Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

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Nach dem Karneval

Rafael schritt langsam die Straße hinab, denn der Besuch Perteñas bei der jungen Französin ging ihm doch im Kopf herum, und er überlegte hin und her, was ihn bewegen haben konnte, sich auf eine solche Art dort einzuführen.

Und wie still die Straßen heute lagen im Vergleich zu gestern, wo sie der Mutwille durchtobte!

Die schwarzgekleideten Gestalten in den Straßen, die heute mit niedergeschlagenen Augen, ihr Gebetbuch in der Hand, vorüberglitten, waren aber nicht das einzige Zeichen des entschwundenen Karnevals; denn überall in den verschiedenen Häusern galt es jetzt, die gestern arg mitgenommenen Vorderstuben wieder zu reinigen, auszutrocknen und einzuräumen und die Eierschalen aus allen Ecken und Winkeln, selbst auf der Straße zusammen und aus dem Weg zu kehren.

Sonst verriet freilich nichts mehr das gestrige tolle Fest, und nur die Fußgänger in den Straßen warfen noch manchmal rasch und unwillkürlich den Blick nach den Fenstern hinauf, wenn sich dort plötzlich eine lichte Gestalt bewegte; sie waren gestern zu sehr eingeschüchtert worden, hatten heute aber auch nicht das geringste mehr zu fürchten – es war Friede in Lima.

Rafael selber konnte sich diesem Gefühl nicht verschließen, noch dazu, da er so viele Jahre von Lima fern gewesen war, und ohne daß er es wollte, hielt er seine Aufmerksamkeit weit mehr auf den oberen Teil der Häuser, als auf die Straße gerichtet. So geschah es denn, daß er plötzlich, ohne vorher einen Bekannten bemerkt zu haben, einen Arm in dem seinigen fühlte und eine freundliche Stimme neben sich hörte, die ausrief:

»Aber mein sehr verehrter Don Rafael, Sie rennen ja die Leute auf der Straße um, ohne sie zu sehen! Darf man denn wohl fragen, welche holde Schöne Sie da oben hinter den heruntergelassenen Jalousien so ängstlich gesucht haben?«

»Señor Rivadia!« rief Rafael in wirklich unbegrenztem Erstaunen aus, denn das Gesicht dieses Herrn wäre das allerletzte gewesen, das er in diesem Augenblick erwartet hätte.

»Also Sie kennen mich wirklich noch?« sagte der Herr mit einem freundlichen Vorwurf im Ton. »Nennen Sie das etwa wie ein alter Freund unseres Hauses gehandelt, sich monatelang wieder in Peru aufzuhalten, ohne uns auch nur Gelegenheit zu geben, Ihnen guten Tag zu sagen?«

»Señor Rivadia«, sagte Rafael, den diese Zuversichtlichkeit nach dem abstoßenden Wesen, mit dem ihn der alte Herr bei seinem ersten Besuch behandelt hatte, wirklich aus aller Fassung brachte, und der gar nicht wußte, was er eigentlich darauf erwidern solle – »ich fühlte mich in der Tat nicht ganz sicher, daß Sie eine Wiederholung meines Besuches so gern sehen würden, ehe – Sie mich selber einmal in meiner Klause aufgesucht haben.«

»Also so förmlich sind Sie in Europa geworden?« lachte der alte Herr, ohne auch nur durch eine Miene zu zeigen, daß er den in den Worten enthaltenen Vorwurf fühle. »Solche Umstände haben Sie machen gelernt? Und wie hat sich Candelaria indes nach Ihnen gesehnt und immer von Tag zu Tag gehofft, daß der europäische Schmetterling auch einmal wieder zu ihr zurückflattern und ihr von seinen Reisen erzählen werde!«

»Arme Candelaria!« erwiderte Rafael nicht ohne einen leisen Anflug von Ironie. »Und wie geht es meinem Freund Basilio?« fragte er plötzlich; »ich habe ihn lange nicht gesehen. Hat er rechte Fortschritte im Gesang gemacht?«

»Don Basilio? Hm, gut, soviel ich weiß«, sagte der alte Herr, doch etwas verlegen, denn was Don Rafael mit der Frage meinte, verstand er rasch genug. »Übrigens sind wir viel zu wenig mit ihm bekannt und treffen ihn selten, um Genaueres über ihn zu wissen. Ich glaube sogar, er hat schon seit einiger Zeit Lima ganz verlassen.«

»In der Tat?« Rafael sah Señor Rivadia scharf und mißtrauisch an. »Also hat er seine Singstunden unterbrochen?«

»Singstunden?« fragte der alte Herr erstaunt. »Das ist wohl ein Irrtum, denn soviel ich weiß, hat meine Tochter schon seit drei oder vier Jahren keine Singstunden mehr. Aber ich biege hier ab, Don Rafael. Sollte ich Sie wieder umsonst bitten, uns doch recht bald die Freude Ihres Besuches zu machen? Vergessen Sie nicht Ihre alten Freunde. Ein alter ist immer mehr wert als drei neue. Also auf baldiges Wiedersehen! Die Meinigen daheim werden sich freuen, wenn ich ihnen wenigstens sagen kann, daß ich Sie auf der Straße getroffen habe!«

Und mit einem herzlichen Händedruck nickte ihm der alte Herr zu und bog dann in die nächste Straße ein, um nach Haus zurückzukehren. Rafael sah ihm verwundert und kopfschüttelnd nach und dachte bei sich: »Was, um Gottes willen, ist denn da vorgegangen, daß Señor Rivadia heute so ganz verändert scheint? Rätselhaft! An meinen Vermögensumständen hat sich doch nichts geändert, und er selber – sollte etwa die Sache mit Don Basilio einen Sprung bekommen haben? Aber daß er mich dann wieder aufsuchen sollte, und daß Candelaria selber – doch was zerbreche ich mir darüber den Kopf«, brach er leichthin ab, »was auch immer geschehen ist, und geschehen muß etwas sein, lange kann mir's kein Geheimnis bleiben, und bis dahin darf ich der Sache eben ruhig ihren Lauf lassen, ohne mir meine Gehirnnerven außergewöhnlich anzustrengen!«

Rafael war ein paar Straßen entlanggegangen und passierte gerade ein sehr elegantes französisches Café, als eine Hand sich auf seine Schulter legte und eine lachende Stimme sagte:

»Nun, Amigo, wie macht sich der Braune? Es ist eine lange Zeit, daß wir uns nicht gesehen haben, und ich möchte doch eigentlich wissen, wie du mit deinem Kauf zufrieden bist.«

»Oh, Don Gaspar, buenos dias, alter Freund!« rief Don Rafael. »Du vor allen hast auch recht, mir Vorwürfe zu machen, denn gegen dich habe ich wirklich, wenn auch ohne es zu wollen, unfreundlich gehandelt. Aber sei mir nicht böse, Amigo. Ich bitte es dir hiermit wirklich von Herzen ab und danke dir noch außerdem aufrichtig für das gute Pferd; ich bin ganz außerordentlich damit zufrieden.«

»Nun, das freut mich wirklich«, sagte Gaspar, seinen Arm um den Freund legend und ihn mit in das Café hineinziehend. »Aber nun sage mir vor allen Dingen, was du treibst und wie es dir geht, denn bis jetzt scheinen dich einesteils das Theater, andernteils deine Spazierritte nach den Hacienden so vollständig in Anspruch genommen zu haben, daß man deiner gar nicht mehr habhaft werden konnte. Wohnst du jetzt in Lima?«

»Gewiß, und ich habe seit meiner Rückkehr immer hier gewohnt. Aber, Gaspar, ehe ich's vergesse – ich wollte dich etwas fragen.«

»Mich?«

»Ja. Du bist doch mit Rivadias bekannt?«

»Allerdings, aber nicht eben sehr genau. Ich gehe ab und zu dorthin und werde bei den Tertulias als sehr verwendbares tanzendes Mitglied manchmal in Anspruch genommen.«

»Kanntest du Basilio?«

»Gewiß, und eigentlich nur zu gut. Ich bin kürzlich mit ihm verwandt geworden.«

»Du? Das ist mir neu. In welcher Art, wenn man fragen darf?«

»In sehr einfacher«, brummte Don Gaspar, dem die Erinnerung eben kein besonderes Vergnügen zu machen schien. »Er hat mich auf ziemlich unverschämte Weise angeborgt und ist dann plötzlich mit dem Dampfer, man sagt, nach Pisco oder Arica, ich glaube aber ziemlich bestimmt, nach Bolivien gegangen, und wir werden hier wohl nichts weiter von ihm zu sehen bekommen.«

»In der Tat«, sagte Rafael, während der Kellner ihnen Kaffee brachte, leise vor sich hin, »das ist ja ganz eigentümlich und trifft sich sehr sonderbar!«

»Als du zurückkamst«, fuhr Gaspar fort, »hieß es einmal, daß er um Candelaria angehalten hätte. Damit scheint es aber doch nichts mehr zu sein, oder die Alten halten es wenigstens sehr geheim. Der Name wird auch nicht mehr häufig in der Familie erwähnt. Nach dir haben sie mich übrigens, wie mir jetzt einfällt, die letzten Tage mehrmals gefragt.«

»Nur die letzten Tage?«

»Hm«, sagte Gaspar nachdenklich, »ich wüßte wirklich nicht, daß es früher geschehen wäre, doch möcht' ich es auch nicht bestreiten. Aber was mir da einfällt – meinen herzlichsten Glückwunsch kann ich dir ja gleich hier abstatten.«

»Mir – wofür?« fragte Rafael erstaunt.

»Nun, wie ich höre, sollst du beim Präsidenten einen tüchtigen Stein im Brett haben, und er hat, glaub' ich, neulich geäußert, daß er dich an seine Regierung auf irgendeine vorteilhafte Weise zu fesseln wünsche. Geschieht das, so ist dein Glück gemacht.«

»Und wo hast du das erfahren? Doch wohl auch bei Rivadias?«

»Ich weiß es jetzt wahrhaftig nicht, wo davon gesprochen wurde – doch halt, du hast recht! Es war der alte Rivadia selber, der es erzählte, gerade als er einmal von einer Audienz beim Präsidenten herunterkam. Castilla mußte doch selber etwas davon erwähnt haben – ja, ganz recht, ich erinnere mich jetzt deutlich.«

»Möglich«, lächelte Rafael still vor sich hin, denn das freundliche Wesen des alten, biederen Rivadia war ihm jetzt kein Rätsel mehr. »Ich wüßte aber nicht, daß ich selber gesonnen wäre, irgendeine Verbindlichkeit einzugehen. Doch damit wollen wir jetzt nicht die schöne Zeit vergeuden. Du willst schon wieder fort?«

»Ich muß auf die Post.«

»Gut, dann begleite ich dich noch ein paar Cuadras.« Und langsam schlenderten die jungen Leute wieder aus dem Café die Straße hinab.

Gaspar, ein junger, lebenslustiger Mann aus einer der besseren Familien des Landes, die aber durch des Vaters Spekulationen in Silberminen fast das ganze Vermögen zugesetzt hatte, plauderte frischweg von allem, was indessen in der Stadt vorgefallen war und wovon er glaubte, daß es den gar so ernsten Freund interessieren könne. Auch von dem Raub bei der schönen Französin erzählte er; er hatte selber den Wagen mit den Masken gesehen, aber natürlich auch nicht den geringsten Verdacht geschöpft, daß die Verkleideten irgend etwas Schlimmes im Schilde führten. Ob es Neger oder Weiße gewesen seien, wußte er aber auch nicht zu sagen. Natürlich Weiße, meinte er übrigens, denn Neger würden es nie gewagt haben, sich in ein »Spiel« mit den Señoritas einzulassen.

Während sie so zusammen die Straße hinabschlenderten und Rafaels Blick noch in Gedanken auf dem Boden haftete, ging ein Offizier vorbei und grüßte. Rafael griff mechanisch auch nach seinem Hut; als er aber den Blick zu dem ihm vollkommen Fremden hob, sah er, daß dessen Gruß nicht ihm oder seinem Begleiter gegolten haben konnte, da sein Auge eben auf einem an der anderen Seite gehenden Mulatten haftete. Natürlich mußte es ihm auffallen, daß ein Offizier einen Farbigen grüßte, und er faßte Gaspars Arm, als dieser ihn leise fragte:

»Kennst du den da drüben?«

»Den Offizier?«

»Nein, das ist Oberst Desterres, ein Bruder von dem da draußen auf deiner Hacienda. Den, der uns auf der anderen Seite der Straße begegnete, mein' ich.«

»Den Mulatten?«

»Ja, das war Granero, der Expräsident von Ecuador.«

»So? Darum kam mir der kleine braune Bursche so bekannt vor«, lachte jetzt Rafael leise vor sich hin; »beinahe hätte ich ihn in einem falschen Verdacht gehabt.«

»Hast du ihn nicht in Guayaquil gesehen?«

»Gewiß, aber immer in seiner Generalsuniform mit einer wahren Unmasse von Stickereien und goldenen Schnüren, daß er mir in dem einfachen Rock fast fremd vorkam. Also, das war Oberst Desterres?«

»Der uns auf unserer Seite begegnete, ja. Mir war es, als ob du ihm gedankt hättest. Kennst du ihn?«

»Ich? Nein«, sagte Rafael; »mir war es, als ob er Granero gegrüßt hätte. Er sah dich wenigstens nicht dabei an.«

»Granero? Hm, das wäre möglich«, lachte Gaspar. »Es gibt jetzt eine ganze Menge Menschen in Lima, die immer noch an eine Zukunft des Mulatten glauben und ihm nun den Hof machen, nur um später vielleicht eine höhere Anstellung bei ihm zu bekommen, und dem kleinen, dicken Burschen gefällt das. Er verspricht alles, was man von ihm haben will, bis sie ihn einmal beim Wort und dann auch vielleicht gleich beim Ohr nehmen und aus dem Land hinausführen. Castilla soll überhaupt gar nicht besonders auf ihn zu sprechen sein, weil er es in Guayaquil oder Ecuador so entsetzlich dumm angefangen und sich das ganze Land verfeindet hat. – Aber hier ist die Post, Rafael, und nun laß dich bald einmal sehen, du weißt, wie willkommen du mir bist, und die Meinigen haben sich schon lange auf dich umsonst gefreut.«

»Oberst Desterres?« dachte Rafael für sich, als er allein die Straße hinabschritt. »Hm, grüßt den Expräsidenten so halb verstohlen – ob ihm der wohl auch am Ende den Generalstitel als Lockspeise hingehalten hat? Aber was kümmert's mich? Habe wahrlich mit meinen eigenen Angelegenheiten genug zu tun!«

Er stieg auch, sich der Gedanken rasch entschlagend, in einen englischen Gasthof hinauf, ein ziemlich großartiges Lokal mit Billards und Lesezimmer, um einige europäische Zeitungen durchzublättern. Kaum aber mochte er zehn Minuten dort gesessen haben, als der nämliche Offizier, der ihm vorher als Oberst Desterres bezeichnet worden war, eintrat, einen flüchtigen Blick im Zimmer umherwarf und sich dann an einen Seitentisch setzte, wohin er sich eine Flasche Selterswasser und Zucker mit einem Glas Kognak bestellte. Da er übrigens von Rafael, den er auch gar nicht kannte, nicht die geringste Notiz nahm, so konnte ihn dieser ungestört betrachten.

Der Eindruck, den des Obersten Züge auf ihn machten, war eben kein sehr günstiger; er hatte ein entschieden gemeines, sinnliches Gesicht, dem die kleinen Augen, die borstigen Brauen und die niedere Stirn noch etwas Heimliches und Verstecktes gaben, übrigens war es eine kräftige Gestalt, und er schien auch an kräftige Kost gewöhnt, denn das Selterswasser ließ er unberührt stehen, während er den Kognak trank, sich dann noch einen zweiten und einen dritten geben ließ. Er mußte irgendwen erwarten, denn er hielt wohl ein Zeitungsblatt in der Hand, las aber nicht darin und sah immer nur ungeduldig nach der Tür.

Endlich öffnete sich diese, und ein kleiner Mulatte kam herein, der dem Offizier ein lang zusammengefaltetes Briefchen brachte, das der Oberst rasch entfaltete und las. Er nickte dazu mit dem Kopf nach dem Burschen hinüber, der das allem Anschein nach für eine genügende Antwort hielt, denn er verschwand gleich darauf wieder aus der Tür.

Der Oberst nahm indessen eine Zigarre heraus, entzündete den Brief und hielt das flammende Papier, als seine Zigarre brannte, so lange noch in der Hand, bis es vollständig verkohlt und also unschädlich war. Bald darauf – Rafael achtete nur flüchtig auf das, was der andere trieb – trat ein junger peruanischer Offizier ein, sah sich rasch um und schritt dann auf den Obersten zu, den er wie einen alten Bekannten, aber nicht wie einen Vorgesetzten grüßte. Er setzte sich auch ohne weiteres zu ihm an den Tisch, und die beiden sprachen eine kurze Zeit leise und angelegentlich zusammen. Aber Rafael achtete jetzt nicht weiter darauf. Er hatte einen interessanten Artikel über europäische Angelegenheiten gefunden und überflog den.

Jetzt war da drüben der junge Offizier wieder aufgestanden und schritt an ihm vorüber. Rafael hatte Gelegenheit, ihn genau anzusehen, und war ihm eine gewisse Ähnlichkeit des noch sehr jungen, hübschen Mannes mit Lydia Valière schon aufgefallen, als er zuerst das Zimmer betrat, so fühlte er sich jetzt fast noch mehr davon betroffen. Beide hätten gut und leicht für Bruder und Schwester gelten können. Wahrscheinlich hatten sie aber einander nie gesehen, und nur diese zufällige Ähnlichkeit konnte auch die Ursache sein, daß sich Rafael das Gesicht des Mannes so genau betrachtete.

Indessen war es sechs Uhr geworden, und Don Rafael schritt zurück in die Calle de Valladolid, um sich dort die versprochene Adresse zu holen. Lydia aber hatte eine Einladung zu einer Spazierfahrt mit Monsieur Monfort und dessen Frau angenommen, und die Mulattin gab ihm nur ein kleines Briefchen, das sie für ihn zurückgelassen hatte. Es stand indessen weiter nichts darin als Name und Adresse der Milchfrau.

 


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