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Als der Notar den jungen Handorf in das Cabinet gelassen hatte, betrat Baron Solberg das Zimmer, und Püster erschrak darüber etwas. Er hatte die fremde Dame erwartet, die noch immer nicht kam, und jetzt traten schon die Herren ein. Was wurde dann aus seinem ganzen Plane! Der alte Baron Solberg ließ ihm aber keine Zeit, darüber zu grübeln, denn auf ihn zugehend, sagte er, und stand dabei so steif aufgerichtet, wie auf Parade:
»Herr Notar, Sie wissen, welcher unglückselige Verdacht mich heute in Ihr Haus führt?«
»Ich weiß alles, Herr Baron,« nickte der kleine Mann – »ich muß alles wissen, oder ich würde gewiß nicht gewagt haben, so auf einen bloßen Verdacht hin zu handeln. Ja, ich weiß sogar noch mehr, als Sie jetzt nur vermuthen, und zwar die ganz bestimmte Thatsache, daß Herr von Schaller, der intime Freund des Grafen Rauten, der ihn auch, wenn ich nicht irre, in Ihrem Hause eingeführt hat, ein ganz gemeiner Betrüger und Schwindler ist.«
»Schaller? Es ist nicht denkbar!« stöhnte der Baron.
»Nicht denkbar?« meinte achselzuckend der Notar. »Wir werden nicht mehr viel darüber zu denken brauchen, denn in einer halben Stunde etwa platzt die Bombe, und ich müßte mich sehr irren, wenn das nicht die beiden würdigen Herren zu gleicher Zeit auf das Trockene setzte.«
»Sie glauben doch nicht, daß sie gemeinschaftliche Sache gegen mich gemacht haben können?«
»Ich glaube das nicht allein,« sagte Püster, »sondern ich bin ziemlich fest davon überzeugt; aber wir können uns recht gut eine Auseinandersetzung ersparen, denn die Bestätigung wird nicht lange auf sich warten lassen. Ihr Herr Sohn kommt doch auch?«
»Er steht schon unten mit Graf Rauten an der Thür.«
»Alle Teufel,« fuhr Püster auf, »das ist eine verfluchte Geschichte – und die Dame noch nicht da – jetzt muß sie dicht bei den Herren vorüber!«
»Welche Dame?« sagte der Baron.
»Auch eine Ueberraschung, verehrter Herr!« rief Püster, sich in aller Verzweiflung die Hände reibend. »Ich sage Ihnen, es geht heute bei mir zu wie bei anderen Leuten zu Weihnachten, lauter Ueberraschungen, nur daß zu Weihnachten Einer Vielen beschert, während wir Viele das heute nur alles für den Einzigen vorbereitet haben! Wenn nur die unglückselige Dame käme – aber das weiß der liebe Gott, Frauen werden doch nie mit ihrer Toilette fertig; ich bin nur neugierig, wie das werden wird, wenn sie erst einmal in den Staatsdienst treten, wohinter sie jetzt ja aus allen Kräften her sind!«
Draußen auf dem Vorsaal tönte ein leichter Schritt.
»Das ist Mux,« stöhnte der Notar, »und wenn sie nicht mitkommt, sind wir Alle miteinander gründlich blamirt!«
Es war in der That Mux; aber schon im nächsten Moment öffnete er die Thür, und Püster stieß ein aus voller Brust kommendes »Gott sei Dank!« hervor, als er die Frauengestalt bemerkte, welche, von Mux geleitet, das Zimmer betrat.
Mux schrak zurück, als er den alten Baron erkannte, aber er faßte sich rasch, und ihn nur ehrerbietig grüßend, was aber der alte Herr in der Aufregung gar nicht bemerkte oder beachtete, sagte er leise und dringend: »Sie werden gleich oben sein, Herr Notar!«
Püster sah im Nu, daß die Fremde, dicht verschleiert wie sie war, von den unten befindlichen Herren nicht erkannt sein konnte. – »Und haben sie gesehen, wohin sie ging?« fragte er nur zurück.
»Nein,« erwiderte Mux, »sie stehen noch unten vor der Thür; es ist alles in bester Ordnung.«
»Gut, Madame,« sagte Püster mit einer artigen Verbeugung, »dann haben Sie die Güte, hier hinter den Vorhang zu treten. Sie finden dort ein bequemes Fauteuil, und ich bitte Sie nur, sich ganz kurze Zeit vollkommen ruhig zu halten, damit man Ihre Gegenwart nicht bemerkt. Wenn Sie vortreten sollen, werde ich Sie hereinführen.«
Die Dame sah ihn groß an, rührte sich aber nicht von der Stelle, und Mux flüsterte jetzt dem Notar zu, daß die Fremde gar kein Deutsch verstehe.
»Das ist aber eine verfluchte Geschichte,« meinte Püster; »dann versteht sie ja auch nichts von dem, was verhandelt wird!«
»Ueberlassen Sie das mir, Herr Notar,« sagte Mux freundlich, »ich habe sie schon in Allem genau instruirt. Sie weiß, was gesprochen werden wird und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wann sie vortreten muß. Ich werde ihr auch das Andere begreiflich machen.« – Damit wandte er sich an die Dame, erklärte ihr in vollkommen reinem Englisch und mit so kurzen Worten als möglich die Bitte des Notars und führte sie dann hinter den jetzt total niedergelassenen grünen Vorhang des Eckfensters, hinter dem er mit ihr verschwand. »Das ist ein kleiner intelligenter Bursche,« sagte der Baron, der ihn die letzten Minuten aufmerksam beobachtet hatte.
»Das ist er in der That,« nickte zustimmend der Notar. »Aber jetzt, verehrter Herr, nehmen Sie dort in jenem Sessel Platz, ich höre die Herren kommen, und bewahren Sie nur um Gottes willen kaltes Blut. – Mux!«
Mux glitt hinter der Gardine vor und ohne Weiteres an sein Pult, und schon im nächsten Moment öffnete sich die Thür, in der Schaller, von Rauten und Hans gefolgt, zuerst erschien.
»Holla, mein lieber Notar,« rief er aus, wie er nur Püster bemerkte, indem er mit beiden vorgestreckten Händen auf ihn zuging und in diese die ihm gebotene Rechte nahm und kräftig schüttelte, »wir haben uns ja in einer Ewigkeit nicht, oder doch nur par distance durch die gegenseitigen Fensterscheiben gesehen! Freue mich unendlich, Sie so frisch und wohl zu finden!«
»Herr Baron, es ist mir eine ganz besondere Ehre,« sagte der kleine Mann trocken.
Schaller aber, Baron Solberg bemerkend, ging jetzt zu diesem über: »Ah, bester Baron, Sie sind uns zuvorgekommen, wie? Ja, immer noch frisch auf den Füßen, und einem Jüngeren würden Sie im Marschiren etwas aufgeben können. Nun, heut Abend werde ich ja auch das Vergnügen haben, Ihnen meine kleine Familie vorzuführen, freue mich unmenschlich darauf, wahrhaftig – und Rauten hat die Zeit nun gar nicht erwarten können, was ihm übrigens der Teufel danken mag!«
»Mein lieber Herr von Schaller,« sagte der Baron, welcher bei der Begrüßung aufgestanden war, »gebe Gott, daß wir uns alle heut Abend so froh, wie wir es Beide wünschen, zusammenfinden mögen, und Sie sollen dann in der That sehen, daß der alte Solberg trotz seiner Jahre auch noch tanzen kann!«
»Alle Wetter,« lachte Schaller, »dann versuch' ich's auch, auf Ehre, und wenn Sie einen jungen Menschen bemerkt haben, der seine Beine schlenkert, so bin ich es – hahaha!«
Das Lachen klang ein wenig unheimlich, denn es stimmte Niemand mit ein, und selbst Baron von Solberg machte ein gar zu ernstes Gesicht dazu. Püster aber, der indessen zu Mux getreten war und mit diesem einige Worte geflüstert hatte, sagte jetzt mit seiner nicht übermäßig lauten, aber doch sehr klangvollen Stimme:
»Meine Herren, dürfte ich Sie vielleicht ersuchen, Platz zu nehmen, denn ich glaube, es liegt in Ihrem allseitigen Interesse, daß, was hier zu geschehen hat, auch bald geschieht. Herr Graf, wenn ich bitten darf, diesen Stuhl, Herr von Schaller, wenn ich bitten darf, hier. – Hast Du das Schriftstück fertig, Mux?«
»Ja, Herr Notar.«
»Schön. Also, meine verehrten Herrschaften, ich setze voraus, daß Sie allseitig verständigt sind, zu welchem Zwecke ich die Ehre habe, diese geehrten Herren bei mir zu sehen.«
»Ich glaube ja,« sagte Schaller.
»Sehr gut! Darf ich mir dann noch vorher erlauben, die Frage an den Herrn Grafen Rauten speciell zu richten, ob er willens ist, die Mitgift heute in Empfang zu nehmen und dann morgen mit der gnädigen Baronesse Franziska von Solberg ehelich verbunden zu werden?«
»Wenn es die Form erfordert,« lächelte Rauten, »so bin ich gern erbötig, die Frage zu beantworten, obgleich es derselben kaum bedurft hätte – Ja!«
Der Notar schwieg und sah den Grafen dabei fest an. Er befand sich selber, trotz seiner äußern anscheinenden Ruhe, in gewaltiger Aufregung und mußte sich die größte Mühe geben, das nicht durchscheinen zu lassen.
»Sehr gut, und Herr Baron von Solberg ist willens, dem Herrn Grafen von Rauten, als seinem künftigen Schwiegersohn, diese Mitgift, die sich in runder Summe auf fünfzigtausend Thaler beläuft, heute auszuzahlen?«
»Allerdings,« sagte von Solberg fast tonlos.
»Und sind alle diese Formen nöthig?« lächelte Rauten. »So viel ich weiß, ist das Ganze nur ein Privatact, der vielleicht von einem Notar beglaubigt werden kann, aber doch wahrhaftig kein besonderes Verhör bedingt.«
»Herr Graf bemerken sehr richtig,« erwiderte Püster, »und etwas Derartiges würde unter gewöhnlichen Verhältnissen auch nicht geboten sein. Hier aber galt es vor allen Dingen, die beiden Thatsachen vor Zeugen zu constatiren und Sie dann später, Herr Graf, zu ersuchen, einen Einwand zu heben, der eben gegen diese Verbindung von anderer Seite her gemacht ist.«
»Ein Einwand von anderer Seite?« sagte Rauten und sah den Redenden erstaunt an. Das eiskalte, ernste Betragen seines Schwiegervaters war ihm schon aufgefallen, da er ihn eigentlich so noch nie gesehen. Und jetzt diese sonderbare Bemerkung des Notars! – Was sollte das heißen?
»Allerdings,« erwiderte Püster ruhig; »es ist freilich nur ein unbedeutender Gegenstand, der ihn hervorgerufen, in einer so wichtigen Angelegenheit muß aber auch das Unbedeutendste berücksichtigt werden, und ich möchte mir deshalb – natürlich im Namen des Herrn Baron von Solberg – die Frage an Sie erlauben: Waren Sie je in Nordamerika?«
Rauten sah ihn starr an. – Was meinte der trockene Actenmensch damit? – Er erwiderte ein kurzes, fast barsches: »Nein!«
»In der That nicht?« sagte Püster, indem er von dem Pult, neben dem er stand, die schon bereit liegende Photographie nahm, »dann ist es mir freilich unerklärlich, wie Sie in New-York konnten ein Lichtbild von sich aufnehmen lassen. Ist das nicht das Ihrige, Herr Graf?«
Er überreichte dem Grafen das Bild, und Rauten warf kaum den Blick darauf, als er auch fühlte, wie das Blut nach seinem Herzen zurückwallte. – Was ging hier vor? Was alles bezweckten diese Fragen? Woher kam das Bild?
Er sprang von seinem Stuhl auf; er wußte, daß er hier keine Bewegung verrathen durfte, denn des alten Solberg Augen schienen sich in ihn hinein zu bohren, und lachend rief er aus: »Das ist allerdings eine merkwürdige Aehnlichkeit, und ich hätte im Leben nicht geglaubt, daß ich einen solchen Doppelgänger hätte. Ein Glück nur, daß er sich drüben über See befindet – aber woher haben Sie das Bild?«
»Das wollte ich mir eben erlauben, Ihnen zu bemerken. Eine Dame hat es an mich eingeschickt, deren Gatte sie böslich und nichtswürdig verlassen hat. Sie hoffte dadurch auf seine Spur zu kommen.«
Rauten ließ, während Püster sprach, den Blick im Zimmer umherschweifen und bemerkte Hans, der mit untergeschlagenen Armen an dem einen Thürpfosten lehnte und sein klares Auge fest auf ihn gerichtet hielt.
Jetzt zum ersten Male stieg in Rauten's Brust der Gedanke auf, daß er – wer wußte denn durch welchen Zufall – wenn nicht verrathen, doch verdächtigt oder angeklagt sei. Aber wer zum Teufel konnte Beweise gegen ihn bringen, sobald er selber nur sein ruhiges Blut bewahrte und sich nicht selbst verrieth!
»Herr Notar Püster,« sagte er deshalb rasch gefaßt, »ich muß Sie bitten, zur Sache zu kommen. Das alles, was Sie da vorgebracht, gehört doch wahrhaftig nicht hierher. Was schert das uns, wenn eine Frau ihren weggelaufenen Mann sucht? Was haben wir damit zu thun? Was kümmert uns ferner die Photographie, ausgenommen das, daß sie für mich persönlich ein specielles Interesse durch die merkwürdige Aehnlichkeit mit mir hat! Den Reinigungseid, daß ich nicht verheirathet sei, da ich von Indien unmöglich die wirklichen schriftlichen Beweise schaffen konnte, habe ich schon geleistet. Was also wollen Sie mehr?«
»Ihnen nur noch ein anderes Bild zeigen, Herr Graf,« sagte Püster, indem er langsam auf den das Eckfenster verhüllenden Vorhang zuschritt. Er verschwand dahinter, aber schon im nächsten Augenblick schlug er ihn wieder zurück und trat, eine Dame am Arme, heraus.
»Kennen Sie diese Frau, Herr Max von Rehberg?« sagte er dabei mit rauher, fast tonloser Stimme, und Rauten schaute entsetzt in das Antlitz seiner eigenen Frau.
»Max«, sagte diese, indem sie ihn groß aus den hohlliegenden Augen anstarrte, »und muß ich Dich so hier wieder finden? Falscher, verräterischer Mann, Mörder meines Glücks und Räuber meines Vermögens, hat Dich die Strafe endlich erreicht?«
Rauten stand einen Moment wirklich sprachlos, und mit Entsetzen bemerkte der alte Baron die Veränderung, die in seinen Zügen vorging. – Großer, allmächtiger Gott, der Verdacht war kein Verdacht mehr! Der doppelt meineidige Räuber stand vor seinem Richter!
Die unbehaglichste Rolle dabei spielte, nach Rauten selber, jedenfalls Schaller, dem diese ganze Scene vorkam, als ob sie auf einem Theater aufgeführt würde und er nur als Zuschauer dabei sitze – oder spielte er wirklich mit? Er hatte ganz in Gedanken sein rechtes Knie zwischen beide Hände genommen und wiegte sich auf seinem Stuhle, wie er das zu Hause nicht selten that, und dabei flog sein Blick halb scheu, halb verblüfft von der fremden Frau zu Rauten, zu Hans, zu dem Baron, wie zu dem Notar hinüber. – Waren die Leute denn wirklich im Ernst, oder hatten sie nur einen tollen Polterabendscherz vor, der darauf berechnet war, sich über ihn lustig zu machen?«
Rauten aber gewann von allen am ersten seine Fassung wieder. Er richtete sich hoch auf, und ohne die Anrede der Frau zu erwidern, ja, sie kaum eines Blickes zu würdigen, sagte er kalt: »Herr Notar Püster, was ist das für eine Komödie, die Sie hier spielen? Was soll die fremde Dame, weshalb reden Sie selber mich mit einem fremden Namen an? Bin ich denn in ein Irrenhaus gerathen, oder was ist das hier? Mein lieber Baron,« wandte er sich dann an den alten Herrn, »ich glaube fast, die Zeit ist jetzt nicht passend, unser Geschäft zu regeln. In dieser Umgebung verzichte ich wenigstens darauf und werde Sie lieber, ehe die Gäste eintreffen, in Ihrem eigenen Hause aufsuchen.«
Er hatte, während er die letzten Worte sprach, seinen Hut aufgegriffen und wandte sich der Thür zu. An dieser aber, die sich nach innen öffnete, lehnte jetzt mit der größten Ruhe Hans, und als Rauten auf ihn zutrat, sagte er, ohne sich aber nur in seiner Stellung zu rühren: »Bleibe noch, Rauten, wir sind noch nicht fertig, ich habe selber noch ein Wort mit Dir zu reden.«
»Oh mein Gott,« klagte dabei die Frau, »laßt ihn nicht fort, er hat ja mein ganzes Vermögen gestohlen, und wenn er jetzt das Freie gewinnt, findet ihn kein Mensch wieder!«
»Beruhigen Sie sich, Madame,« flüsterte ihr Mux zu, der an ihre Seite glitt; »seine Wohnung ist besetzt, und mitnehmen kann er nichts von hier.«
Als Hans ihm nicht Raum gab, richtete sich Rauten hoch und stolz empor und sagte mit eisiger Schärfe im Tone: »Was soll das alles heißen? Wird hier wirklich eine Komödie mit mir gespielt, zu der mich meine Braut besonders eingeladen? Ich verlange Aufklärung!«
»Nur deshalb sind wir hier zusammengekommen,« sagte Hans mit eiserner Ruhe. »Du sprichst ja vortrefflich Englisch, Rauten – bitte, sprich mit jener Dame – sie klagt Dich an, der Mann zu sein, der mit ihr in New-York ein Ehebündniß geschlossen und sie dann böslich verlassen und bestohlen habe.«
»Herr von Solberg!« fuhr Rauten empor.
»Es ist ja nur eine Anklage,« sagte Hans leichthin, »der Du rasch wirst begegnen können. Du mußt aber doch einsehen, Rauten, daß Du meine Schwester nicht heirathen kannst, ehe Du diese Anschuldigung widerlegt hast.«
»Gut denn – was will die Dame?«
»Dich nicht,« sagte Hans trocken, »nur ihre Bonds und ihren Schmuck zurück, was Du, wie sie behauptet, mitgenommen. Bitte, Madame,« wandte er sich dann in englischer Sprache an die junge Frau, »bringen Sie Ihre Anklage vor – ich selber wie mein Vater verstehen Englisch, ebenso der junge Mann. Ich weiß nicht, ob Sie der englischen Sprache mächtig sind, Herr von Schaller?«
»Hahaha,« lachte Schaller verlegen auf und wünschte sich in diesem Augenblick nach irgend einer entlegenen Gegend des Erdballes. Er fing an zu ahnen, wie sich die ganze Sache gestalten könne, da von dem Gelde ja gar keine Rede war – »nicht die Spur, mein lieber Baron, nicht die blasse Spur, nur nothdürftig ein klein wenig Französisch.« '
»Gentlemen,« sagte die Frau – und es war eine bildhübsche edle Gestalt, wie sie da hoch aufgerichtet, mit den dunkeln Locken und funkelnden Augen, dem Angeklagten gegenüber stand (Mux war wieder neben den Notar getreten, um ihm mit kurzen Worten das, was sie sagen würde, zu übersetzen) – »der da« – und sie hob ihre Augen empor und deutete damit auf den ihr kalt gegenüber stehenden Grafen Rauten – »hat sich im vorigen Jahre unter dem Namen eines Max von Rieberk in unsere Familie eingeschlichen und mein Herz zu gewinnen gewußt. Ich konnte damals wohl nicht ahnen, daß er nichts als ein gemeiner Schurke sei, der, wie ein Einbrecher nur bei Nacht, am hellen Tage in unser Haus trat, um alles zu stehlen, worauf er die Hand legen konnte. Aber er war schlimmer als ein Einbrecher, der sich nur mit Gold und Schmucksachen begnügt – er stahl auch die Ehre, das Glück unseres Hauses, und deshalb bin ich ihm gefolgt, dem meineidigen Verräther, deshalb habe ich keine Rast noch Ruhe gehabt und der Noth und dem Mangel getrotzt, nur um ihn wieder zu ereilen und der strafenden Hand der Gerechtigkeit zu übergeben!«
»Kennst Du die Dame, Rauten?« fragte Hans mit leiser, fast lächelnder Stimme, aber ebenfalls in englischer Sprache.
»Nein,« erwiderte Rauten finster; »meiner Meinung nach ist es eine aus einem Irrenhause losgebrochene Wahnsinnige. Ich war nie in New-York oder überhaupt in Nordamerika.«
»Er lügt, wie er da steht!« rief die Frau, wieder den Arm gegen ihn ausstreckend und den Kopf zurückwerfend. »Feiger, erbärmlicher Lügner und Schuft!«
»Hans,« sagte Rauten mit finster zusammengezogenen Brauen, »das geht über menschliche Geduld. Ich bin überzeugt, die Frau ist eins jener unglücklichen Wesen, die mit irgend einer fixen Idee im Leben herumlaufen, und sie kann mich deshalb nicht beleidigen. Daß Ihr alle aber wie gestrenge Richter da herum sitzt und gerade so thut, als ob ich vor Euch in einem Verhör stände, das ertrag' ich nicht länger und brauche es nicht zu dulden. Was soll das alles? Hat die wahnsinnige Aussage oder Anschuldigung eines solchen Weibes genügt, daß Ihr Euch überzeugt hieltet, ich sei wirklich ihr Gatte? Hat sie Euch die geringsten Beweise, Papiere oder sonst etwas gebracht?«
Hans schwieg einen Moment und sah dabei still vor sich nieder. Endlich sagte er, und wieder in deutscher Sprache: »Wir wollen den Fall einen Moment außer Acht lassen, Rauten; ich selber habe aber hier eine Kleinigkeit, wegen der ich Dich um Aufschluß bitte. Erinnerst Du Dich noch, daß wir an dem nämlichen Tage, an welchem sich Dürrbeck erschoß, Mittags mit einigen jungen Damen im Garten spielten?«
»Ja – was soll das?«
»Du kamst gerade aus dem hier unter uns befindlichen Local, wo Du mit meinem Freunde Dürrbeck eine Flasche Champagner und – sein Leben ausgewürfelt hattest.«
»Und wer sagt Dir das?« fragte Rauten mit finster zusammengezogenen Brauen zurück.
»Gleichviel, wer es mir sagte,« fuhr Hans kalt fort; »aber unmittelbar danach fiel Dir im Spiel und als Du stolpertest, diese Spielerei aus der Tasche – kennst Du den Würfel, Rauten?«
»Und was hab' ich mit dem Würfel zu thun?« fragte Rauten kalt.
»Ich erzählte Dir ja soeben, daß ich gesehen habe, wie er aus Deiner eigenen Tasche fiel,« fuhr Hans fort. »Anfangs achtete ich nicht weiter darauf und steckte ihn nur zu mir, um ihn Dir bei passender Gelegenheit zurück zu geben; ich fand aber zufällig aus, daß es ein ganz besonderer Würfel sei. Sieh einmal, wie komisch: unter der Eins liegt eine dicke Bleiplatte – wie zufällig sich das gemacht hat! Mit diesem Würfel kann man nur sechs Augen werfen.«
»Ich erinnere mich jetzt,« sagte Rauten kalt; »ich fand ihn vor dem Hause liegen, als ich eintreten wollte. Irgend Jemand muß ihn verloren haben, und ich selber dachte natürlich gar nicht wieder daran.«
»Gegen solche Würfel,« fuhr Hans immer noch mit der nämlichen eisigen Kälte, aber doch jetzt mit zitternder Stimme fort, »konnte mein armer Dürrbeck natürlich nicht ankämpfen.«
»Hans!« rief Rauten emporfahrend, und sein Auge sprühte Feuer, seine ganze Gestalt bebte, und es war augenscheinlich, daß er sich nur mit der furchtbarsten Gewalt zurückhielt.
Hans rührte sich allerdings nicht, aber er behielt den Feind auch fest und sorgsam im Auge, um jedem möglichen Angriff rasch und geschickt begegnen zu können, und jetzt hielt es Schaller für gerathen, sich in's Mittel zu legen.
Die Geschichte hier war faul, so viel hatte er schon herausgefühlt, und daß Rauten von Solbergs heute Morgen keine fünfzigtausend Thaler bekam, lag auf der Hand; aber die Geschichte konnte noch fauler werden, wenn gewisse andere Dinge auch gegen ihn zur Sprache kamen, und je eher er sich deshalb aus der Affaire zog, desto besser. Er hatte jetzt zu Hause gerade selber genug zu thun und verlangte nach keinen weiteren Erörterungen.
»Mein lieber Solberg,« sagte er, indem er von seinem Stuhle, auf dem er die letzte Viertelstunde wie auf Stecknadeln gesessen, in die Höhe fuhr, »Sie deuten da Sachen an, die Einem die Haare zu Berge sträuben könnten, wenn sie eben begründet wären; aber Sie werden mir zugestehen, daß dieses Gespräch für einen Dritten, Unbetheiligten peinlich sein muß. Ich begreife überhaupt nicht, weshalb ich – und wahrscheinlich nur durch Zufall – zu einem »Familienrath« geladen wurde, dessen Angelegenheiten weit besser unter vier Augen als vor Zeugen verhandelt werden sollten. Wenn Sie mir gestatten, werde ich mich gehorsamst empfehlen.«
»Ich bitte Sie, Schaller, bleiben Sie,« unterbrach ihn Rauten; »es scheint hier ein Complot gegen mich im Werke zu sein, bei dem ich doch gern einen unparteiischen Zeugen haben möchte.«
»Ich ersuche Sie ebenfalls, Herr von Schaller,« sagte auch Hans, »nur noch kurze Zeit hier zu verweilen; wir haben außerdem einen höchst pikanten Fall, der Sie auf das Aeußerste interessiren möchte. Dann wünschte ich auch Ihre Auskunft noch später in einer kleinen Angelegenheit zu haben.«
»Mein lieber Solberg,« sagte Schaller mit einem aber total verunglückenden Versuch zu seinem alten Humor, »Sie werden mich entschuldigen, wenn ich das Interesse entschieden bezweifle; aber da es beide Theile zu wünschen scheinen, halt' ich noch aus, muß Ihnen jedoch bemerken, daß ich einer wichtigen Geschäftssache wegen nothgedrungen um halb zwei Uhr drüben in meiner Wohnung sein muß.«
»Wir werden Ihre Geduld nicht lange auf die Probe stellen, Herr von Schaller,« sagte Hans kalt. »Vor allen Dingen erlauben Sie mir nur die Frage an Sie zu richten, woher Sie Ihre Referenzen über den Grafen Rauten und dessen Güter in Galizien gezogen haben? Vielleicht interessirt es Sie doch, diesen Brief einmal durchzulesen, der genau aus jener Gegend stammt, wo allerdings Rauten'sche Güter in Besitz einer Grafenfamilie von Rauten sind, bei denen es aber keinen Leopold giebt. Herr Notar, dürfte ich Sie wohl einmal um den betreffenden Brief ersuchen?«
»Oh verflucht,« sagte von Schaller, indem er in seine Tasche griff, »jetzt habe ich meine Brille vergessen!«
»Dazu möchte ich mir noch eine Bemerkung erlauben,« fiel jetzt der Notar ein. »Ich glaube, der Irrthum liegt allein in Galizien, das Graf Rauten vielleicht noch gar nicht gesehen hat, desto bekannter scheint er aber in Schlesien zu sein. Erinnern Sie sich noch vielleicht, Herr Graf, eines gewissen Kuno von Trüben, der einst einen Mann im Walde erschlug und beraubte und nachher die Flucht ergriff –, kennen Sie den Mann, der die Ihnen gebührende Strafe die langen Jahre im Zuchthause verbüßte?«
Der Notar hatte seine kurze Rede vollkommen ruhig und kaltblütig begonnen, aber mit dem frechen Verbrecher vor sich, der wohl todtenbleich, jedoch kalt und verächtlich lächelnd dort stand und auf ihn herabsah, stieg ihm auch zuletzt die Galle in's Blut. Bei den letzten Worten hatte sich seine Stimme in die höchsten Töne hinein verstiegen. Er war außer sich gerathen, riß die Thür auf und zerrte den jungen Karl Handorf bei einem Arm heraus.
»Hol' mich der Teufel, wieder eine Ueberraschung!« brummte Schaller halblaut vor sich hin, erkannte aber auch in dem nämlichen Moment denselben bleichen Menschen, der ihm und Rauten damals auf der Promenade begegnet war, und hob sich jetzt selber Überrascht empor. Was war da nun wieder im Wind?
Karl trat in das Comptoir; er hielt den Blick nur allein auf Rauten geheftet, er sah in der That gar keinen andern Menschen, und langsam auf ihn zuschreitend, blieb er endlich vor ihm stehen und hielt ihm den Stock entgegen.
Rauten hatte ihn verwundert betrachtet. Er erkannte ihn natürlich nicht wieder. Was sollte das jetzt sein? Aber der Name Kuno von Tröben, mit dem ihn der Notar angeredet, zuckte ihm durch's Hirn. War denn die ganze Hölle gegen ihn losgelassen?
Der junge bleiche Mann sah ihm starr in's Gesicht.
»Kennst Du diesen Stock, Mörder?« sagte er mit leiser Stimme; aber trotzdem klangen die Worte wie die Posaune des Weltgerichts in Rauten's Ohren. Bis jetzt hatte er so viel Macht über sich behalten, um wenigstens ruhig zu scheinen, aber diese Hand über Hand geführten Schläge trafen ihn doch zuletzt in's Herz.
»Fort!« schrie er. »Was wollt Ihr von mir? Was weiß ich von dem alten Juden?« (Keine Lippe hatte den Ermordeten genannt.) »Ha, Ihr glaubt, Ihr habt Gewalt über mich! Dem den Tod, der mir in den Weg tritt!« Und ein verborgenes Messer unter der Weste vorreißend, warf er sich gegen die Thür, von der Hans aber schon zurückgetreten war, um die Wirkung zu beobachten, die das Erscheinen des jungen Mannes auf Rauten machen würde. Ehe er zurückspringen und die Thür halten konnte, hatte sie Rauten aufgerissen und sich hindurch geworfen. Aber er kam nicht weit. Mux war dem ihm gegebenen Auftrage vollständig nachgekommen und die von ihm requirirte Polizeiwache auch eben so pünktlich um ein Uhr, und zwar mit dem Schlage, auf der Treppe des Notars eingetroffen, an der sie sich oben mit dem strengen Befehl, Niemand weder aus, noch einzulassen, ehe sie die specielle Weisung vom Notar Püster selber erhielten, postirten.
Rauten wollte die Treppe hinab, als er die vier kräftigen Burschen dort auf ihrem Posten entdeckte und jetzt recht gut wußte, daß er selbst mit seinem Messer nicht durchdringen konnte, denn sie versperrten vollständig den engen Raum. Ohne sich aber auch nur einen Moment zu besinnen, stieß er die nächste Thür auf – es war die Küche, und sprang hinein.
»Jesus, Maria und Joseph!« rief die alte Magd, als sie den todtbleichen Mann mit dem langen Messer in der Hand hereinstürmen sah.
Sie selber aber hatte nichts von ihm zu fürchten, denn Rauten bemerkte sie kaum. Fort! war sein einziger Gedanke. Was er alles noch verbrochen und dafür jetzt Entdeckung fürchtete, wer konnte es sagen? Aber schon das, was er da drin gehört, verrieth ihm deutlich genug, er sei entdeckt, seine Larve gefallen und seine Rolle hier in Rhodenburg ausgespielt. So gab es denn jetzt für ihn nur eine Rettung, und die war, so rasch als irgend möglich seine eigene Wohnung zu erreichen. Gewann er dort die kleine Tasche, die seine wichtigsten Papiere enthielt, und dann den dicht bei Rhodenburg beginnenden Wald, so war er gerettet, und so – die Zähne zusammengebissen – sah er sich nach einem Ausweg zur Flucht um.
Aber die Küche war abgeschlossen, nur ein einziges, jetzt offen stehendes Fenster führte auf den niederen Hof hinaus. Blieb ihm eine Wahl? Ehe die Verfolger nur ahnen konnten, welchen Weg zur Flucht er gewählt, war er unten und im Freien. Mit einem Satze sprang er auf den Küchentisch – die ganze Etage mochte kaum achtzehn Fuß hoch sein. Im nächsten Moment saß er auf der Brüstung, um seinen Körper so niedrig als möglich zu bringen, und das Messer voranwerfend, ließ er sich niedergleiten, als aber auch gleich darauf ein gellender Schrei vom Hofe aus gehört wurde.
Ihm nach stürmte die Polizei.
»Aus dem Fenster ist er,« schrie die alte Magd, »gerade hinunter gesprungen!«
Zwei der jüngsten Beamten preßten zurück und stürzten mehr die Treppe hinab, als daß sie sprangen. Aber keine Spur mehr von dem Verbrecher! Einer flog nach der Hausthür; sie war von innen verschlossen, also dort hinaus konnte er noch nicht sein. Ein Anderer warf den Blick in den Hof, dort lag das Messer, aber von dem Flüchtlinge keine Spur.
»Oh Du mein Heiland!« schrie die alte Köchin von oben herab, die an das Fenster geeilt war, um sich die Stelle zu betrachten, an welcher der tollkühne Mensch niedergesprungen. »Da hängt er! – Da hängt er!«
Rasch hatten sich die Polizeidiener im Hof gesammelt, denn der ihnen als Verbrecher bezeichnete Flüchtige konnte ihnen jetzt nicht mehr entgehen, und Hans, der ebenfalls dem Fliehenden nachgeeilt war, trat jetzt an die Seite der alten Magd.
»Hülfe!« stöhnte Rauten, »nehmt mich ab, ich halte es nicht mehr aus! Hülfe! Hülfe!«
»Zum Teufel auch,« rief Hans verwundert, »der klebt ja hier an der kahlen Wand! Was ist das?«
»Oh Du meine himmlische Güte!« schrie die alte Magd, »er ist an dem großen Fleischhaken hängen geblieben!«
»Hülfe! Hülfe!« schrie jetzt Rauten gellend auf. Er hatte den Versuch gemacht, sich selber empor zu richten, und ein furchtbarer Schmerz zuckte ihm durch die Glieder.
»Ist keine Leiter unten?« schrie Hans hinab, und Püster war jetzt ebenfalls an seine Seite getreten und erkannte die allerdings mißliche Lage des Verfolgten. Er kannte aber die Lokalität genauer und rief aus:
»Eine Leiter hilft uns nichts! Wenn er ordentlich festhängt, ist ein Mann nicht im Stande, ihn von der Leiter aus empor zu heben und frei zu machen!«
»Dann ein Seil her!« schrie Hans. »Ich kann es von hier aus um ihn her winden. – Alle herauf da unten, daß wir zusammen anfassen!«
»Ja, ein Waschseil hätte ich,« sagte die Alte und schleppte es herbei, »aber es ist zu lang.«
Hans riß es ihr aus der Hand, warf es auseinander und griff nun eine Bucht davon an, die er, sich aus dem Fenster so weit als möglich hinausbiegend, um Rauten's Körper zu schlingen suchte. Püster hielt ihn indessen hinten an den Beinen.
Die Polizeidiener waren aber in der Zeit ebenfalls nach oben gekommen, und während sich Hans jetzt auf den Sims, das eine Bein nach außen, setzte, um dadurch des Seiles mit anfassen
»Wenn wir einen Flaschenzug hier hätten,« rief Hans, »so könnte ihn ein Kind in die Höhe heben, jetzt aber wiegt er so schwer wie Blei – er muß ohnmächtig geworden sein!«
Der Körper hing allerdings in diesem Augenblick schlaff nieder, aber das Seil hatte auch gefaßt. Wenn auch langsam, so hoben ihn die fünf kräftigen Männer doch wenigstens sicher und Ruck bei Ruck empor. Hans konnte jetzt mit der rechten Hand einen guten Griff an seinem Rockkragen bekommen, und wenige Minuten später hatten sie den leblosen Körper auf dem Steinboden der Küche liegen.
»Und wohin jetzt mit ihm?« sagte Hans. »Am besten liefe einer der Herren nach einem Wundarzt, denn er scheint stark zu bluten.«
»Lieber nach einer Tragbahre,« sagte ein Anderer; »die stehen da gleich an der Marktecke, und dann schaffen wir ihn ohne Weiteres in's Spital; dort kann er nicht fort und hat die beste Pflege.«
»Gut denn!« rief Hans. »Aber rasch – ich will indeß, so gut es geht, nach seiner Wunde sehen.«
Er warf seinen Rock ab, und Rauten's Kleider öffnend, kam er bald zu der schon durch das Blut angezeigten Stelle. Es war eine häßliche Wunde, aber der Haken, der sie verursacht, auch wohl sieben Zoll lang und stark genug, das dreifache Gewicht zu halten. Was aber konnte er hier thun, als nur höchstens einen nothdürftigen Verband mit seinem Taschentuch umlegen. Aber es dauerte nicht lange, so kehrten die Männer mit der Bahre und zwei Trägem zurück. Zufällig hatten sie auch gleich einen Militärarzt auf der Straße getroffen, der sich erbot, den Verwundeten in das Spital zu geleiten. Er untersuchte die Wunde allerdings erst selber und betrachtete dann kopfschüttelnd den Haken; aber hier ließ sich jetzt doch nichts mit ihm machen, das Spital war außerdem nur eine kurze Strecke entfernt, und der Zug setzte sich gleich darauf und ohne Weiteres in Bewegung.
»Was zum Henker ist denn da los,« fragte der Arzt unterwegs den einen Polizeidiener, »daß sie den Grafen Rauten in das Spital und nicht zu seinen Schwiegereltern schaffen? Und wie überhaupt ist er da hinaus auf den Haken gekommen?«
Der Doctor hatte sich an den Unrechten gewandt. Der Mann wußte, daß der Herr Assessor und der Herr Actuar nie über Gerichtsfälle mit Leuten sprachen, die außer dem Gericht standen, zuckte deshalb nur die Achseln und sagte: »Bedauere, darüber keine Wissenschaft zu besitzen, Herr Doctor. Bin nur beordert worden, Jemand in Empfang zu nehmen. Herr Doctor können aber das Nähere jedenfalls bei Herrn Notar Püster erfahren.«
Der Doctor biß sich auf die Lippe, versuchte aber keine weitere Frage und bald waren sie an Ort und Stelle angelangt. –
In dem Comptoir des Notars saß indessen der alte Baron von Solberg wie ineinander gebrochen noch immer auf seinem Stuhle und rührte und regte sich nicht bei all' dem ihn umgebenden Wirrwarr. Er hatte auch stets nur staunend zugehört, wie sich Anklage auf Anklage gegen den Schuldigen häufte – und daß er schuldig sei? Nicht mit einer Faser seines Herzens zweifelte er mehr daran, denn zu deutlich prägte sich das in seinen Zügen aus. Und Fränzchen, das arme Fränzchen! Aber war es nicht ein Glück vom lieben Gott, daß sie noch – man konnte sagen: im letzten Augenblicke – der furchtbaren Gefahr entgangen, in die Gewalt dieses gewissenlosen Menschen zu fallen?
Mux beschäftigte sich inzwischen vollständig mit der jungen Amerikanerin, die er in jeder Hinsicht zu beruhigen suchte, aber auch bat, jetzt so rasch als möglich in ihr Hotel zurückzukehren. Er versprach ihr dabei, noch heut Abend genauere Nachricht zu bringen, was man in dem Besitze ihres früheren Gatten gefunden, damit sie ihre Ansprüche darauf geltend machen könnte. Es sollte ihr ja auch indessen hier an nichts fehlen und sie möge ihre Zeit dort drüben, indeß Leute, die es gut mit ihr meinten, thätig waren, ruhig abwarten.
Sie ließ sich endlich von Mux nach Hause geleiten; der wilde Lärm umher, das Heraus- und Hereinstürzen von Menschen, deren Sprache sie nicht einmal verstand, machte sie ängstlich, und es gelang auch dem kleinen Manne, sie aus dem Hause zu bringen, ehe man den Verwundeten nach vorn schaffen konnte.
Schaller hatte übrigens sehr glücklich den Moment benutzt, als alles in die Küche sprang und sich natürlich nicht um ihn kümmerte. Mit ein paar langen Schritten war er an der Treppe und hinab, schloß, als die Polizeidiener gerade nach dem Hofe stürmten, die Hausthür auf und kreuzte über die Straße nach seinem eigenen Hause hinüber.
Als Hans das Zimmer wieder betrat und seinen Vater so still vor sich hinbrütend dasitzen sah, eilte er erschreckt auf ihn zu. »Vater, lieber, bester Vater,« rief er, seinen Arm um ihn schlagend, »gräme Dich doch nicht so sehr – wir haben ja unser Fränzchen noch, und das Unglück ist von ihr abgewandt!«
»Ja,« sagte der alte Herr, »und Gott sei dafür recht aus vollem Herzen gedankt! Aber fürchte nicht, Hans, daß mich diese Scene so tief erschüttert haben sollte. Erschüttert? Ja – das vielleicht, aber dem Bau ist damit kein Schaden geschehen, und wir können allen Menschen frei in's Auge sehen.«
»Das können wir, gewiß, Papa!«
»Aber sage mir doch Eins, mein Sohn,« fragte der alte Mann und sah seinem Sohne dabei sorgenvoll und fast beängstigend in's Auge – »beantworte mir die Frage – aber wahr.«
»Gewiß, mein Vater – wahr und offen, wie Du mich stets gefunden.«
»Nun, gut, dann sage mir: ist dieser Schurke – die deutsche Sprache hat eigentlich gar keinen Namen für einen derartigen Verbrecher und das ärgste Schimpfwort für ihn klingt wie eine gemeine Schmeichelei – ist dieser Rauten, oder wie er sonst heißt, wirklich von Adel?«
Ein frohes Lächeln flog über des jungen Mannes Züge, denn er hatte wirklich schon gefürchtet, daß sein Vater von dem Unglück, das sein Haus doch immer durch diesen Buben betroffen, am Ende gar tiefsinnig geworden wäre. Die jetzige Frage zeigte ihm aber deutlich genug, daß er nichts Derartiges zu fürchten brauche. Der alte Herr schwamm noch gesund und wohl in seinen alten Vorurtheilen herum, und so lange er das that, war weder sein Herz noch sein Geist zu tief von diesem Schlag erschüttert worden.
»Ja, Vater,« sagte er deshalb erleichtert, »ein Graf ist er allerdings nicht, mit dem Titel hat er sich allein belehnt, aber ein Baron ist er doch, und, wie es scheint, ein Baron von Tröben, wenn mir die Familie auch nicht weiter bekannt ist.«
»Es ist schrecklich,« sagte der alte Baron, »es ist wirklich schrecklich – seine armen Eltern, wenn sie das Unglück erfahren!«
»Aber, lieber Papa, glaubst Du nicht, daß es bürgerliche Eltern wenigstens eben so tief empfunden hätten?«
»Nein, mein Sohn,« sagte der alte Kammerherr, indem er bedeutend mit dem Kopfe schüttelte. »Bürgerliche haben nur ihren eigenen Namen, ihr eigenes Selbst zu vertreten, aber in unseren Kreisen geht so etwas gleich bis auf den ersten Ahn zurück – und das ist entsetzlich!«
»Aber, Vater,« sagte Hans leise, »möchten wir jetzt nicht nach Hause gehen, um Fränzchen wie die Mutter vorzubereiten, ehe uns vielleicht müßige Zungen zuvorkommen und das nachher mit weniger Schonung thun?«
»Ja,« sagte der Baron, »Du hast Recht, das ist nöthig; aber meine Nerven sind heute schon zu sehr angegriffen – geh Du lieber voraus und brich erst die Bahn. Und was ich Dich fragen wollte; haben sie den Verbrecher noch erwischt?«
»Ja, Papa,« sagte Hans; »er hat sich aber bei einem Sprunge aus dem Fenster arg verletzt und ist jetzt unter polizeilicher Aufsicht in das Spital geschafft worden.«
»Graf Rauten?« rief der Baron erschreckt.
»Herr Kuno von Tröben,« sagte Hans kalt.
»Und Herr von Schaller?«
»Ich weiß nicht, wo er hingekommen ist,« lachte Hans; – »siehst Du, lieber Papa, das ist auch ein Baron!«
»Seine arme Familie!« erwiderte der alte Herr, und Hans gab es selber einen Stich durch's Herz, als er an Kathinka dachte.
»Und das Fest heut Abend,« fuhr der alte Herr fort – »die vielen geladenen Gäste …«
»Sie sind ja alle abbestellt.«
»Und das Gerede in der Stadt …«
»Wird sich weniger um uns als den Verbrecher drehen.«
»Und die Vorbereitungen, die in unserem Hause getroffen sind …«
»Wenn Du klug bist, Papa, so lädst Du auf Morgen die ganze Gesellschaft zur Feier der glücklichen Rettung Deiner Tochter ein. Dann verwenden wir einmal alles, was Du dafür angeschafft – denn bis morgen hält es sich jedenfalls –, und Du machst dem Gerede in der Stadt auf einmal ein Ende, indem Du der ganzen Sache die Spitze abbrichst.«
»Du könntest Recht haben, mein Sohn,« sagte Baron Solberg nach kurzem Nachdenken. »Sprich mit Deiner Mutter darüber, aber nicht gleich, wenn Du nach Hause kommst; Du mußt ihr erst ein wenig Zeit gönnen, sich zu sammeln und die Sache selber zu überlegen. Sie wird dann schon das Richtige treffen.«
»Und nun, Vater,« rief Hans, als Mux gerade wieder in die Thür trat und sich dann scheu in seine Ecke zurückzog, »ist es vor allen Dingen an uns, dem Herrn Notar hier recht aus vollem Herzen für die Hülfe zu danken, die er uns geleistet hat, denn ohne ihn hätte morgen jener Bube unser armes Fränzchen in die Welt hinausgeführt, und Schmach und Elend wäre dann über unser Haus gekommen.«
Püster hatte indessen Karl Handorf nach Hause geschickt, der absolut den Stock mitnehmen wollte, ihn aber dalassen mußte, und dann eine Weile an seinem Pult gestanden und sich innerlich darüber amüsirt, welche Wendung der Schmerz des alten Herrn genommen. – Jetzt sagte er freundlich: »Mein lieber Herr von Solberg, ich habe eigentlich nicht mehr als meine Pflicht gethan, und zwar von verschiedenen Clienten dazu gedrängt.«
»Aber die Pflicht in einer wackern Weise,« rief Hans, indem er auf ihn zusprang und ihm kräftig die Hand schüttelte, »und das ist immer dankenswerth! – Und auch hier Ihr kleiner Herr Mux hat sich brav benommen und uns viele Hülfe geleistet; ich weiß wirklich nicht, wie wir das alles gut machen sollen!«
Er reichte dabei dem kleinen Manne die Hand, und der alte Baron ging jetzt ebenfalls auf Püster zu.
»Herr Notar, wir sind Ihnen zu großem Danke verpflichtet, und vorläufig nehmen Sie nur dafür meinen Handschlag.« Er sah sich dabei nach Hans um, der noch Mux' Hand in der seinen hielt. Er wußte allerdings von der ganzen Sache nichts, als was er hier gesehen; aber es mußte doch wohl nöthig sein, wenn es sein Sohn that, und auch gegen Mux streckte er deshalb die Hand aus, die dieser, mit einem Angstblick auf den Notar, nur schüchtern nahm, worauf er augenblicklich das Zimmer verließ.
»Und was wird jetzt mit Rauten?« fragte Hans.
Der Notar zuckte mit den Achseln. »Wir müssen erst sehen, was es mit seiner Wunde für eine Bedeutung hat und was die Polizei unter seinem Gepäck findet. Jedenfalls sollen Sie über den Stand der Sache fortwährend genau unterrichtet bleiben.«
»Dann komm, Hans,« sagte der Baron, und des Sohnes Arm ergreifend, verließ er mit diesem das Haus.