Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

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Señor Perteña

Rafael Aguila konnte nichts unternehmen, bis jener Herr von Valparaiso zurückgekehrt war, der die von seinem Onkel hinterlassenen Gegenstände in Verwahrung hatte, und erst als das geschehen war und er von Callao Nachricht erhielt, fuhr er hinunter und ließ sich die Sachen aushändigen. Wie er übrigens vorher vermutete, hatte Monsieur Oudinet, wie der jetzige Besitzer hieß, keine Anweisung auf irgendeine Summe Geldes für ihn bekommen, und zwischen den Papieren seines Onkels, die er nur flüchtig durchsah, fand er ebensowenig eine Andeutung.

In einem der alten Rechnungsbücher lag sogar noch ein angefangener Brief für ihn, den der alte Herr kurz vor seinem Tode begonnen haben mußte, der aber nicht beendet worden war, übrigens auch keine Andeutung von einer Krankheit oder selbst nur einem Unwohlsein gab. Er beklagte sich nur darin, daß er so lange nichts von seinem in der Welt umherstreifenden Neffen gehört habe und nicht einmal recht wisse, wohin er diesen Brief adressieren solle.

Die Sachen nahm Rafael mit nach Lima und schickte sie von dort mit Maultieren zu Bertrand hinaus, um sie dann später mit ihm zusammen durchzusehen. Seine eigene Gegenwart wurde aber noch länger in Callao verlangt, da sein Schiff von Guayaquil einlief und der Verkauf der Fracht, der sich übrigens als sehr günstig herausstellte, einige Zeit in Anspruch nahm. Er mußte sogar einige Tage ganz in Callao bleiben.

Nur an den Abenden, an denen Lydia spielte, fuhr er nach Lima hinüber. Sie übte einen eigentümlichen Zauber auf ihn aus, und doch hatte er sie seit jenem Tage, an dem er Desterres dort traf, nicht wieder besucht.

Lydia wohnte übrigens nicht mehr im Hotel. Sie hatte einige Einführungsbriefe von Europa an französische Familien mitgebracht und war von diesen auch freundlich empfangen worden; aber man wurde erst wirklich herzlich gegen sie, als man sie von allen Schichten der Bevölkerung so gefeiert sah, und jetzt ruhte Madame Deringcourt auch nicht länger, bis sie die junge Dame beredete, zu ihr ins Haus zu ziehen.

Lydia suchte allerdings diese freundliche Einladung, deren Beweggründe sie zu durchschauen glaubte, abzulehnen. Madame war aber nicht abzuweisen und wußte so viel dagegen zu sagen, daß eine junge Fremde, wenn auch mit einer Dienerin, doch gewissermaßen allein im Hotel bliebe, daß sie zuletzt nicht mehr ausweichen konnte.

Einmal aufgenommen, wurde sie auch wirklich auf das herzlichste in dem Hause behandelt. Sie blieb dabei, wie das in allen südlichen Ländern Sitte ist, in der ihr angewiesenen Wohnung vollkommen Herrin ihrer selbst, so daß sie nie gestört wurde, wenn sie einen Besuch empfangen wollte oder mußte, denn es läßt sich denken, daß man die gefeierte Sängerin nicht einsam ihre Tage vertrauern ließ. Einer ihrer Verehrer hatte ihr sogar für ihren Aufenthalt in Lima ein paar prachtvolle Reitpferde zur Verfügung gestellt, und kleine Ausflüge in die Gegend wurden mehrmals wöchentlich gemacht.

Und immer noch entzückte sie das Publikum. Der Direktor des Theaters hatte noch nie solche Einnahmen gemacht wie an den Abenden, an denen sie auftrat, und ruhte auch nicht eher, bis sie ihm versprach, noch längere Zeit in Lima zu bleiben. Es war ja doch auch wahrlich nicht der Mühe wert, nur wegen ein paar Vorstellungen eine Reise nach Peru anzutreten.

Endlich hatte Rafael all seine Geschäfte abgeschüttelt und beschloß, noch an dem nämlichen Abend nach der Hacienda hinauszureiten, um ein paar Tage bei seinem alten Freund Bertrand auszuruhen und dort auch das Weitere mit ihm zu besprechen.

Er konnte sich jetzt selber nicht mehr dem Gefühl verschließen, daß bei dem Tode seines Onkels nicht alles so ganz natürlich zugegangen sei. War es aber herauszubekommen, so wollte er weder Zeit noch Kosten scheuen, und hatte gar Desterres die Hand dabei im Spiel gehabt, – Lydia konnte den Menschen nicht lieben, es war ja nicht möglich. Und doch, wie hatte sie sich gefreut, als er kam, wie herzlich ihm zugelächelt; wie glücklich war sie über das reiche Geschenk, das sie aus der Hand eines wildfremden Menschen eigentlich gar nicht annehmen durfte. Und in der kurzen Zeit, in den wenigen Tagen sollte sie ihn wirklich liebgewonnen haben? Es war unglaublich, und doch finde sich jemand einmal in einem Mädchenherzen zurecht, besonders eines solchen Mädchens, wie es diese Französin war.

Tolle Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, als er seinem Pferd den Zügel ließ, daß es in vollem Galopp über die steinige Wüste flog, die Lima begrenzte. An Straßenräuber dachte er gar nicht mehr, war aber trotzdem vollkommen für sie gerüstet und trug jetzt in seinen beiden Halftern ein Paar vortreffliche Revolver, mit denen er sich schon die Bahn freihalten konnte, hätte wirklich jemand gewagt, ihn anzugreifen.

Während er aber seinen Weg verfolgt, wollen wir einen Augenblick zu Señor Desterres hinübergehen, der an diesem Morgen ebenfalls nach seiner Hacienda hinausgeritten war, um seine Zimmer instand zu setzen und mit Blumen zu schmücken, da er am kommenden Tag einen sehr lieben Besuch erwartete. In der Stadt hatte er ebenfalls schon eine Menge Einkäufe gemacht, die aber erst in der Abendkühle herausgeschafft werden sollten.

Er war noch damit beschäftigt, seinem Majordomo verschiedene Aufträge zu geben und zu überwachen, daß die besseren Möbel alle auf gewissen Punkten aufgestellt wurden, als er Pferdegetrappel vor dem Hause hörte und beim Hinausbiegen eben noch sah, wie ein Fremder sein Haus betrat. Das Pferd glaubte er zu kennen, aber ehe er damit ins reine kam, wem es gehören könne, klopfte es schon an seine Tür, und diese öffnete sich, ohne selbst ein erlaubendes »Herein« abzuwarten.

Desterres schaute erstaunt dem Eintretenden entgegen, und sein Blick heiterte sich nicht auf, als er ihn erkannte, und er erwiderte den ihm mehr ungeniert als freundlich gebotenen Gruß, wenn nicht kalt, doch jedenfalls sehr zurückhaltend.

»Nun, Desterres«, lachte der Fremde, ohne sich davon zurückschrecken zu lassen, »willst du heiraten, daß du dieses alte Nest so herausputzest, oder gibst du vielleicht ein Fest? Ich habe noch keine Einladung dazu erhalten!«

»Was führt denn dich zu mir, Perteña?« fragte Desterres, ohne eine der an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. »Ich dächte, wir hätten uns schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen!«

»Siehst du, Amigo«, lachte der andere, »da gibst du gleich den Grund an und beantwortest dir deine sehr richtige Bemerkung selber. Nur die Sehnsucht, dich einmal wieder begrüßen zu können, hat mich hierher getrieben; ich hielt es eben nicht länger mehr aus.«

»Du wirst mich nie glauben machen, daß dein Besuch nicht auch noch einen anderen Grund hätte«, sagte Desterres finster; »ich erinnere dich aber an das, was wir das letztemal, als wir zusammentrafen, ausgemacht haben! Du hast es doch nicht vergessen?«

Felix Perteña lachte.

»Nein, Bruderherz, gewiß nicht, aber du weißt wohl, Umstände bestimmen den Menschen, und da ich eben kein Freund von Umständen bin, so möchte ich dich noch einmal ersuchen, mir fünfhundert Dollars vorzustrecken. Ich muß sie haben!«

»Und wenn du sie von mir nicht bekommst?«

»Weshalb sollen wir die schöne und kostbare Zeit mit ganz unnötigen und unmöglichen Problemen vergeuden!« lächelte Perteña. »Der Fall ist eben unmöglich, denn ich kenne dein gutes Herz.«

»Du könntest dich diesmal doch geirrt haben!«

»Nein«, sagte der junge Mann zuversichtlich, »gewiß nicht. Übrigens, darfst du dich denn über mich beklagen? Habe ich dir die letzten zweihundert Dollars, die du mir geborgt hast, nicht pünktlich zurückgezahlt?«

»Ja, aber die tausend vorher?«

»Bah, die gehörten noch zur alten Abrechnung«, lachte Perteña, »und ich würde mir, weiß Gott, kein Gewissen daraus machen, dich noch tausend mehr zahlen zu lassen! Du weißt aber auch, daß ich, solange es geht, mir selber aus eigenen Kräften helfe und meinen Nebenmenschen nicht gern zur Last falle! Ich habe jetzt Aussichten, und wird etwas daraus, so bin ich geborgen, und du kannst in Frieden schlafen; andernfalls werde ich deine Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen müssen, um nach Bolivia überzusiedeln!«

»Schon die früheren tausend gab ich dir zu dem Zweck, und du bist doch nicht gegangen!«

»Würde es dir denn nicht leid getan haben, dich von mir zu trennen?« spottete Perteña. »Doch Scherz beiseite«, setzte er ernsthaft hinzu, »diese fünfhundert Dollars brauche ich, um mir eben eine Existenz zu gründen. Ich bin dem Präsidenten empfohlen und hoffe, in der nächsten Zeit eine Anstellung zu bekommen. Diese fünfhundert betrachte ich deshalb auch nur als geborgtes Geld, und ich gebe dir mein Wort, daß du sie zurückbekommst.«

Desterres war mit untergeschlagenen Armen und raschen Schritten in seinem Zimmer auf- und abgegangen. Seine Brauen zogen sich zusammen, und er sprach kein Wort. Perteña aber hatte ein Stück Zuckerrohr aufgegriffen, das in der einen Ecke lehnte, und sich damit halb auf den Tisch setzend, zog er sein langes Messer aus dem Gürtel und begann kaltblütig, die äußere, harte Rinde abzustreifen und das Rohr dann in vier Teile zu spalten. Er achtete gar nicht mehr auf seinen »Freund«.

»Du vergißt«, sagte plötzlich Desterres, indem er vor ihm stehenblieb und ihn fest ansah, »daß die Waffe, die du mir entgegenhältst, auch nach deiner Seite eine Spitze hat, und, wenn sie einen trifft, uns beide treffen muß.«

»Vor allen Dingen«, erwiderte Perteña ruhig, indem er ein eingekerbtes Stück Rohr abbrach, in den Mund schob und in den Zwischenpausen auskaute, »muß ich mich dagegen verwahren, daß ich dir überhaupt eine Waffe vorgehalten habe. Ich bat dich nur einfach um ein Darlehen von fünfhundert Dollars, und ich bin überzeugt, daß du es mir nicht verweigern wirst. Wo ist also da die Waffe? Existierte sie aber wirklich«, setzte er leise und fast höhnisch hinzu, »so vermute ich fast, daß die Spitze auf meiner Seite stumpf ist – ich selber habe wenigstens noch keine Gefahr für mich bemerkt.«

»Du versprichst mir wirklich, es zurückzuzahlen?«

»Ich habe es dir schon versprochen.«

»Gut«, sagte Desterres nach einigem Überlegen, »komm heute abend zu mir nach Lima, aber nach neun Uhr, früher triffst du mich nicht in meiner Wohnung an, und morgen bin ich auch nicht daheim.«

»Hast du das Geld nicht vielleicht hier draußen? Es ersparte mir einen langweiligen Ritt, denn ich wollte eigentlich bis morgen hierbleiben.«

»Du kannst dir denken, daß ich nicht so viel Geld auf meiner Hacienda lasse«, sagte Desterres, dem überhaupt gar nichts daran lag, daß Perteña morgen noch hier draußen blieb; »Gelegenheit macht Diebe.«

»Nun gut, Amigo, ich komme. Aber darf man fragen, wen du morgen zum Besuch erwartest?«

»Es ist kein Geheimnis, die fremde Sängerin. Sie will hier draußen eine französische Familie besuchen und wird sich dann auch einmal meine Hacienda ansehen.«

»Hm, so? Die junge Dame gefällt mir übrigens«, sagte Perteña. »Sie versteht ihre Zeit und muß hier in Peru ein schmähliches Geld zusammenschlagen. Ich möchte nur wissen, wieviele Tausende von Dollars sie allein schon in goldenen Broschen und Armbändern, an Diamanten und Schmuck erhalten hat. Es wäre keine schlechte Spekulation, sie zu heiraten. Ich muß einmal versuchen, ihre Bekanntschaft zu machen. Sie wohnt im Hotel, nicht wahr?«

»Nein, Amigo«, sagte Desterres trocken, »sie wohnt nicht im Hotel, sondern in einem Privathaus, und du wirst dir wohl deinen Appetit vergehen lassen müssen.«

»In einem Privathaus – so? Und wo, wenn ich fragen darf?«

»Es tut mir leid, dir die Adresse nicht geben zu können«, erwiderte ausweichend Desterres; »es ist übrigens eine französische Familie und dort im Hause wird nur Französisch gesprochen.«

Perteña lachte still vor sich hin.

»Merkwürdig, daß du das so genau weißt und doch die Adresse nicht kennst! Glaubst du denn wirklich, daß es mir in Lima eine Viertelstunde Zeit nehmen würde, sie zu erfragen, wenn mir wirklich daran läge? Aber ich glaube, Eure Französin ist klug genug, was sie hier an Pinseln erwischen kann, zu rupfen und auszuziehen, und Euch dann hinterher das leere Nachsehen zu lassen!«

»Weißt du auch, wer noch zu den Pinseln gehört, wie du sie zu nennen beliebst?«

»Es wird schwer sein, sie alle zu kennen.«

»Don Rafael Aguila, der totgesagt wurde und von seiner Reise jetzt zurückgekehrt ist!«

»Teufel!« rief Don Felix, aufmerksam werdend.

»War er schon hier draußen auf der Hacienda?«

»Auf der Hacienda selber nicht, aber in der Nachbarschaft, sogar auf einem Besuch bei Mutter Pascua.«

Perteña sprang empor und schaute seinen Gefährten überrascht an.

»Und was wollte er dort?«

»Der Lump, der Pedro, war todkrank vom vielen Trinken und wild und unbändig dabei geworden, so daß die Alte in ihrer Herzensangst zu Bertrand lief und ihn um Hilfe bat. Don Rafael war gerade bei ihm und begleitete ihn . . .«

»Also zufällig?«

»Möglich; die Alte scheint es aber doch beunruhigt zu haben, denn sie kam neulich zu mir herüber, um es mir mitzuteilen.«

»War er schon bei dir?«

»Ja, um den Kaufkontrakt einzusehen.«

»Und was sagte er?«

»Was soll er sagen«, lächelte Desterres verächtlich; »es ist alles in Ordnung, und daß sein Onkel keine Kunde hinterlassen hat, wo er das erhaltene Geld deponierte, ist doch nicht meine Schuld.«

Don Felix hackte wieder eine Weile an seinem Zuckerrohr, aber es waren keine freundlichen Gedanken, die ihm dabei durch den Sinn fuhren, denn seine Stirn hatte sich in düstere Falten gezogen und seine Augen leuchteten ordentlich unheimlich unter den fest zusammengezogenen Brauen vor.

»Seit wann ist er da?« fragte er endlich leise.

»Mit dem letzten Guayaquil-Dampfer ist er gekommen und jetzt, wenn ich nicht irre, in Geschäften in Callao. Er scheint nicht ohne Mittel zurückgekehrt zu sein.«

»Desto besser für ihn«, brummte Don Felix, das unbehagliche Gefühl, das ihn ergriffen zu haben schien, gewaltsam abschüttelnd. »Was schert es uns überhaupt, ob er da ist oder nicht; so lange er unsern Weg nicht kreuzt, können wir ihn ruhig sich seines Lebens freuen lassen. Aber ich sehe, du bist beschäftigt, und will dich deshalb nicht länger stören.«

»Noch eine Frage«, sagte Desterres: »durch wen bist du dem Präsidenten empfohlen worden? Ich hoffe nicht, daß das ein Geheimnis ist?«

»Nein«, lachte Perteña, »durch den Finanzminister.«

»Durch Benares – in der Tat? Und wie bist du mit dem bekannt geworden?«

»Das allerdings könnte ein Geheimnis sein«, lächelte Perteña, »und wäre überhaupt zu langweilig, dir jetzt zu erzählen. Also auf Wiedersehen morgen! Apropos«, sagte er noch einmal, in der Tür stehenbleibend, »ich habe ja da unten im Hofe einige der neu importierten Kulis gesehen. Es waren ein paar allerliebste Mädchen dabei – daß nur deine Señora Francesa nicht eifersüchtig wird, wenn sie die zu sehen bekommt!«

»Ich fürchte, es ist ein schlechtes Geschäft«, sagte Desterres, ohne auf den frivolen Scherz einzugehen; »die Schufte wollen nicht arbeiten, und mein Aufseher klagt, daß er sie nicht einmal mit Prügeln dazu bringen kann.«

»Zwing sie mit Hunger«, lachte Perteña, »das ist die beste Kur. Adios, Compañero!« Und wenige Minuten später trabte der Reiter wieder um das Haus herum und der Straße zu. Als er aber die breite Hauptstraße erreichte, die von hier nach dem Fluß hinüber führte, sah er ein paar Fußgänger den Weg heraufkommen, zwei Herren. Fast unwillkürlich zügelte er sein Pferd ein und hielt im Schatten eines Orangenbaumes, bis sie nahe genug kamen, sie zu erkennen. Es waren Bertrand und der Fremde. Don Felix murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen, wandte dann sein Pferd langsam zurück, bis er einen Seitenweg erreichte, und folgte diesem rasch in einem scharfen Trab.

»Wer ist denn der Reiter da drüben?« fragte Rafael den neben ihm hinschreitenden Bertrand; »vorher schien es, als ob er die Straße herunterkommen wolle, und jetzt dreht er um und reitet zurück.«

»Das ist ein gewisser Felix Perteña«, sagte Bertrand, »ein ziemlich luftiger Patron, Spieler von Beruf und intimer Freund des Señor Desterres – alles keine besonderen Empfehlungen für ihn. Er gönnte uns früher auch zuweilen die Ehre seines Besuches, da ich aber seine Absicht merkte, verbat ich sie mir, und es ist möglich, daß er uns deshalb ausgewichen ist. Das hat er übrigens nicht nötig, denn solange er mich nicht in meinen eigenen vier Pfählen belästigt, ist die Landstraße breit genug für uns beide.«

»Perteña? Perteña? Steht der Name nicht als Zeuge auf dem Kaufkontrakt meines Onkels?«

»Ganz recht. Er hat ihn mit als Zeuge unterschrieben, er und ein gewisser Vidota, den ich aber schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen habe. Möglich, daß er nach Cerro de Pasco zurückgekehrt ist, wo er früher wohnte. Was aber nur bei unserem Nachbar im Werke sein muß – sieh einmal, Rafael, wie er sein Haus ausstaffieren und den Garten kehren und frisch gießen läßt! Wahrscheinlich wieder eins von den Gelagen, die sie hier zuzeiten feiern, obgleich sie da früher mehr auf Essen und Trinken wie auf Putz gesehen haben.«

Während sie noch zusammen sprachen, keuchten ein paar Arbeiter an ihnen vorüber, die vom Flusse her kamen und eine Last von grünen Zweigen auf den Schultern trugen. Rafael, der im Anfang nicht auf sie geachtet hatte, schaute ihnen plötzlich überrascht nach und sagte:

»Merkwürdig, das können doch keine hiesigen Indianer sein; die braunen Burschen sehen genau so aus wie die Insulaner der Südsee.«

»Dorther werden sie auch wohl sein«, meinte Bertrand. »Desterres hat ja neulich von dem eingelaufenen Schiff einen ganzen Transport der armen Teufel mit heraufgebracht.«

»Aus der Südsee – ja, ganz recht, ich habe davon gehört; guter Gott, die armen Menschen! Die hätten sich auch sicherlich nie aus freien Stücken zu solcher Auswanderung verstanden, wenn sie voraus gewußt hätten, was ihnen hier bevorsteht. Das ist aber das rastlose Drängen des Menschen, der nie weiß, wann er wirklich glücklich ist, und immer nur weiter strebt. Daß niemand dort war, der ihnen abraten konnte!«

»Jetzt werden sie merken, was sie sich für eine Suppe eingebrockt haben, und acht Jahre dazu gebrauchen, um sie auszuessen«, sagte Bertrand; »ich selber hätte wohl ein halbes Dutzend Arbeiter nötig gehabt, aber ich konnte es nicht übers Herz bringen, diese armen Teufel aufzukaufen, denn weiter ist der Kontrakt-Handel ja doch nichts.«

»Ich hätte Lust, sie anzureden«, sagte Rafael, und blieb stehen.

»Komm nur mit hinüber zum Fluß«, entgegnete Bertrand, »dort drüben finden wir noch einen ganzen Trupp. Überarbeiten tun sie sich nicht, so viel ist sicher, aber schon die Verbannung aus ihrer Heimat muß ihnen furchtbar sein; und wenn man ihnen auch wirklich vorher gesagt hat, daß sie acht Jahre ausbleiben sollen, was wissen diese Menschen von einer Zeitrechnung! Welchen Begriff machen sie sich von einem Jahr, wo sie kaum das Maß einer Woche, von einem Sonntag zum andern, kennen! Siehst du, da vorn sitzen gleich wieder ein paar.«

Sie hatten sich jetzt, während sie sprachen, dem Flusse genähert; rechts auf einer kleinen Anhöhe saß ein junger Insulaner still und regungslos.

»Joranna bo-y!« rief Rafael hinauf, und der Insulaner hob rasch und erstaunt den Kopf und schaute den fremden weißen Mann an. War er es, der ihm seines Landes Gruß entgegengerufen hatte?

»Hare maï!« wiederholte aber Rafael freundlich und winkte ihm dabei mit der Hand, als der Insulaner auch wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil emporsprang und zu ihm hinunterflog.

»Wo kommst du her, Fremder?« rief er ihn dabei in seiner Sprache an. »Kommst du von den lieben Inseln und willst du uns helfen?«

»Von den Inseln komme ich schon«, erwiderte Rafael, der die Sprache der Gesellschafts-Inseln, wenn auch nicht fließend, doch so sprach, daß er sich darin verständlich machen konnte, »aber ob ich dir helfen kann, weiß ich nicht.«

»Du willst uns auch nicht helfen?« sagte der Insulaner, indem ihm zwei große, helle Tränen in die Augen traten. »Oh, dann sind wir verloren und sehen Raiateo nie wieder. Joranna dann, Joranna!« und er senkte den Kopf auf die Brust.

»Aber wie soll ich dir helfen?« fragte Rafael gerührt. »Habt ihr euch nicht verpflichtet, hier zu arbeiten?«

»Verpflichtet?« sagte der Insulaner und sah ihn, während er langsam den Kopf wieder hob, erstaunt an. »Verpflichtet – zu was?«

»Hier eine Zeitlang zu arbeiten.«

»Sie haben uns gesagt, daß wir nur an Land geschafft werden sollten, bis wieder ein Schiff nach unserer Insel abging.«

»Was sagt er?« fragte Bertrand, der früher auch auf den Inseln gewesen war, seit der Zeit aber das wenige, was er überhaupt von der Sprache verstand, gänzlich wieder vergessen hatte.

Rafael wiederholte ihm die Worte.

»Aber sie haben doch einen Kontrakt unterzeichnet!« rief der Franzose.

Rafael fragte jetzt den Insulaner, ob sie nicht ihren Namen auf ein Papier gesetzt hätten, auf dem stand, daß sie sich als Arbeiter verdingen wollten.

Der Insulaner fuhr entrüstet empor und eben wollte er erzählen, wie man sie an Bord gelockt und mit fortgenommen hatte, als der Aufseher, ein Cholo mit einem nichts weniger als einladenden Gesicht, herankam und eine ziemlich gewichtige Peitsche in der Luft schwang.

»Holla, du faule Bestie!« rief er dabei, aber natürlich auf Spanisch, wovon der arme Insulaner doch kein Wort verstand, »willst du machen, daß du an deine Arbeit kommst! Es wäre nötig«, setzte er mit einem gemeinen Fluch hinzu, »daß man jedem von euch Lumpenkerlen einen Aufpasser auf den Rücken setzte, und verdammt will ich sein, wenn ich nicht schon zehnmal gewünscht habe, das blutige Schiff, das euch hierher gebracht hat, wäre mit Mann und Maus untergegangen!« Dabei war er, ohne die Weißen zu beachten, ziemlich nahe herangekommen und holte eben zu einem Schlag aus, als Rafael dazwischen sprang und ausrief:

»Halt, Señor, dieses Mal sind wir schuld daran, daß der Mann seine Pflicht versäumt hat, und Sie werden ihn überhaupt noch einen Augenblick entschuldigen müssen, da ich einige Fragen an ihn zu richten wünsche!«

»Señores«, sagte der Mann finster, »ich weiß nicht, ob es meinem Herrn recht sein wird, wenn Sie sich hier mit seinen Arbeitern unterhalten, anstatt daß diese ihrer Pflicht nachgehen!«

»Ich befinde mich da in dem nämlichen Fall wie Sie, Señor«, sagte Rafael mit spöttischer Höflichkeit, »ich weiß es auch nicht. Trotzdem aber bleibt der Insulaner hier, bis ich ihn alles gefragt habe, was ich wissen muß!«

»Dazu haben Sie kein Recht«, wollte der Cholo auffahren – Bertrand aber rief:

»Pst, Bursche, kein Wort weiter, wenn du gescheit bist, außer denn, du wolltest dir selber einen Rücken voll Schläge holen, daß du acht Tage lang nicht einmal auf deiner eigenen Haut liegen könntest! Ich denke, du kennst mich, und es wären nicht die ersten Prügel, die du von mir bekommst!«

»Señor Bertrand«, sagte der Mann, den tückischen Blick nur scheu zu ihm erhebend, »wenn Sie Gewalt anwenden, so kann ich nichts gegen Sie ausrichten; mein Herr mag aber dann entscheiden, ob ich meine Pflicht getan habe«, und sich rasch abwendend, schritt er nach der Hacienda zurück, um Desterres zu benachrichtigen.

»So, Rafael«, sagte der alte Franzose, »nun laß deinen Braunfisch erzählen, denn vor dem Burschen sind wir jetzt sicher. Desterres weiß besser, als daß er mir in die Quere kommen sollte, wenn ich einmal meinen Kopf auf was gesetzt habe. Wir beide sind ganz gute Nachbarn zusammen, wenn wir einander nicht zu sehen bekommen, und in dem Sinne, denke ich, wird er auch weiter gute Nachbarschaft halten. Also lauf einmal vom Stapel.«

Es bedurfte nur weniger Worte, um den Insulaner in Gang zu bringen, und er erzählte jetzt in der einfachen Weise dieser Leute, wie sie an jenem Morgen an Bord gelockt worden waren, und wie das Schiff dann fortgefahren wäre, ohne daß die Weißen auf ihre Bitten gehört hätten. Auch von dem verzweiflungsvollen Angriff, den sie machten, als sie sich verraten sahen, erzählte er, und wie man dann unter sie geschossen und die Toten nachher über Bord geworfen habe.

Rafael hörte ihm, ohne ihn auch nur mit einer Silbe zu unterbrechen, zu, und nur dann und wann mußte er Bertrand übersetzen, was der Insulaner sagte. Auch auf den Italiener kam die Rede, denn die Insulaner hatten jetzt die feste Überzeugung gewonnen, daß der sie verraten habe. Ein Wort der Warnung von ihm, und sie wären ja dem Schiffe nie zu nahe gekommen! Was aber aus Felipe geworden war, wußten sie nicht. Seit sie in dem »viereckigen Kanu« (dem Eisenbahnwagen) über den Sand »geflogen« waren, hatten sie ihn nicht mehr gesehen.

Rafael und Bertrand bezweifelten jetzt keinen Augenblick länger, daß hier eine nichtswürdige Büberei stattgefunden hatte; aber was war dagegen zu tun? Die Insulaner hatten dabei, wie es schien, gar keine Ahnung davon, wie lange sie hier festgehalten werden sollten, und wie sie, selbst wenn diese acht Jahre abgelaufen waren, in ihre Heimat zurückkehren sollten; daß jenes Schiff sie nicht zurückbringen würde, verstand sich wohl von selbst.

Der einzige, der hier helfen konnte, war der Präsident; aber würde er es tun, und war diese Einführung von Kulis nicht vielleicht gar auf seinen Befehl geschehen? Bertrand glaubte das, denn seiner Versicherung nach sollte schon heute wieder ein Schiff mit Kulis von den Inseln in Callao erwartet werden.

So viel blieb gewiß, für den Augenblick war hier in der Sache gar nichts zu ändern, denn allem Anschein nach hatten die jetzigen »Eigentümer« dieser Unglücklichen das peruanische Gesetz vollständig auf ihrer Seite. Nur Hoffnung geben konnte Rafael dem armen Teufel von Insulaner, und er versicherte ihm jetzt, er wolle dem »König der Weißen« hier im Lande das Unrecht erzählen, das ihnen geschehen sei, der würde die Schuldigen dann bestrafen und sie selber nach ihrer Insel zurückführen. Bis dahin – und das möge er auch allen seinen Gefährten sagen – sollten sie nur Geduld haben und jetzt die Arbeit verrichten, die ihnen aufgetragen würde.

Und wie dankbar war der arme Insulaner selbst nur für dieses Versprechen einer Hilfe! Wie glücklich fühlte er sich, nicht allein jemand gefunden zu haben, der seine Sprache redete, nein, der ihnen auch beistehen wollte in ihrer Not – und jubelnd sprang er zu den Gefährten hinüber, um ihnen die gute Kunde zu bringen.

Bertrand und Rafael aber kehrten jetzt wieder um. Sie mochten Desterres keinen wirklichen Grund zur Klage geben.

Übrigens wären sie auch, selbst in dem Fall, nicht von dem »Nachbar« belästigt worden, der gar nicht daran dachte, sich in einen Streit einzulassen. Es verbesserte allerdings seine Laune nicht, als ihm sein Aufseher das Vorgefallene meldete, aber er befahl ihm, die beiden Herren gewähren zu lassen. Die Insulaner arbeiteten überdies nicht viel; ob nun einer von ihnen ein paar Minuten schwatzte oder nicht, blieb sich da ziemlich gleich.

 


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