach heute noch davon, daß er dort wieder Besuch machen müsse.«
» Müsse« lachte Hans – »das ist der Ausdruck für Eure gesellschaftlichen Genüsse – ich muß einen Besuch machen, ich muß die und die einladen, ich muß der und der Einladung folgen – Caramba, mich überläuft's, wenn ich mich wieder in solche Verhältnisse hineindenke!«
»Was sagst Du eben, Hans?« fragte die Mutter erschreckt, »Wie lautete das Wort – Ca...«
»Welches Wort, Mama?«
»Dein Ausruf.«
»Oh, Caramba – es fuhr mir nur so in alter Gewohnheit heraus.«
»Und ist das ein Fluch?« fragte die Mutter, und man konnte ihr die Angst aus den Zügen herauslesen.
»Nein, Mama,« beruhigte sie lachend der Sohn, »ich habe da drüben wohl rauchen gelernt, aber nicht fluchen, denn das ist allerdings eine häßliche Angewohnheit. Caramba ist ein höchst unschuldiges Wort, das in den spanischen Ländern selbst die feinsten Damen gebrauchen, nur ein einfacher Ausruf des Erstaunens oder der Freude.«
»Mein liebes Kind,« sagte die Mutter, »Deine feinsten Damen in den südlichen Ländern, wie Du uns selber erzählt hast, rauchen auch, und welchen Maßstab wir nach unseren Begriffen von Schicklichkeit daran legen müssen, brauche ich Dir wohl kaum zu sagen. Es beruhigt mich allerdings, wenn Du mir versicherst, das Du das Fluchen verabscheust, nimm Dir aber deshalb selbst nicht die feinsten jener spanischen Damen zum Muster oder halte Dich entschuldigt, wenn Du ihrem Beispiele folgst.«
»Wollen wir Rauten rufen?« fragte der Kammerherr.
»Ich fürchte, er und Fränzchen werden es mir wenig Dank wissen, wenn ich ihn jetzt zu einem langweiligen Besuche abrufe.«
»Für ihn ist der Besuch nicht langweilig, Hans,« versicherte die Mutter mit etwas gereizter Stimme, denn alle ihre schönen Ermahnungen schienen ja förmlich in den Wind gesprochen, »er weiß zu gut, was sich schickt. Wir haben auch wie ich sehe, Ostwind bekommen, und Fränzchen hat nichts um; es ist besser, daß sie hereinkommt oder etwas umhängt – Fränzchen!«
»Mama?«
»Möchtet Ihr nicht einmal hereinkommen?«
Die beiden jungen Leute wandten sich, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen, langsam dem Hause zu; Graf Rauten hörte aber kaum, zu was Hans seine Begleitung forderte, als er sich, wie es die Mutter vorhergesagt, auch augenblicklich zur Begleitung erbot, und da beide junge Herren keine weitere Toilette zu machen hatten, brachen sie schon nach wenigen Minuten auf.
»Ich kann Dir gar nicht sagen, Leopold,« äußerte sich Hans, als sie eine kurze Strecke schweigend nebeneinander hin und durch die Stadt gegangen waren, »was für ein sonderbares Gefühl es mir ist, hier, nachdem ich so lange abwesend gewesen und mich in allen möglichen Ländern herumgeschlagen, nicht allein den alten Platz so unverändert zu finden, nein, auch die nämlichen Menschen an den nämlichen Stellen anzutreffen. Sieh da drüben den Scherenschleifer – er kennt mich natürlich nicht mehr, aber ich ihn dafür desto besser, denn wie oft hat er mir mein Messer schleifen müssen, und als kleiner Junge stand ich manchmal Stunden lang, sah ihm zu und wunderte mich, daß die hellen Funken aus dem nassen Stein herausfliegen konnten. Sieh da drüben die dicke Bäckersfrau – wie vor zehn Jahren, so sitzt sie jetzt noch da an ihrem Fenster und reicht Semmel auf die Straße hinaus, und die kleinen Jungen heben sich auf die Zehen, um hinan zu gelangen. Diese ganze lange Zeit haben alle diese Personen ruhig in ihrem alten Gleise fortgelebt, immer, den ganzen Tag lang, die nämlichen Menschen hin und wieder gehen sehen, und was ist seit der Zeit nicht an mir vorübergegangen! Hast Du nie ein ähnliches Gefühl gehabt, als Du von Indien zurückkehrtest?«
»Es ist möglich,« erwiderte der junge Graf, »dann bin ich mir aber dessen nie so recht bewußt geworden oder habe wenigstens nicht besonders darüber nachgedacht. Das findest Du übrigens in all' diesen kleinen Binnenstädten, wo auch ein mehr kleinliches Wirken der Bewohner den Centralpunkt bildet, um den sich alles dreht; in Seestädten ist das ganz anders.«
»Sieh, Leopold,« fuhr Hans fort, der jetzt ganz in seinen alten Erinnerungen schwelgte, »hier an der Ecke war immer unser Kampfplatz mit Schneebällen im Winter; von dort her führte mein Schulweg, und hier an der Ecke trafen wir Gymnasiasten gewöhnlich mit den Schülern der Realschule zusammen. Da hättest Du aber die Schneebälle sehen sollen! Wer von Erwachsenen es vermeiden konnte, ging um die Mittagsstunde hier sicher nicht vorüber, denn Schonung kannten wir nicht, wir waren tolle Jungen.«
Graf Rauten lächelte. »Das eigentliche Schulleben habe ich nie kennen gelernt,« sagte er, »denn ich wurde auf unserem Gute von einem Informator, einem langweilig trockenen Gesellen, unterrichtet und hatte auch eigentlich gar keine Spielkameraden.«
»Armer Freund,« sagte Hans, »dann hast Du freilich eine traurige Jugend verlebt, und wer kann uns die Jugendzeit ersetzen, wenn sie uns einmal gestohlen wurde? Keine Macht der Erde. Nein die Erinnerung daran ist mir fast noch lieber als die jener fremden, schönen Welt, die ich da draußen schauen durfte.«
»Aber jetzt wirf Deine Cigarre fort,« sagte der Graf, »wir sind an Ort und Stelle …«
»Ja, in der ersten Etage; ich werde Dich führen« – und er schritt voran in das Haus und die Treppe hinauf, wo er bald darauf an einer verschlossenen Glasthür die Klingel zog.
»Die Herrschaften zu Hause?«
»Bitte, ja. Wen habe ich die Ehre zu melden?«
»Graf Rauten und Baron von Solberg.«
»Wollen die Herren nicht indessen hier eintreten?«
Der Diener öffnete das große Eckzimmer, das jedenfalls als Empfangssaal diente und geräumiger war, als man es von außen in dieser Etage vermuthet haben würde. Es war außerdem sehr elegant eingerichtet, aber auch – in diesem Moment wenigstens – nicht unbesetzt, denn Oberstlieutenant von Klingenbruch mit seiner ganzen Familie hatten sich ebenfalls und, wie es schien, auch nur vor wenig Augenblicken hier eingefunden, um ihren Besuch zu machen. Die Herrschaften standen wenigstens noch und betrachteten sich ein paar Oelgemälde an den Wänden.
»Ah, lieber Graf,« rief ihn der Oberstlieutenant an, wie er nur seiner ansichtig wurde, trat ihm dabei entgegen und schüttelte ihm die Hand – »freut mich sehr, Sie wieder einmal begrüßen zu können! – Wie geht es Ihnen, lieber Solberg?«
»Meine Damen,« sagte Graf Rauten, »ich fühle mich glücklich, hier mit Ihnen zusammen zu treffen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen hier meinen Freund und künftig Schwager, Hans von Solberg, vorstelle, der eben erst von einer Art von Weltfahrt zurückgekehrt ist – Oberstlieutenant von Klingenbruch's liebenswürdige Familie, lieber Hans.«
Hans verbeugte sich gegen die Damen und schüttelte dem Oberstlieutenant, dessen dickes, gemüthliches Gesicht ihm schon gleich von Anfang an gefallen, die Hand. »Ich hatte ja schon neulich das Vergnügen,« sagte er, »Sie drüben bei …«
»Ja wohl,« unterbrach ihn der Oberstlieutenant rasch, denn ihm lag in diesem Augenblick gar nichts daran, das unglückselige Bierhaus hier wieder vor seiner Gattin erwähnt zu hören, »ich hatte die Ehre – freue mich recht, Ihnen wieder zu begegnen. Nun, haben Sie sich schon ordentlich bei uns eingebürgert?«
Hans wurde die Antwort erspart, denn gerade jetzt öffneten sich die beiden Flügel der mittleren Thür, und Herr und Frau von Schaller, von ihrer Tochter gefolgt, traten mit dem liebenswürdigsten Lächeln, aber in voller Toilette in den Saal.
»Aber das ist mir ja eine große, große Freude!« rief Schaller, indem er auf seinen alten Freund Klingenbruch mit langen Schritten zustieg und seine beiden Hände ergriff und schüttelte. »Meine Damen, ich grüße Sie von ganzem Herzen – lieber Graf Rauten, wie immer willkommen – und hier?«
»Hans von Solberg, lieber Baron, der Ihnen seine Aufwartung zu machen wünschte …«
»Mein lieber Herr von Solberg, wie ich mich freue, Sie wanderlustigen Menschen einmal hier fest zwischen meinen vier Pfählen zu haben! Aber die Damen – Rosamunde, liebe Frau – hier der junge Solberg – Kathinka, mein Herz – ein lebendiger Peruaner! Und nun, meine verehrte Frau Oberstlieutenant und diese liebenswürdigen jungen Damen Ihre Töchter – ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß wir Nachbarn geworden sind, und ich hoffe, wir sollen nun auch gute Nachbarschaft halten, wie es alten Freunden, die Ihr Mann und ich nun einmal sind, auch ziemt …«
»Aber wollen denn die Herrschaften nicht Platz nehmen?« sagte Rosamunda, die Gattin des Herrn von Schaller, die, wenn auch schon in den Vierzigen, doch immer noch sehr jugendlich gekleidet ging und sich besonders von ihren langen Hängelocken nicht hatte trennen können. »Bitte, meine Damen – bitte, Herr Oberstlieutenant – Herr von Solberg – lieber Graf …«
Der Oberstlieutenant war den ganzen ausgeschlagenen Tag auf den Füßen gewesen und wirklich ein wenig müde geworden; er benutzte denn auch die Erlaubniß und ließ sich, da gerade ein gestickter Sessel neben ihm stand, auf diesen nieder, fuhr aber auch in demselben Moment wie von einer Natter gestochen wieder in die Höhe, denn der Stuhl unter ihm fing an, Musik zu machen, und spielte jetzt den Marsch aus Gounod's »Faust,« als ob er nur besonders zu dem Zwecke hier mitten in die Stube hineingesetzt wäre.
Hans hatte gerade zufällig sein Auge auf dem Oberstlieutenant gehabt, als er Platz nehmen wollte, und dessen Schreck und Aufspringen hatte so unendlich komisch ausgesehen, daß er sich nicht helfen konnte und geradeheraus lachte; am lautesten aber lachten die beiden jungen Damen, Henriette und Flora, und Oberstlieutenant von Klingenbruch betrachtete sich noch immer dabei aufmerksam und zugleich mißtrauisch den merkwürdigen Stuhl.
»Aber so setz' Dich doch, Klingenbruch!« rief ihm von Schaller lachend zu. »Wovor fürchtest Du Dich denn?«
»Setzen?« sagte verwundert der Oberstlieutenant. »Auf die Spieldose? Ich bin nur aus Versehen darauf gekommen.«
»Hahahaha,« lachte von Schaller, »Du bist göttlich, Klingenbruch, immer noch der Alte – aber die übrigen Herrschaften nehmen auch nicht Platz – ich bitte Sie, meine Damen!«
Thatsache war, daß sich Jeder wirklich fürchtete, irgend einen der gepolsterten Stühle zu benutzen, weil man bei jedem etwas Aehnliches vermuthete, und Frau von Schaller gab dem Gedanken endlich Worte:
»Ach, meine Damen,« sagte sie mit ihrer etwas süßlichen Stimme, »bitte, setzen Sie sich; das ist der einzige musikalische Stuhl, den wir haben – eine unglückselige Idee von meinem lieben Manne, der mich damit an meinem letzten Geburtstage überraschte. Die anderen Sessel sind ganz unverfänglicher Art – bitte, nehmen Sie Platz.«
Die Damen ließen sich endlich dazu bewegen, aber noch immer etwas mißtrauisch, und selbst Hans drückte erst vorsichtig mit der Hand auf den nächsten Fauteuil, dem er sich anvertrauen wollte – man konnte eben nicht wissen. Frau von Schaller hatte aber die Wahrheit gesprochen; und während der eine Sessel unverdrossen den Marsch fortspielte und der Oberstlieutenant natürlich nicht vermocht werden konnte, wieder darauf niederzusitzen, und sich einen andern Stuhl herbeiholte, kam die Gesellschaft endlich zu einer Art von Ruhe.
Die jungen Damen hatten sich natürlich dicht neben einander gesetzt, und die beiden jungen Fräulein von Klingenbruch, während Kathinka lange nicht so lebhaft auf das Gespräch einging, plauderten bald von den Dingen, die sie am meisten interessirten – von dem nächsten Ballabend bei Schallers, der auch diesmal die Saison beschließen würde, denn das Wetter war heute, obgleich noch im April, schon vollkommen sommerlich. Herr von Schaller indessen, mit einer außerordentlichen Lebhaftigkeit, fuhr fortwährend zwischen seinem Besuche herum, hatte bald hier, bald da eine pikante Bemerkung, zischelte dem Oberstlieutenant eine Anekdote zu, bei der dieser einen bestürzten Blick nach seiner Frau hinüber warf und dann urplötzlich vor Lachen in eine Art von Krampfhusten fiel, und rief auf einmal, als ob er über irgend etwas zum Tode erschrocken wäre:
»Aber, meine Herren, Sie rauchen ja nicht! Kathinka, entartete Tochter Deines Vaters, warum bist Du nicht aufmerksamer?«
»Aber bester Baron,« sagte Graf Rauten, »hier in Ihrem Damensalon …«
»Existirt gar kein Unterschied, bester Graf!« rief Herr von Schaller in fröhlicher Laune. »Darum hat sich meine liebe Frau so vortrefflich gehalten, weil ich so gut geräuchert habe!«
»Aber, Theodor,« rief die gnädige Frau empört, »Du bist ja ein wahres – ein wahrhaft ungezogener Mensch! Was müssen denn die Damen von Dir denken …«
»Aber, bestes Herzblättchen, war denn das nicht die größte Schmeichelei, die ich Dir sagen konnte?« rief Herr von Schaller vergnügt aus. »Wer Dich so sieht, würde nicht im Stande sein, Dein Alter zu errathen!«
»Mein Alter,« sagte Frau von Schaller verächtlich – »Du bist wieder einmal unausstehlich heute, Theodor, und das jedesmal, wenn wir Besuch bei uns sehen. Sie müssen ihn wirklich entschuldigen, meine Damen, sonst ist er doch wenigstens leidlich.«
Kathinka war indessen dem Wunsche ihres Vaters nachgekommen und brachte ein allerliebstes kleines Mahagonischränkchen mit einer Thür, das sie zuerst dem Grafen reichte.
»Ich danke Ihnen, mein gnädiges Fräulein,« sagte dieser abwehrend, »ich rauche nie …«
»In der That? Aber Herr Oberstlieutenant vielleicht?«
Klingenbruch warf einen halb zweifelhaften Blick auf seine Gattin. Diese aber, gerade in einem sehr lebhaften Gespräch mit Frau von Schaller über Butter- und Eierpreise begriffen, achtete glücklicher Weise nicht auf ihn, und er öffnete leise die Thür des Kästchens – das er aber eben so rasch wieder losließ, als ob er sich verbrannt hätte, denn wie er es kaum berührte, erklangen auf's Neue die eigenthümlichen Spieldosentöne, die Aehnlichkeit mit dem Fallen von Wassertropfen in ein metallenes Gefäß haben.
Der »Jungfernkranz« saß in der Cigarrenbüchse und kam heraus, und gar so schelmisch schaute Kathinka darüber hin und sah den alten, etwas verblüfften Herrn an. Aber das Unglück war jetzt einmal geschehen und die Frau Oberstlieutenant aufmerksam geworden – sie hätte keine Ohren haben müssen! So griff er denn herzhaft zu, nahm sich unter den Klängen des »Jungfernkranzes« eine Cigarre, und Hans folgte gleich darauf lachend seinem Beispiel.
Das Gespräch drehte sich indessen nach allen Seiten, auch um die allergewöhnlichsten Gegenstände, wie das bei solchen erzwungenen Besuchen oder Staatsvisiten fast stets der Fall ist. Man wurde auf der einen Seite nicht erwartet, sitzt auf der andern wie auf Kohlen, um nur bald wieder fort zu kommen, und spricht nur eben, ohne recht zu wissen was, nur allein um die Zeit todt zu schlagen.
Hans hatte indessen seine Zeit in sofern benutzt, als er augenblickliche Pausen dazu verwandte, sich die beiden ihm noch fremden Familien zu betrachten; aber er fand hier so verschiedene Charaktere, daß er nur einen oberflächlichen Eindruck von ihnen allen bekommen konnte.
Der Herr von Schaller war ihm dabei die interessanteste Persönlichkeit: eine lange, schmächtige, aber merkwürdig gelenke Gestalt und fortwährend beweglich, mit der Zunge wie mit den Gliedern. Etwas Aristokratisches hatte er eigentlich nicht, oder zeigte es doch wenigstens nicht in dieser Stunde, aber er war augenscheinlich ein Weltmann, und das nicht große, aber klare, hellgraue und stets bewegliche Auge blitzte unter der hohen, schon etwas kahl werdenden Stirn nach allen Seiten unablässig hinüber und schien keinen der Gäste auch nur für einen Moment außer Acht zu lassen. Dabei hatte er eine Eigenthümlichkeit, ein Zwinkern des linken Auges, mit dem er aber ganze Flanken beschoß, so daß man nie genau unterscheiden oder bestimmen konnte, wem er zublitzte und ob man nicht selber damit gemeint sei, was die mit ihm Verkehrenden gewissermaßen in einer steten Aufmerksamkeit hielt.
Seine Frau war eine ästhetische Gans, davon fühlte sich Hans gleich nach den ersten zehn Minuten überzeugt. Sie hatte in einer kaum Minuten langen Unterredung mit ihm schon für alle Classiker geschwärmt und mit Entzücken von dem letzten Concerte alter Musik gesprochen; dabei warf sie ihre langen Schmachtlocken so kokett wie ein junges Mädchen herüber und hinüber und spielte dazwischen mit ihrer Korallenschnur, um ihre allerdings noch sehr hübsche weiße Hand zu zeigen.
Und die jungen Damen? Es waren wirklich drei reizende Gestalten, wie sie da beisammen saßen und mit einander so harmlos plauderten, als ob sie sich in der Welt um nichts Anderes kümmerten; aber wie blitzten die lebendigen Augen indeß umher, und Hans konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie sich in diesem Moment jedenfalls über ihn unterhielten – in Wirklichkeit hatten sie fast noch von nichts anderem mit einander geflüstert.
Die Frau Oberstlieutenant gefiel ihm am wenigsten; sie saß steif und vornehm da, und nur der Blick, den sie manchmal nach dem vergnügt vor sich hin lachenden Gatten warf, sprach Bände. Hans lächelte, wenn er sich den gemüthlichen kleinen Oberstlieutenant bei einer Gardinenpredigt dachte.
Da stieß Flora von Klingenbruch einen leisen Schrei aus, und als sich ihr alle Blicke rasch und erstaunt zuwandten und das Gespräch einen Moment stockte, tönte unter dem Sopha hervor aus einer andern, heimtückisch in einer Fußbank angebrachten Spieldose »Heil Dir im Siegerkranz« heraus.
»Ach, Du mein Gott, bin ich erschrocken!« sagte Flora, schob ihre Kleider zusammen und blickte scheu nach unten; »ich kam nur ganz zufällig mit dem Fuße auf etwas.«
»Retter des Vaterlands,« musicirte aber die Fußbank weiter, und von Schaller wollte sich halb todt über die Ueberraschung lachen.
Aber der Besuch mußte abgebrochen werden, denn die auf dem Schreibtische stehende Bronze-Uhr holte eben zum Schlage aus: es war sechs Uhr und bald Theaterzeit. Kaum hatte sie aber ausgeschlagen – und die Fußbank war noch nicht einmal fertig – da begann auch dort ein Spielwerk »Oh, Du mein holder Abendstern!«
»Nicht Roß, nicht Reisige,« spielte die Fußbank.
»Wohl grüßt' ich immer Dich so gern,« antwortete die Uhr – die ganze Welt war musikalisch geworden und man hätte dazwischen verrückt werden können.
Aber der Besuch war wenigstens vollbracht. Hans sprang von seinem Sitz empor, nicht ohne einen leisen Verdacht gegen seinen Stuhl, daß auch der bei dieser rascheren Bewegung eine musikalische Laune bekommen könne, aber er hatte ihm Unrecht gethan; er trug kein Falsch und kein Spielwerk in sich, und jetzt begann wieder, da auch Klingenbruchs die Zeit zum Aufbruch für passend hielten, das gewöhnliche Händeschütteln und Bitten um baldige Wiederholung des Besuchs und Gegeneinladungen, wie gewöhnlich.
Unten auf der Straße verabschiedeten sich die jungen Leute von Klingenbruchs, die gleich nebenan in ihr Haus gingen, aber nicht ohne eine sehr freundliche Einladung erhalten zu haben, auch bei ihnen vorzusprechen, und schlenderten dann wieder mitsammen die Straße hinauf.
»Leopold,« sagte Hans, der noch eine Weile still vor sich hin gelacht, wenn er an die eben erst verlassene musikalische Zimmereinrichtung zurückdachte, »was sind Schallers eigentlich für Leute? Ich bin nicht recht aus ihnen klug geworden, denn sehr aristokratisch sehen mir, aufrichtig gesagt, Beide nicht aus.«
»Darin magst Du Recht haben,« erwiderte der Freund, »aber es sind gute, liebe Menschen, denen ich selber schon zu großem Dank verpflichtet bin. Ein wenig excentrisch mögen sie freilich immer sein, aber, lieber Gott, welcher Mensch hat nicht seine kleinen Schwachheiten und Steckenpferde, und so lange er niemanden anders damit schädigt, kann man sie ihm ruhig hinsehen!«
»Wie gefällt Dir Kathinka?« fuhr er nach einer kleinen Pause fort.
»Die Tochter?«
»Ja.«
»Es läßt sich nach einem so flüchtigen Besuche,« sagte Hans, »allerdings wohl noch kein genaues Urtheil fällen, aber im Ganzen hat sie einen recht günstigen Eindruck auf mich gemacht, besonders vielleicht im Gegensatz zu den beiden Klingenbruch'schen Damen.«
»Es ist ein sehr liebes und sehr tüchtiges junges Wesen, malt sehr hübsch und ist eine vortreffliche Clavierspielerin.«
»Natürlich musikalisch in dem Hause!« lachte Hans. »Welches Instrument spielt denn der alte Herr?«
»Du spottest darüber, Du solltest ihn aber einmal auf dem Violoncello hören!«
»Und die Mama?«
»Singt,« sagte Rauten mit einem kaum unterdrückten Seufzer, »das ist aber nur eine von ihren Schwachheiten – sonst ein liebe prächtige Frau.«
»Ich habe einmal, ich weiß nicht von wem, eine Aeußerung gehört,« erwiderte Hans, als sie wieder eine Weile neben einander hingeschritten waren, »daß eigentlich fünfundzwanzig Procent der menschlichen Bevölkerung einen größeren oder kleineren Sparren hätte und durch irgend eine unberechenbare Veranlassung wirklich verrückt werden könnte. Es klingt das ein wenig gewagt, aber manchmal kommt es mir wahrhaftig so vor, als ob der Mann am Ende doch nicht so ganz Unrecht gehabt hätte.«
»Schallers sind nichts weniger als das,« sagte Rauten.
»Ich will noch nicht urtheilen,« meinte Hans, »aber in Verdacht habe ich sie trotzdem, und dann der Theaterdirector, der ihnen gegenüber wohnt – Leopold, den hättest Du neulich sehen sollen, der war kostbar.«
»Ich gehe sehr gern manchmal in's Theater, um mir einen Abend zu vertreiben,« sagte Rauten, »aber ich bin sehr vorsichtig, den activen Mitgliedern nicht außer demselben zu nahe zu kommen.«
»Du bist darin zu streng.«
»Es kann sein, aber ich habe mich bis jetzt immer wohl dabei befunden.«
Das Gespräch war damit abgebrochen, denn sie näherten sich dem Solberg'schen Hause, und Franziska stand schon am Fenster und winkte ihnen freundlich zu.