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Herr von Schaller hatte, was das Wetter betraf, sehr richtig prophezeit. Der Wind war um den Norden herumgegangen, fast vollständig Ost geworden und versprach wenigstens ein paar gute Tage, da man natürlich im April auf keine lange Dauer solch günstiger Zeit rechnen konnte. Hans von Sollberg traf denn auch alle seine Vorbereitungen zu der besprochenen Jagdpartie, was seine Kleidung wenigstens anging, denn von Schaller wollte ja für seine sonstigen Schießbedürfnisse sorgen, und ging dann nach dem Frühstück noch ein wenig in den Garten, wo er selber sein kleines Beet aus der Jugendzeit wieder in Beschlag genommen und genau so wie früher darauf gepflanzt hatte.
Der alte Claus, der Gärtner, arbeitete dort ebenfalls und, der junge Mann, nachdem er eine kurze Zeit gegraben, trat zu ihm, um wieder einmal ein wenig mit ihm zu plaudern. Er war ja noch ein Stück aus alten, vergangenen Tagen; Hans konnte sich das Haus gar nicht ohne den Claus denken, und ihn selber hatte der Alte ja auch oft genug auf dem Rücken herumgetragen und mit ihm dabei nach Herzenslust gespielt und getollt.
»Wie ist es, Claus«, fragte der junge Mann, »schon etwas von dem Samen aufgegangen, den ich mitgebracht?«
»Ja junger Herr«, nickte der Alte vergnügt, »schon eine ganze Menge; er ist ja auch noch so frisch, wie Sie sagen, kaum mehr als sechs Wochen von den Pflanzen ab, wenn ich auch nicht recht begreife, wie Sie ihn so schnell hierher gebracht haben. Aber er kommt fast überall; ich habe ihn aber auch tüchtig getrieben.«
»Ja, auf warmem Boden ist er auch zu Hause und verlangt es«, sagte Hans; aber nachher werdet Ihr auch Eure Freude daran erleben, denn Manches sind ganz seltene Pflanzen.«
»Ach, lieber junger Herr«, sagte der alte Mann, »darauf kommt's eben nicht an, denn die Herrschaft und die Leute, die daher kommen, wollen weit lieber etwas recht Großes und Buntes als 'was Seltenes. Sie verstehen's eben nicht und haben keinen Sinn dafür. Wenn ich mir hier manchmal mit recht heiklen Pflanzen die größte Mühe gegeben und gesorgt und gemüht hatte, und zuletzt glücklich war, daß ich sie Ihrem gnädigen Herrn Vater in die Stube tragen konnte, dann guckte er sie wohl an und ließ sich erklären, was es sei und wo es herstamme; am nächsten Tage aber sagte er schon gewöhnlich: Claus, den Topf – er nannte nicht einmal die Pflanze – könnt Ihr wieder mit hinausnehmen, der sieht nach nichts aus und steht hier im Wege – und nachher durfte ich wieder damit abziehen.«
»Ja, mein guter alter Claus«, meinte Hans, »das müßt Ihr den Eltern nicht so übel nehmen, denn auf äußere Schau geht ja nun doch einmal das ganze Leben draußen. Ihr selber habt aber doch Eure Freude daran.«
»Das hab' ich, junger Herr, das hab ich«, bestätigte der Alte, »und manchmal freut sich der gnädige Herr auch selber darüber. Neulich brachte er einmal einen sehr gelehrten Herrn zu mir in's Gewächshaus, der alle die Pflanzen auswendig mit ihren lateinischen Namen kannte. Wie der aber überrascht war, daß er so viel seltene und noch dazu Prachtexemplare bei mir fand, und dem gnädigen Herrn versicherte, daß ich meine Sache aus dem Grunde verstände, da freute sich der gnädige Herr augenscheinlich. Er sprach sehr gnädig mit mir und drückte mir, als er das Gewächshaus verließ, zwei blanke Thaler in die Hand. Gern hätte ich dem Fremden einen davon abgegeben, denn ich war zu glücklich, daß mich der gnädige Herr einmal gelobt hatte; das wäre doch aber nicht gegangen, denn er sah zu nobel aus.«
Hans lachte. »Nein, Claus, das wäre allerdings nicht gegangen, aber die zwei Thaler habt Ihr Euch auch redlich verdient, und mehr als das. Jetzt wird's freilich recht still im Hause werden, wenn Fränzchen fortgeht, und ich selber glaube auch nicht, daß ich lange bleibe.«
»Ja, Du lieber Gott«, sagte der alte Mann mit einem tiefen Seufzer, ohne aber seine Arbeit zu unterbrechen, »es wird immer stiller in der Welt, immer einsamer, bis sie uns selber einmal hinausfahren und uns mit einem Fuder Erde zudecken; dann ist's ganz aus.«
»Das wird aber hoffentlich noch lange dauern, Claus, bis wir so weit sind«, sagte Hans.
»Wer kann's sagen? Und es liegt auch nichts daran; ich habe meine gute Zeit gesehen und darf mich deshalb nicht beklagen.«
»Und wann war die, Claus?« fragte Hans, denn so lange er denken konnte, befand sich der Alte hier als Diener in der Familie. »Ist das schon lange her?«
»Sie haben sie auch mit durchgemacht«, lächelte wehmüthig der Alte, »und gehörten mitten hinein. Wie Sie Kinder hier immer um mich herumsprangen, mir immer von der Tafel 'was mitbrachten und mir erzählten und von mir erzählt haben wollten, da war es ein Leben hier in dem alten Hause, daß Einem das Herz dabei aufging. Manchmal kam's mir auch wahrhaftig so vor, als ob das gar nicht fremde, sondern meine eigenen Kinder wären, so lieb hatte ich Sie Alle miteinander – das war meine goldene Zeit. Dann aber änderte sich die Sache. Erst gingen Sie fort, und mir war es damals, als ob mein eigener Sohn in die Fremde zöge; dann ging das Käthchen fort«, setzte er halblaut hinzu, »und jetzt wird das gnädige Fräulein auch nicht lange mehr im Hause bleiben. Für mich ist das gnädige Fräulein freilich schon lange fortgezogen; sie kommt nur selten mehr in den Garten, und einen Morgengruß ausgenommen, habe ich vielleicht seit einem Jahr kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Freilich«, setzte er rasch hinzu, als Hans schwieg, »ist sie jetzt auch eine erwachsene, vornehme Dame geworden und hat so viel gelernt, daß sie sich von dem alten Claus nicht gut mehr kann Geschichten erzählen lassen. Na, da hat denn das alles bald ein Ende; im Sommer verreist die Herrschaft überhaupt immer auf drei oder vier Monate, und in der Zeit dann, in der mein Garten hier in voller Blüthe und Pracht steht, geh' ich allein dazwischen herum und komme mir manchmal wahrhaftig so vor wie ein alter Einsiedler in seiner Zelle. Ja, ja – es kann nichts helfen und muß eben ertragen werden.«
Hans hatte ihn mit keinem Wort unterbrochen; es waren auch trübe Gedanken, die ihm selber durch die Seele zogen, und er hing ihnen eine ganze Weile nach. Endlich sagte er, den einen Gedankengang verfolgend: »Und weshalb ist Käthchen eigentlich von uns fortgegangen? Ich hatte mich so darauf gefreut, sie wiederzusehen, und keine Ahnung, daß sie uns je verlassen könnte!«
»Hm!« brummte der alte Claus vor sich hin, antwortete aber nicht und stach nur seinen Spaten schärfer und tiefer ein, als vorher.
»Nun, Claus«, sagte Hans, aufmerksam werdend, »ist etwas vorgefallen?«
»Ich weiß nicht«, knurrte der Gärtner, »habe mich noch nie um Familienangelegenheiten bekümmert, nicht einmal um meine eigenen.«
»Und könnt Ihr's auch mir nicht sagen, Claus? Ihr wißt doch, daß ich nicht aus Neugierde frage. Ich habe das kleine Käthchen immer so lieb gehabt, wie meine eigene Schwester, und recht wehe hat es mir gethan, daß ich sie nicht mehr im Hause fand.«
Claus arbeitete immer weiter und jetzt mit einem fabelhaften Eifer; es war fast, als ob er noch heute den ganzen Garten umgraben müsse. Er mochte augenscheinlich nichts über die Sache reden und schien trotzdem nicht zu wissen, ob er's dem »jungen Herrn« gerade jetzt verschweigen dürfe.
»Seit wann ist Käthchen eigentlich fortgezogen?« nahm Hans die Frage wieder auf, denn er merkte wohl, daß er in anderer Weise beginnen müsse.
»Fortgezogen?« wiederholte Claus. »Ja so, aus dem Hause hier, meinen Sie – das kann ich Ihnen ziemlich genau sagen. Morgen werden es gerade acht Monate, daß sie an der nämlichen Stelle hier – ich schnitt eben ein Bouquet Rosen für die gnädige Frau Mutter – Abschied von mir nahm. Sie bat mich noch um eine Rose, und ich gab ihr die schönste, die ich finden konnte.«
»Es war ein liebes Kind«, nickte Hans leise.
»Ein Kind?« sagte der Alte, erstaunt zu ihm aufschauend. »Wahrhaftig kein Kind mehr, wie sie da vor mir stand – das schönste Frauenzimmer, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe!«
»Das kleine Käthchen?«
»Kleine? Sie war so groß wie Ihr Fräulein Schwester, vielleicht noch einen Daumenbreit größer, und gerade weil sie so engelschön war, da – aber was geht's mich an!« unterbrach sich der alte Mann und griff wieder zu seinem Spaten. »Mich haben sie doch nicht um meine Meinung gefragt – was kümmerte sie auch der alte Claus! Wenn er nur seine Arbeit im Garten verrichtete und die Treibhäuser versorgte – alles Andere ging den natürlich nichts an!«
Hans war aufmerksam geworden. Es mußte da etwas vorgefallen sein, worüber der alte Mann nicht gern sprach, und jetzt erinnerte er sich auch, daß seiner Mutter damals das Gespräch über das frühere Pflegekind nicht besonders angenehm gewesen. Aber weshalb sollte ihm gerade ein Geheimniß daraus gemacht werden? Gehörte er denn nicht mit zur Familie? Aber der Alte wollte augenscheinlich nicht mit der Sprache heraus, und aushorchen wollte er ihn auch nicht. Jetzt war doch auch an der Sache selber nichts mehr zu ändern, jedenfalls beschloß er aber, ihr näher nachzuforschen, und sagte deshalb nur: »Nun, sie hat wenigstens jetzt eine gute Stelle und kann sich die Welt ein wenig ansehen, und kommt sie aus Italien zurück, so sucht sie uns doch sicher wieder auf.«
Der alte Gärtner richtete sich hoch auf,. sah den jungen Mann verwundert an und sagte dann: »Aus Italien?«
»Nun ja – so viel ich weiß, ist sie dorthin als Gesellschafterin mit einer Familie gegangen.«
»Gewiß – wer denn sonst?«
»Und wer hat Ihnen das gesagt?«
»Wenn ich nicht irre, sprach die Mutter davon, oder vielleicht der Vater, oder war es Graf Rauten – ich weiß es jetzt wahrhaftig nicht mehr!«
»Der hätte auch Grund dazu!« sagte der Alte jetzt gereizt. »Wenn Einer die Ursache gewesen ist, daß sie aus dem Hause mußte, so war es der!«
»Graf Rauten, Claus? Gewiß nicht!«
»Nun, er hätte sie nicht fortgeschickt, das will ich glauben«, nickte der alte Mann, »aber andere Leute hielten es für sicherer – und nach Italien? – Das arme Kind näht sich die Finger wund und sieht sich die Augen bei einer trüben Lampe aus dem Kopfe, um sich nur anständig am Leben zu erhalten …«
»Das Käthchen?« rief Hans im höchsten Erstaunen.
»Ach was«, rief der alte Claus, »mich geht's ja allerdings nichts an, und was deines Amts nicht ist, da lass' deinen Vorwitz, sagt ein altes, gutes Sprüchwort. Aber ich sehe auch nicht ein, weshalb ich von dem, was ich weiß, ein Geheimniß machen soll, denn kein Mensch hat mir den Mund verboten, und wenn Sie's denn nicht wissen, daß es dem armen Ding, die hier wie das Kind im Hause war, so trübselig geht wie tausend anderen armen Dingern, die nicht schlecht werden wollen und nun jedem Tag die paar Pfennige abkämpfen müssen, die sie zum Leben brauchen, nun, dann schadet's wohl auch nichts, wenn Sie es erfahren!«
»Und ist denn Käthchen nicht als Gesellschafterin mit nach Italien?«
»Sie denkt gar nicht dran«, sagte der alte Mann, »drin in der Stadt sitzt sie in einem Dachkämmerchen und näht für andere Leute – Unterricht könnte sie geben in allem, was verlangt wird, aber sie getraut sich nicht mehr unter die Menschen, und wenn ich manchmal Sonntags zu ihr gegangen bin und sie besucht habe, hat's mir bald das Herz umgedreht, wenn ich sehen mußte, wie ärmlich sie sich behilft und wie geduldig und zufrieden sie das alles trägt. Denken Sie etwa, daß sie klagt? Mit keiner Silbe, nicht zucken thut sie, und mich wollte sie sogar glauben machen, daß sie sich außerordentlich wohl und glücklich befände; aber ich weiß es besser, mich kann sie nicht hinter's Licht führen …«
»Aber was ist denn da um Gottes willen im Hause vorgefallen?« rief Hans. »Denn etwas muß doch geschehen sein, oder die Eltern würden sie nie von sich gestoßen haben!«
»Etwas mag schon geschehen sein«, nickte Claus mit finster zusammengezogenen Brauen, »aber wahrlich nichts, wobei das arme Käthchen die Schuld trug, so viel ist sicher. – Jetzt«, fuhr der Alte nach einer kleinen Pause fort, »komme ich mit dem Dienergesindel da drinnen in kein Gespräch mehr, es ist alles neumodisches, aufgeschniegeltes Pack; die Stubenmagd hat Sonntags einen hohen Hut mit Federn auf, und die Köchin geht mit Handschuhen und einem Sonnenschirm spazieren, wahrscheinlich damit ihr die Sonne das rothbraune Gesicht nicht gelb brennt oder Blasen zieht. Wie aber die alte Dorothea noch da war, der sie jetzt auch seit drei Monaten den Dienst gekündigt haben, kam ich noch manchmal in die Küche, besonders wenn ich mir Morgens mein heißes Wasser zum Kaffee holte. Es war das auch kein Schade für die Herrschaft, denn ich ersparte es an Zeit – jetzt muß ich es mir selber machen. Da hörte ich denn Manches, was vorgefallen war – ob's alles wahr ist, weiß ich freilich nicht, denn die Dorothea hatte das Mundwerk ein bischen geschwind bei der Hand, aber etwas Wahres ist gewöhnlich an allen solchen Geschichten, aus den Fingern saugen sie's nicht –, und die erzählten denn, daß sich der jetzige Bräutigam von Ihrem gnädigen Fräulein Schwester – damals war er's noch nicht und wohnte noch als Gast im Hause – ein bischen mehr um das Käthchen bekümmert hätte, als der gnädigen Frau Mama lieb zu sein schien. Geholfen hat's ihm freilich nichts, darauf können Sie sich verlassen, aber einen Skandal gab's doch; das Käthchen ging zwei volle Tage mit verweinten Augen im Hause umher und erklärte der gnädigen Frau Mama endlich selber, daß der Herr Graf Rauten ein nichtsnutziger, böser Mensch sei, vor dem sie sich hüten sollten, oder das Fränzchen – bitte um Entschuldigung, wollte sagen: das gnädige Fräulein Schwester – würde unglücklich ihr ganzes Leben lang, und da brach's aus; die gnädige Frau Mama wurde heftig, und das Käthchen erklärte dann selber, daß sie das Haus verlassen würde. Das Fränz–, das gnädige Fräulein Schwester, wollte ich sagen, wußte wahrscheinlich von der ganzen Geschichte nichts und wollte Käthchen erst nicht fortlassen, ob sie ihr aber etwas erzählt haben oder nicht, ich kann's natürlich nicht sagen, aber auf einmal drehte sie auch den Spieß herum – mir that's weh genug. Da zog denn das arme Käthchen wie ein entlassener Dienstbote aus dem Hause, und alle die vielen hübschen Sachen, die sie früher geschenkt bekommen, hat sie dagelassen. Die gnädige Frau Mama wollte das natürlich nicht zugeben; aber das junge Ding, das sonst für Niemand ein hartes Wort hatte und sich von Jedem um den Finger wickeln ließ, kümmerte sich um nichts und setzte seinen Willen durch, und jetzt stehen alle die Sachen, in eine Kiste verpackt – ich habe sie selber hineinlegen und die Kiste zunageln müssen –, oben auf dem Boden.«
»Und wo wohnt Käthchen, Claus?«
»Hm«, brummte der alte Mann, »ich weiß gerade nicht, ob ich ihr einen Gefallen thue, wenn ich Ihnen ihre Wohnung sage.«
»Und soll ich dies Kind nicht einmal wiedersehen, das ich hundertmal auf dem Arme herumgetragen und mit dem ich aufgewachsen bin?«
»Kind – Kind«, sagte der alte Claus kopfschüttelnd – »hat sich 'was mit dem Kinde. Sie denken nur noch immer an die alte Zeit. Aber vielleicht wär's doch auch nicht mehr wie recht und billig«, setzte er nach kurzem Nachdenken hinzu, »wenn Sie das arme Ding aufsuchten. Sie sieht doch wenigstens, daß sie nicht von allen Leuten vergessen ist, denn aus diesem Hause, das doch ihre Heimath war, bin ich der Einzige, der sie wohl nur mit Augen wiedergesehen hat.«
»In der Hofapotheke, aber oben im dritten Stock unter dem Dache.«
»In der Hofapotheke, am Brink, wo Klingenbruchs wohnen?«
»In dem nämlichen Hause.«
»Lieber Gott, da bin ich schon gewesen und habe keine Ahnung gehabt, daß mein armes Käthchen da oben hause! Ich will heute noch zu ihr gehen.«
»Aber Sie wissen ja nicht einmal, wie sie heißt!«
»Käthchen – wie denn sonst? Ja, wahrhaftig, ihren Zunamen habe ich nie gehört, wer bekümmerte sich sonst darum – sie wurde ja immer nur Käthchen bei uns genannt!«
»An ihrer Thür hat sie ein kleines Papier angesteckt, auf dem steht: »Katharina Peters, Näherin.« Dort klopfen Sie nur an.«
»Peters – Käthchen Peters«, sagte Hans sinnend, »wie fremd das klingt, als ob sie sich verheirathet hätte! Aber einen Zunamen muß sie ja doch auch gehabt und wir Kinder uns nur nie darum bekümmert haben – ach, Claus, was war das für ein kleines, liebes Ding, und wie komisch! Wie haben wir oft über sie gelacht, und was für kluge Antworten sie doch manchmal gab! Ich erinnere mich auch gar nicht mehr, wie sie zu uns in's Haus kam, ich war damals gerade in Pension und weiß nur, daß ich sie fand, als ich zurückkam, und wir dann so glücklich zusammen lebten.«
»Ja, junger Herr«, sagte der Gärtner, »das ist eine kurze, aber traurige Geschichte. Wie Sie noch ein kleiner Bursch waren, fuhr einmal die gnädige Frau spazieren, aber die Pferde scheuten und gingen durch und hätten den Wagen beinahe den Damm draußen vor dem Johannisthore hinuntergeworfen, als ein junger Mann, ein Maler seiner Kunst nach – und die Bilder, die drin im Salon von den gnädigen Herrschaften hängen, sind noch von ihm –, gerade des Weges kam und sich toll und unerschrocken den zügellosen Thieren entgegenwarf. Er lenkte sie auch glücklich ab, daß sie zwischen das Buschwerk hineingeriethen, der Wagen einen Moment stillhielt und die gnädige Frau unverletzt herausspringen konnte; ihm selber aber hatte es doch bös dabei mitgespielt, und mit zerbrochenem Beine mußten sie ihn nachher nach Hause schaffen. Seine schon kranke Frau starb an dem Schreck; er selber wurde allerdings wieder geheilt, aber er mußte sich doch auch im Innern 'was zu Leide gethan haben, oder war es nur der Kummer – aber er wurde nie wieder recht gesund. Drei Jahre lebte er aber doch noch und arbeitete auch, und der gnädige Herr bestellte viel bei ihm, und er war damals fast alle Tage bei uns im Hause und malte.«
»Das erinnere ich mich noch deutlich«, rief Hans – »der Mann mit der großen Staffelei, dem wir Kinder nicht zu nahe kommen durften! Und damals brachte er auch das Käthchen manchmal mit, nicht wahr? Es war noch ein ganz kleines, dickes, rundes Ding!«
»Ja«, sagte Claus, »und dann starb er, und das kleine Kind war eine Waise, arm und allein in der Welt.«
»Da nahmen sie die Eltern zu sich?« rief Hans hastig und froh.
»Ja, sie waren gut mit dem Kinde«, nickte der alte Mann – »verdankten sie es doch auch nur dem Vater desselben, daß ihr Familienglück nicht gestört war, während das seine darüber zu Grunde ging!«
»Und jetzt?« sagte Hans leise.
»Ja, Du lieber Gott,« meinte Claus, »darüber sind nun schon viele Jahre verflossen, und mit der Zeit stumpft sich alles ab – aber die gnädigen Eltern haben doch gut an dem Kinde gehandelt und es wenigstens zu einem braven und tüchtigen Mädchen herangezogen. Gelernt hat sie 'was, und durchbringen thut sie sich ehrlich – da wird denn der liebe Gott schon weiter helfen.«
Hans war recht nachdenkend geworden. Alles das, über was er als blutjunger Mensch nur leicht und oberflächlich hinweggegangen, fühlte er als Mann viel tiefer und nachhaltiger. Daß seine Eltern das Kind damals in's Haus genommen, war nicht mehr als recht, ja, ihre Pflicht gewesen, und daß sie nicht bis an ihr Lebensende bei ihnen bleiben konnte oder würde, verstand sich auch eigentlich von selbst. Aber ein junges, unerfahrenes Ding sich jetzt auf einmal, wo es noch nie selbstständig gehandelt hatte, vollkommen selber zu überlassen und allein auf seiner Hände Arbeit anzuweisen? Hätte das nicht in etwas anderer Art geschehen können?
Und unfreundlich mußten sie auch von einander geschieden sein, sonst hätte Käthchen nicht ihre Geschenke zurückgelassen – und das gefiel ihm nun wieder an Käthchen nicht, denn was auch früher vorgefallen sein mochte, sie war doch jedenfalls seinen Eltern zu großem Danke verpflichtet und hätte das nicht auf solche Weise zeigen sollen. Kein Wunder, daß jetzt die Mutter böse auf sie war – aber warum ihm diese nur gesagt hatte, daß sie als Gesellschafterin nach Italien gegangen sei? Ob es ihr selber so erzählt worden? Möglich – vielleicht hatte sich die Sache auch wieder zerschlagen, ohne daß Mama etwas davon erfuhr, und in's Haus war sie ja doch nicht wieder gekommen, was auch Claus bestätigte. Er konnte sich in die ganze Sache noch nicht recht hineinfinden und schritt kopfschüttelnd und langsam mit untergeschlagenen Armen dem Wohnhause wieder zu. Er überlegte sich auch dabei, ob er seine Mutter nicht einmal nach den genaueren Verhältnissen fragen solle, denn möglich, daß Claus nur eben Küchengeschwätz nacherzählte; aber dann fiel ihm auch wieder ein, wie rasch Mama damals das ihr jedenfalls unliebsame Gespräch abgebrochen – und wozu also unangenehme Gegenstände noch einmal erörtern. Er konnte doch keinenfalls etwas in der Sache thun.
Als er zum Hause zurückkam, fand er die Eltern nicht dort, nur Fränzchen in der sogenannten »Arbeitsstube« von einem wahren Schwarm von Näherinnen umgeben, denn die bis dahin immer etwas hinausgeschobene Ausstattung sollte jetzt beeilt und auch bald beendet werden. Fränzchen hatte allerdings wenig Hoffnung, daß sich die Eltern würden bewegen lassen, ihren Hochzeitstag früher, als bestimmt, anzusetzen; Rauten bat sie aber so dringend, wenigstens alles in Stand zu setzen, daß sie selber nicht nachher noch Schwierigkeiten mache, und um seinen Wunsch zu erfüllen, war sie denn auch mit allen Kräften daran gegangen, und wie in einem Bienenstock ging es in dem Zimmer zu.
Hans warf sich in seinem Zimmer in seine von Peru mitgebrachte Hängematte, rauchte seine Cigarre und grübelte sich dabei in eine ganze Menge von Dingen hinein, in denen das Bild des kleinen Käthchen bald von tausend anderen Dingen verwischt und bei Seite geschoben wurde: Fränzchen's Verlobung, Rauten, Schallers, Kathinka – es flog und zuckte das alles wirr und bunt durcheinander, und erst als er sich dieser verwickelten Gedanken und Pläne klar bewußt wurde, lächelte er still vor sich hin und sagte: »Was das hier doch für ein wunderliches Leben im Vaterlande ist, wie man nur wieder den Fuß hineinsetzt! Wie still und gemüthlich habe ich da drüben in Peru gelebt, Geschäfte und Pläne allerdings auch manchmal im Sinn, aber doch nur solche, die den Kopf oder Geldbeutel betrafen und bei denen weder Herz noch Gemüth mitsprachen! Hier aber bin ich kaum warm geworden und nur erst lange genug in der Stadt, um mich wieder nothdürftig in den Straßen zurecht zu finden, und der Teufel ist schon aller Ecken und Enden los! – Bah, ich werde es genau so machen, wie drüben,« setzte er dann nach einer kleinen Weile hinzu, »und alles ruhig an mich herankommen lassen, aber keinen einzigen Plan mehr machen! Wozu auch? Das Leben entwickelt sich ja doch von selber, und da, wo wir nachher thätig eingreifen wollen und es wunder wie klug anzufangen glauben, machen wir gewöhnlich die größten Dummheiten – Esperamos,« setzte er lächelnd hinzu, »die Zeit reift auch saure Aepfel, und da ich noch genügend Zeit habe, kann ich es ruhig abwarten.«
In dem Augenblick öffnete sich die Thür – er hatte, mit seinen Gedanken beschäftigt, gar nicht gehört, daß ein Wagen vorgefahren war –, und seine Mutter stand auf der Schwelle.
»Aber, Hans,« rief sie, indem sie wieder einen Schritt zurücktrat und die Thür dabei weit offen ließ, »erstickst Du denn nicht in dem Qualm? Man sollte gar nicht glauben, daß es ein Mensch darin aushalten könnte!«
»Ach, meine liebe Mama,« rief Hans, indem er aus der Hängematte emporsprang – »weißt Du, es war mir heute ein wenig zu kalt draußen, ich bin doch noch etwas frostiger Natur, und ich mochte die Fenster nicht gern öffnen, so warm auch die Sonne draußen scheint!«
»Und kannst Du darin existiren, Hans?«
»Wie Du siehst, Mama, vortrefflich,« lachte Hans; »ich befinde mich sogar in einer solchen Atmosphäre ausgezeichnet, und der Tabaksrauch ist mir etwa das, was dem Seefisch Salzwasser oder der Sardine Oel ist.«
»Du bist ein schrecklicher Mensch geworden,« sagte die Mutter, »vollkommen entartet! Man sollte die Kinder nie außer Rufsweite lassen, oder man bekommt sie jedesmal vollständig verdorben wieder zurück.«
»Essen wir bald, Mama? Du weißt, ich habe Schaller versprochen, ihn um vier Uhr abzuholen.«
»Ja, mein Sohn, es ist schon gedeckt, und die Glocke wird gleich läuten.«
»Ist Papa zu Hause?«
»Gewiß.«
»Schön, dann wollen wir scharf an's Werk gehen. Ich darf Schaller nicht warten lassen, denn wir versäumen sonst den Zug.«
»Wann warst Du bei ihm?«
»Gestern natürlich, nach der Gesellschaft.«
»Wie gefallen Dir die Leute?«
»Ich weiß es nicht, Mama.« sagte Hans nach einer kleinen Pause, »und ich habe schon selber darüber nachgedacht; die Bekanntschaft ist noch zu neu.«
»Aber doch nicht, um zu sagen wie sie uns gefallen. Ich dächte, Du hättest neulich behauptet, man könne das auf den ersten Blick bestimmen.«
»Nun, dann gefällt mir Frau von Schaller gar nicht,« lachte Hans, »wenn ich nach dem ersten Eindruck schließen soll; denn wenn sie nicht schon vollständig verrückt ist, so hat sie jedenfalls die beste Anwartschaft dazu!«
»Aber Hans!«
»Sieh nur, wie sie sich kleidet. Eine Frau, die über sechsunddreißig Jahre alt ist, sollte nie einen jugendlichen Charakter mehr zur Schau tragen, oder sie macht sich jedesmal lächerlich. Die Anderen täuscht sie doch nicht mehr, das alte Gesicht verräth sie erbarmungslos; und kleidet sie sich ihrem Alter entsprechend, so gebe ich von Herzen gern zu, daß eine derartige Frau noch schön sein kann; wählt sie aber bunte, lebendige Farben zu ihrem Anzuge oder staffirt sie sich sonst noch mit allerlei Krimskrams heraus, dann zeugt das entweder von einem ganz erbärmlichen Geschmack, oder von einer albernen und ihren Zweck noch außerdem gänzlich verfehlenden Eitelkeit. Frau von Schaller geht aber noch weiter; mit ihren langen Schmachtlocken und Blumen im Haar macht sie sich zur völligen Carricatur, über die besonders die Officiere in der Stadt, aber sonst auch alle vernünftigen Menschen spotten.«
»Eine kleine Schwäche,« sagte Frau von Solberg, den Kopf dabei herüber und hinüber wiegend; »welcher Mensch ist ohne solche! – und sie kränkt Niemand damit, als sich selber. Aber Kathinka ist ein liebes Wesen.«
»Das ist sie, Mama,« bestätigte Hans; »aber auch aus ihr bin ich noch nicht recht klug geworden.«
»Wie so?«
»Sie hat etwas merkwürdig Verschlossenes in ihrem ganzen Wesen, ich möchte, fast sagen, Kaltes und Abstoßendes sogar manchmal; und dann wieder zieht es wie lichter Sonnenschein über ihr wirklich hübsches Antlitz.«
»Sie ist ein sehr begabtes Kind.«
»Ich weiß es; sie soll sehr hübsch malen und hat eine wahrhaft prachtvolle Stimme.«
»Hast Du sie schon Clavier spielen hören?«
»Nur die Begleitung ihres eigenen Liedes neulich.«
»Sie könnte in jedem Concert Aufsehen machen.«
»Wie schade, daß sie mit all' diesen Gaben so geizt!«
»Du verlangst doch nicht etwa, daß sie sich öffentlich produciren soll?«
»Nein,« sagte Hans, »das nicht; aber anstatt ihre Mutter singen zu lassen, sollte sie es selber thun. Uebrigens sagte mir Schaller an dem Gesellschaftsabend selber mit ziemlich deutlichen Worten, daß es bei seiner Frau im Oberstübchen nicht ganz richtig wäre, und merkwürdiger Weise machte sie eine ganz ähnliche Bemerkung über ihn.«
»Der alte Herr von Schaller ist ein höchst komischer Kauz und steckt voller Anekdoten.«
»Das thut er – aber, Mama, wie ist es mit dem Essen?«
»Ich habe schon Befehl gegeben. Ueberhaupt sehe ich es gern, wenn Du mit der Familie Schaller verkehrst; das wäre eine Frau für Dich, Hans.«
»Aber, Mama,« lachte der junge Mann, wurde aber trotzdem ein wenig roth, »wie kommst Du so plötzlich darauf?«
»So plötzlich?« sagte seine Mutter; »ich habe darüber schon länger nachgedacht, denn Kathinka gerade wäre eine Schwiegertochter, wie ich sie mir wünschte; wir könnten stolz auf sie sein.«
»Aber darin liegt das Glück doch nicht!«
»Nicht allein, das gebe ich zu, aber doch auch mit zum Theil.«
»Und doch hast Du Dich gegen Dürrbeck's Wahl so entschieden geäußert.«
»Aber, Hans, das ist doch ganz etwas Anderes – eine Schauspielerin, und außerdem von bürgerlichem Stande!«
»Liebe Mama,« sagte Hans, »Du darfst es mir nicht so sehr übel nehmen, wenn ich meine Ansichten über den sogenannten »bürgerlichen« Stand da draußen etwas geändert habe; denn in den verschiedenen Republiken weiß man eben nicht besonders viel vom Adel, und mein ganzes Fortkommen verdanke ich ausschließlich dieser bei uns weniger bevorzugten Klasse.«
»Aber Du bist jetzt wieder in die alten Verhältnisse eingetreten.«
»Zuerst vorsichtig mit einem Fuße, Mama, und den auch nicht fest aufgesetzt, sondern nur um erst zu prüfen, ob der Boden auch fest und bequem ist; finde ich mich darin getäuscht, dann ziehe ich den Fuß einfach zurück und springe wieder in die Verhältnisse, die ich genau kenne, hinein.«
»Und davor,« sagte die Mutter, »hoffe ich, daß wir Dich bewahren; überlasse das mir, Hans, ich werde Dich darin schon leiten.«
»Ich weiß doch nicht, meine gute Mama,« lachte der junge Mann etwas verlegen, »ob ich Dir darin das Steuer so ganz und ruhig überlassen kann; Du möchtest da in Gegenströmungen und besonders Passate gerathen, die Du noch nicht kennst und gegen die ein Ansegeln nicht gut möglich ist. Aber bis jetzt,« setzte er leichtherzig hinzu, »fahren wir ja noch mit gutem Winde langsam unsere Bahn und haben vollkommen Zeit, um das alles ruhig abzuwarten. Aber hallo, da tönt die Klingel! Apropos, wo steckt Rauten? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.«
»Er hat wohl Besorgungen gehabt; vielleicht ist er im Garten.«
»Nein; vorhin war er wenigstens nicht dort, und wir hätten ihn hier müssen kommen sehen. Eine merkwürdige Unruhe, die jetzt in dem Menschen steckt, und so zerstreut ist er, daß er Einem fortwährend verkehrte Antworten giebt; er hat Sorgen mit seinem Gute.«
»Ja, und drängt jetzt, die Verbindung zu beschleunigen,« sagte Frau von Solberg; aber der Gedanke ist mir schrecklich, den Ehrentag meiner Tochter auf einen andern als den bestimmten Tag zu verlegen. Ich kann wohl sagen, daß es seit meiner Verheirathung der Lieblingswunsch meiner Seele gewesen ist, und die paar Wochen werden ja doch nun auch wirklich keinen Unterschied machen.«
»Es ist für den Landwirth gerade eine sehr wichtige Zeit, und ich weiß doch nicht, ob Du ihm darin nicht willfahren solltest.«
»Rege mich nicht auf, Hans,« sagte Frau von Solberg; »meine Nerven sind überhaupt schon so angegriffen, daß ich nur bei der Erwähnung dieser Sache Kopfschmerzen bekomme. Es ist alles abgemacht; Graf Rauten wußte vorher, daß die Trauung in das Frühjahr fiele, und hat sich dem bereitwilligst gefügt. Wir werden auch vor dem festbestimmten Tage nicht einmal mit unseren nothwendigsten Arbeiten fertig, und – wie gesagt, es läßt sich an dem Tage nichts mehr ändern und – soll auch nichts daran geändert werden. Ich denke, die Mutter hat da auch ein Wort mit einzureden; es wird mir so schwer genug, mich von meinem Kinde zu trennen. Aber ich höre den Vater auf der Treppe – komm, Hans, und wenn Du mich lieb hast, berührst Du das Capitel nicht wieder.«