Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

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Felipe

Der kleine Trupp von Insulanern wuchs allmählich so an, daß er Aufsehen in den Straßen zu erregen begann, und Monsieur Lacoste beschloß, die bis jetzt befreiten Leute lieber erst nach seiner Wohnung zu führen und dann erst die übrigen herbeizuholen.

Da sie sich aber jetzt nicht mehr weit von dem Marktplatz befanden, hielt er es für gut, erst einmal zu dem Haus zu gehen, wo der Insulaner den Italiener Felipe gesehen hatte. Es lag Monsieur Lacoste daran, sich des Burschen zu bemächtigen, da die französische Regierung in Tahiti dann an ihm ein Beispiel statuieren und den Eingeborenen beweisen konnte, daß sie nicht allein mit Versicherungen, nein, auch mit der Tat ihr Wohl fördern und ihre Untertanen schützen wolle.

Der eine Insulaner aus der italienischen Restauration wurde deshalb angewiesen, sie zu dem Haus zu führen, wo er den Burschen neulich getroffen hatte. So gut sich aber der Insulaner wahrscheinlich daheim in seinen Bergen zurechtfinden mochte, so gänzlich verloren fühlte er sich in diesen Straßen, die, in regelmäßige Winkel abgeteilt, für ihn kein Unterscheidungszeichen hatten, und Rafael merkte bald, daß er vollkommen seine Richtung verlor und zuletzt gar nicht mehr wußte, wo er war.

Rafael bog daher selber nach dem Marktgebäude ein, wo sich der Insulaner aber auch erst besinnen mußte, weil es an allen vier Ecken gleich aussah und er sonst immer von einer dieser entgegengesetzten Richtung hierhergekommen war. Endlich aber hatte er sich soweit orientiert, daß er die Straße wiederfand, durch die sie gewöhnlich gingen. Er kannte sie an einem hellgrünen Schild mit brennend roten Buchstaben, das ihm besonders aufgefallen war, weil er behauptete, die roten Zeichen an der grünen Fläche flackerten in einem fort, als ob es lauter Feuer wäre. Jetzt wurde es ihm auch nicht schwer, das Haus zu bezeichnen, an dem er den Italiener zuletzt gesehen. Rote, kurze Gardinen hingen an den Fenstern, es war mit einem Wort eines jener Häuser, die, natürlich von Chinesen gehalten, alle Laster und alles Gesindel in sich vereinigten. Überhaupt gab es in der Nähe des Marktes eine Unmasse von Chinesen, und wo irgendeine schmutzige, höhlenähnliche Wohnung den Vorbeigehenden angähnte, da konnte er auch sicher sein, die gelben, nichtssagenden, platten Gesichter dieser Söhne des himmlischen Reiches mit irgendeiner schmutzigen Arbeit beschäftigt zu finden.

Auch dieses Haus sah so entsetzlich aus, und ein so ungesunder Geruch wehte von dort heraus, daß sich der feine und etwas verzärtelte Franzose wirklich nicht gleich dazu entschließen konnte, den Platz zu betreten. Endlich raffte er sich auf: »Bitte, sagen Sie unseren insulanischen Freunden, daß sie hier draußen einen Augenblick warten. Sie kennen den Burschen wieder, wenn Sie ihn sehen, nicht wahr?«

»Sicher genug«, erwiderte Rafael.

»Gut, dann brauchen wir auch die ganze gelbbraune Gesellschaft nicht mit hineinzuschleppen. Ich gestehe Ihnen überhaupt, daß ich es nur tue, um mir nachher selber keine Vorwürfe zu machen. Ich will alles versuchen, um meine Pflicht zu erfüllen, aber La belle France kann nicht von mir verlangen, daß ich in alle Spelunken Limas krieche, um einem flüchtigen Verbrecher nachzuspüren.«

Ein paar Worte für die Insulaner genügten, und Rafael überschritt mit Lacoste eine Schwelle, die seit Jahren kein anständiger und ehrlicher Mann betreten hatte.

In dem geräumigen Saal, den sie jetzt betraten, standen zwei große mit einst rot gewesenem Plüsch überzogene Sofas, zwischen denen ein arg beschädigter Spiegel hing; ein paar zersessene Lehnstühle standen in den Ecken, ein Kronleuchter mit fünf zerbrochenen und drei ganzen Armen hing an der Decke, und vor den Fenstern prangten seit Monaten nicht gewaschene, aber doch gestickte Gardinen. Vor den beiden Sofas standen auch Mahagonitische. Aber die Prachtmöbel hatten nicht ausgereicht, dem jetzt von einem anderen Publikum besuchten Raum zu genügen, und da die Geldmittel des Eigentümers wahrscheinlich nicht hinreichten, das Fehlende so zu ergänzen, daß es zu dem Vorhandenen paßte, so waren einfache Tannentische und Bänke hinzugefügt worden, die jetzt den übrigen Raum ausfüllten und abends, wenn das Leben in diesen Räumen eigentlich begann, auch wohl besetzt sein mochten.

Jetzt, gegen Mittag und in der heißen Tageszeit, war das Haus verhältnismäßig leer; nur an dem ersten Holztisch saßen drei peruanische Matrosen um eine Flasche Wein, und auf einer der Holzbänke –

»Bei Gott, das ist er!« flüsterte Rafael leise, indem er den Arm seines Begleiters faßte und drückte. »Der Bursche dort drüben mit dem Strohhut neben sich auf dem Tisch.«

»Sind Sie Ihrer Sache sicher?«

»Ich habe ihn nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, aber meinen Kopf möchte ich verpfänden, daß ich mich in der Galgenphysiognomie nicht irre.«

»Er hat allerdings ein Gesicht, das man nicht so leicht wieder vergessen kann. Also, allons, Monsieur, ich glaube nicht, daß der Bursche Widerstand leisten wird.«

Felipe, denn er war es in der Tat, hatte indessen, wie er so faul auf der Bank ausgestreckt lag, nicht allein das Eintreten der beiden Fremden, sondern auch bald bemerkt, daß ihre Blicke auf ihm hafteten. Was konnten die von ihm wollen? Verschiedenen Wirten in der Stadt war er allerdings kleinere Summen schuldig, aber damit konnten die beiden Caballeros doch nichts zu tun haben – und was dann? Es war aber jedenfalls mehr, was der Bursche in seinem Leben verschuldet hatte – an den Verrat der Insulaner dachte er in diesem Augenblick nicht einmal –, und manche der alten Sünden mochten ihm plötzlich einfallen, denn nichts hat einen leiseren Schlaf, als ein böses Gewissen.

Jetzt kam der chinesische Wirt schmunzelnd und mit gebogenem Rücken näher, um zu fragen, ob die Caballeros hier zu speisen beliebten, oder ob sie sonst irgendwelche Befehle hätten.

Lacoste schritt indessen, ohne den schmutzigen, ekelhaften Burschen auch nur eines Blickes zu würdigen, an ihm vorüber und gerade auf den Italiener zu, der sich halb bestürzt, halb erstaunt auf seinem Ellbogen emporrichtete und den kleinen, sehr behäbig aussehenden Franzosen anstarrte.

»Señor«, sagte dieser, ohne eine weitere Vorrede für nötig zu halten, »ist Ihr Name Felipe?«

»Und wenn er's wäre«, brummte der Bursche mürrisch, »wen geht's etwas an, wenn nicht vielleicht einen reichen Onkel, der mir hunderttausend Dollars hinterlassen hätte?«

»Aha«, sagte Monsieur Lacoste, während Rafael an seine Seite trat und die drei Matrosen am Nachbartisch aufmerksam wurden, »dann sind Sie auch vielleicht der junge Herr, der mit dem peruanischen Schiff, einer Brigg glaub' ich, oder einer Barke, ich habe es in diesem Augenblick wirklich vergessen, von einer der Südsee-Inseln mit einer Ladung Kulis herüberkam?«

»Und wer sind Sie?« fragte Felipe, dem es nicht gefiel, daß ihm Rafael gerade den einzigen Weg verstellte, auf dem er bequem zur Tür konnte, wenn er auch noch keine Ahnung hatte, was die beiden Fremden von ihm wollten. »Um eine gegenseitige Bekanntschaft zu machen, muß man doch auch gegenseitig seine Namen wissen.«

»Ganz in der Ordnung«, erwiderte Monsieur Lacoste mit einer Artigkeit, die ihm zur anderen Natur geworden war. »Mein Name ist Louis Lacoste, Chargé d'Affaires Seiner Majestät des Kaisers der Franzosen, und in diesem Augenblick von der peruanischen Regierung bevollmächtigt, mich Ihrer Person zu bemächtigen, um sich gegen eine Anklage auf Menschenraub zu verteidigen.«

Die Unterhaltung zwischen den beiden, die bis jetzt mit gerade nicht unterdrückter Stimme, aber doch auch nicht laut genug geführt war, daß die in der anderen Ecke sitzenden Matrosen sie verstehen konnten, hatte bis zu diesem Punkte nicht das geringste Feindselige gezeigt. Felipe seinerseits wußte aber recht gut die Schwere der Anklage zu würdigen, die gegen ihn erhoben werden konnte, wenn er wirklich den Franzosen ausgeliefert wurde. Er übersah mit einem Blick die Gefahr, in der er sich befand, und nur eins störte ihn noch dabei, daß zwei Fremde – Caballeros allem Anscheine nach – übernommen haben sollten, ihn in einer solchen Spelunke aufzuspüren und zu verhaften, ohne Polizei dabei zu haben.

Kamen sie wirklich allein, oder standen die Häscher vor der Tür, um ihn in Empfang zu nehmen? Aber der Chinese war draußen gewesen, und kam in diesem Augenblick wieder mit dem unbefangensten Gesicht der Welt ins Zimmer. Wäre sein Haus besetzt gewesen, Felipe hätte es ihm im Nu angesehen. Die Luft draußen war rein, und daß ihn die beiden nicht halten sollten, davon war er überzeugt.

»Señor Lacoste«, sagte Felipe in diesem Augenblick mit absichtlich lauter Stimme, damit ihn die Matrosen am anderen Tisch hören sollten, »manche Leute ziehen es vor, auf See herumzuschwimmen, andere lieben wieder das feste Land. Ich meinesteils bin zu lange an Bord gewesen, um mich nach einem von Seiner Majestät Schiffen besonders zu sehnen, und ich bedaure sehr, von Ihrer Begleitung keinen Gebrauch machen zu können.«

Noch während er sprach, hatte er das eine Bein auf die Bank heraufgezogen.

»Wahren Sie die Tür, Señor!« rief der Franzose, der im Nu begriff, was der Bursche wollte. Felipe ließ ihn auch nicht lange darüber in Zweifel.

»Kameraden, zu Hilfe!« rief er den Matrosen zu, »sie wollen einen armen Teufel wieder auf ein Schiff pressen!« und mit den Worten flog er mit einem verzweifelten Satz über den nächsten Tisch weg. Gerade, als ihm aber Lacoste in den Weg springen wollte, während Rafael eine Stellung einnahm, daß der Flüchtige nicht die Tür passieren konnte, ohne ihm in die Arme zu laufen, sprangen die Matrosen dazwischen.

»Hallo, Señor«, rief der eine, »haben Sie einen Haftbefehl bei sich, daß Sie hier einen freien weißen Mann von seinem Glase Wein wegholen wollen?«

»Zurück!« schrie Monsieur Lacoste außer sich, »es ist ein Verbrecher! Im Namen des Präsidenten, zurück!«

»Bitte, langen Sie zu!« riefen die anderen lachend, indem sie den nächsten Tisch und die Stühle übereinander und gerade in des kleinen Mannes Weg schleuderten.

Rafael warf sich mit einem Schwung über den nächsten Tisch hinweg, um die Bank zu erreichen, die an den Fenstern hinlief, aber er kam trotzdem zu spät. Der Italiener hatte einen nur angelehnten Fensterflügel weit aufgerissen, und ehe Rafael diesen beiseite werfen und ihn fassen konnte, war Felipe draußen auf der Straße.

»Caballeros!« schrie der verzweifelte Chinese, als der ausgehobene Fensterflügel zurück auf den Tisch schlug und in Scherben splitterte – was kümmerte das Rafael! Mit einem ebenso kecken Satz folgte er dem Flüchtling – aber ein anderer hatte schon dessen Verfolgung aufgenommen.

Gleichgültig standen die Insulaner draußen vor dem Hause, von den Vorübergehenden angestarrt und wieder ihrerseits die wunderlichen Menschen musternd, die hier in eine Wüste, ohne Baum, ohne Schatten, ihre Hütten gebaut hatten und jetzt so eilig hin und wieder liefen, als ob ein Krieg ausgebrochen oder sonst ein ganz entsetzliches Unglück geschehen wäre.

Da wurde das Fenster aufgerissen – eine Gestalt sprang heraus, und der Insulaner, der selber gar nicht daran gedacht hatte, daß der Italiener, den er gestern nur flüchtig an dem Hause gesehen, noch da drinnen stecken könnte, rief laut und überrascht aus: »Felipe!«

Eimuto, ein Insulaner, dessen beiden Brüder bei dem Kampf auf dem Schiff erschossen worden waren, hatte düster und schweigend an dem Türpfosten des Hauses gelehnt und vor sich niedergestarrt, ohne auch nur einen der Vorübergehenden eines Blickes zu würdigen; aber das Wort genügte, ihn mit Blitzesschnelle aus seinen Träumen aufzuschrecken.

»Felipe!« wiederholte er fast unwillkürlich und wie erstaunt den Namen. Wie einer Erscheinung schaute er dem Flüchtigen nach, als ihm Rafaels in ihrer Sprache gerufenes Wort: »Haltet ihn!« seine Besinnung wiedergab.

»Haltet ihn!« – War das nicht der Feind, der den nichtswürdigen Verrat begangen, den sie auf ihrer Insel wie einen Bruder aufgenommen hatten und der ihm dafür seine beiden Brüder mordete? – »Haltet ihn!« murmelte er leise und wie ein Pfeil vom Bogen schnellte er hinter dem Flüchtigen drein.

Felipe hatte sich indes dem Marktplatz zugewandt, denn in dem Gewühl von Menschen dort war eine Verfolgung schwer, und dann konnte er auch am leichtesten dazwischen verschwinden. Rafael selber würde auch schwerlich je imstande gewesen sein, ihn dort zu überholen, hätte es wirklich in seiner Absicht gelegen, einen Straßenwettlauf zu beginnen. Anders war es freilich mit dem Insulaner, der, einmal im Sprung, auch kein Hindernis mehr kannte und, den Blick nur auf den Fliehenden geheftet, seine Füße kaum den Boden berühren fühlte. Er sah auch sonst nicht, wohin er stürmte – gerade an der Ecke des Marktplatzes traf er mit einem kleinen Chinesen zusammen, der einen Korb mit eingekauften Gegenständen, Fleisch, Gemüse und Eiern, am Arm trug, und den er wie einen Sack zu Boden warf. Der arme Teufel schrie Zeter, aber über ihn hinweg flog der Insulaner.

Dicht vor dem Marktgebäude, in dessen Torweg der Italiener gerade in diesem Augenblick schlüpfte, standen drei Negerweiber im Gefühl ihrer unantastbaren Würde, sich nach ihrer Art laut, fast schreiend miteinander unterhaltend – gegen sie an flog Eimuto, mit der einen Hand wie mit einem Keile die Weiber auseinandertreibend.

»Jesus!« schrie die dicke Schwarze, während sie von der Wucht des dagegen Prallenden zu Boden stürzte. Wie ein Schatten flog der Insulaner über sie hin, um in der nächsten Sekunde in dem Marktgebäude zu verschwinden.

Felipe indessen, der bei seiner Flucht den Kopf gar nicht zurückgewandt und überall nur kleine Lücken zwischen den Menschengruppen benutzt hatte, um rasch hindurch zu fahren, hielt sich jetzt für weit genug von seinen Feinden entfernt, um wenigstens seinen Lauf einzustellen. Er blieb stehen, schöpfte tief Atem, und sah sich dann fast unwillkürlich um, ob ihm niemand folge, als er unmittelbar neben sich die Gestalt des auf ihn einspringenden Insulaners entdeckte. In letzter Verzweiflung riß er sein Messer aus dem Gürtel, um seinen Feind von sich abzuhalten.

Umsonst! In dem Augenblick, als er den Stahl hob, hatte Eimuto mit einer Hand seine Kehle, mit der andern das Gelenk seiner rechten Hand gepackt, und als beide bei diesem plötzlichen Griff zu Boden stürzten, warf sich der Wilde wie ein Raubtier über sein Opfer.

Der Italiener wollte einen Schrei um Hilfe ausstoßen, aber er konnte es nicht mehr; sein Körper wand und krümmte sich unter der auf ihm liegenden Last. Die gerade Vorbeikommenden blieben erschrocken stehen, bis die Bewegungen des zu Boden Geworfenen aufhörten. Da merkten sie doch wohl, daß es Ernst sei, sprangen zu und suchten den Wilden von seiner Beute loszuheben – aber so leicht ging das nicht. Mit keinen anderen Waffen als seinen Zähnen hatte Eimuto die Gurgel des Italieners gepackt, und wie eine Dogge hing er darin fest. Endlich riß man ihn mit Gewalt empor, zu spät freilich für den, dem man damit Hilfe bringen wollte. – Felipe war tot.

 


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