Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Handstreich

Im Marschschritt kam die von Pablo geführte Patrouille über die Plaza, und eben, als sich ihr Antonio anschloß, trat ihr auch der Hauptmann entgegen und übergab Pablo mit militärischem Gruß ein zusammengefaltetes Papier, das dieser, nach einigen leise mit ihm gewechselten Worten, vorn in seine nur halb zugeknöpfte Uniform schob.

Auch der Hauptmann schloß sich jetzt der Patrouille an, die vielleicht zehn Minuten auf der Plaza hielt und dann langsam weitermarschierte.

Als sie endlich die Straße erreichten, in der das Palais des Präsidenten lag, war es schon völlig Tag geworden.

Schon funkelten die Türme im ersten Morgenstrahl, und noch war kein Mensch weiter auf der Straße zu erblicken als eben die Patrouille. Nur sechs bis acht Aasgeier hatten einen Fund in einem der Abzugskanäle gemacht, die durch die Straßen liefen, und dort eine wahrscheinlich über Nacht hineingeworfene tote Katze entdeckt. An der hackten sie jetzt mit heiserem Geschrei herum, bis sie dadurch die Aufmerksamkeit eines großen, mageren Hundes erregten, der ebenfalls die Straßen nach Beute absuchte. In langen Sätzen kam er heran, und die Aasgeier hoben sich faul und ärgerlich auf die hohe Klostermauer und sahen auf den Hund hinab, der aber den Bissen zu ekelhaft fand. Er schnupperte daran, zog den Kopf zurück, nieste, wie um den fatalen Geruch loszuwerden, und setzte dann seinen Weg die Straße hinab fort, während die Aasvögel wieder mit vorgestreckten Hälsen und herabhängenden Ständern auf ihre Beute fielen und ihre widerliche Mahlzeit von neuem begannen.

Daran vorbei schritt die Patrouille bis zur nächsten Querstraße, wo die übrigen Verschworenen zu ihr stießen. Vor sich konnten sie schon das eiserne, hohe Gitter erkennen, das das Palais des Präsidenten nach der Straße zu abschloß, und die Soldaten zerbrachen sich nur den Kopf, was all die Offiziere heute morgen so früh und in solcher Anzahl auf den Füßen machten.

Die Patrouille war aber vor ihrer Zeit am Ziel; es hatte noch nicht sechs Uhr geschlagen, und das eiserne Gittertor wurde um diese Tageszeit sonst noch immer verschlossen gehalten. Heute stand es offen, und Pablo gab den Befehl, hineinzumarschieren, mit leiser, kaum hörbarer Stimme.

Im Innern des breiten Hofraums trat ihnen der die Wache kommandierende Offizier entgegen und wechselte leise einige Worte mit Antonio und Pablo, worauf alle Offiziere, ohne den Hauptmann, der unten im Hof blieb und mit verschränkten Armen auf und abging, Castillas Palais betraten und in seinem Innern verschwanden.

Was ging da vor? Die Soldaten sahen sich einander an und schüttelten die Köpfe. Geschah das alles auf Befehl des »Alten«, und galt es vielleicht, irgend etwas auszuführen? Aber was, wozu nicht mehr gebraucht wurde als eine einzige Patrouille? Der Hauptmann wußte es gewiß, aber den durften sie doch nicht fragen!

Der Hauptmann hielt sich dicht zu ihnen, um jede Unterredung abzuschneiden; sonst aber achtete er nicht weiter auf sie. Seine Aufmerksamkeit war auf das Palais und auf dessen Fenster gerichtet. Noch immer herrschte dort Totenstille.

Oben die Straße herab kam mit langsamen Schritten, wie zufällig, ein einzelner Offizier geritten. Es war Oberst Desterres.

Im Palais wurde es jetzt unruhig. Man hörte ein paar Türen schlagen und sah an den Fenstern, die oben das Vorhaus erhellten, drei oder vier Diener rasch vorüberlaufen. Was ging da vor? Die Soldaten wurden unruhig und flüsterten miteinander. Schon hörte der Hauptmann, daß sie sich zuriefen: »Frag' ihn, frag' ihn! Er muß uns sagen, was da vorgeht!«

»Kameraden«, sagte er plötzlich, indem er zu ihnen trat, »da drinnen wird jetzt hoffentlich einer unserer heißesten Wünsche erfüllt.«

»Aber was bedeutet der Lärm, Kapitän, im Hause des Präsidenten?« fragte ein Unteroffizier und horchte wieder nach dem Palais hinüber. »Es geschieht doch da drinnen nichts Unrechtes?«

»Unrechtes? Nein«, sagte der Hauptmann; »nur ein Gesuch wird dem Präsidenten übergeben, daß er uns endlich nach Guayaquil hinauf und die Stadt erobern läßt. Haben wir die genommen, dann ist Ecuador ruhig und wir haben hier in Lima auch nicht mehr eine solche Armee zu halten, sondern können die Leute in ihre Heimat und zu ihrer Arbeit zurückschicken.«

»Hm, das wäre nicht so übel«, brummten einige der nächsten Soldaten, denn der Hauptmann hatte absichtlich so laut gesprochen, daß diese es hören konnten.

»Ja«, sagte der Korporal aber wieder, »wenn es der Präsident gutwillig gestattet; aber gezwungen kann er dazu nicht werden!«

»Das beabsichtigt auch niemand«, erwiderte der Hauptmann. »Um neun Uhr heute morgen ist aber große Ministerkonferenz, wo das alles abgemacht werden soll, und da wollten die Offiziere den Präsidenten nur vorher wissen lassen, was sie davon dächten, damit er die Stimmung der Armee kennt.«

Drüben im Palais kamen ein paar Diener die Treppe herunter gestürzt und wollten über den Hof fliehen, prallten aber erschrocken zurück, als sie die Soldaten dort aufmarschiert sahen.

»Das sieht gerade nicht wie ein Gesuch aus«, sagte der Unteroffizier, der mißtrauisch wurde – »alle Teufel, was ist das?«

Drinnen im Palais fiel ein Schuß.

»Verrat!« rief der Unteroffizier – »man mordet da drinnen unseren Präsidenten! Herr Hauptmann, führen Sie uns hinein!«

»Ich darf nicht«, sagte der Hauptmann, »das ist nicht meine Patrouille; aber Ihr irrt euch. Gott weiß, was der Pistolenschuß bedeutet!«

»Meuchelmörder!« schrie in diesem Augenblick die Stimme des Präsidenten vom Dache des Palais aus, auf das er, einen Revolver in der Hand, in seinem Morgenanzuge geflüchtet war. »Vorwärts, Soldaten, rettet euren General.«

»Teufel«, murmelte der Hauptmann leise vor sich hin, »jetzt ist die Geschichte aus!« – In demselben Augenblick aber öffnete sich auch der große Torweg des Palais wieder, aus dem die sechs jungen Offiziere, einige davon noch den blanken Degen in der Hand, traten.

»Vorwärts marsch, Patrouille!« rief Pablo, ihr Führer, indem er vorsprang und sich mit gezogenem Säbel an die Spitze stellen wollte.

»Das sind die Verräter!« schrie der Unteroffizier – »Feuer, Kameraden! Rettet den Präsidenten!«

Die Soldaten schienen im ersten Moment nicht recht zu wissen, was sie tun sollten. Wollten die Offiziere wirklich den Präsidenten zwingen, sie freizulassen? Aber es blieb ihnen keine Zeit zur Überlegung. Unwillkürlich hatte jeder den Hahn seines Gewehres gespannt und es in Anschlag gebracht. »Feuer«, schrie der Unteroffizier noch einmal, »wer kein Verräter ist!«

»Nieder mit euren Gewehren!« rief ihnen Pablo entgegen – aber zu spät. Der Unteroffizier selber hatte auf ihn angelegt, und mit dem Knall seines Gewehres brach der Unglückliche zusammen.

»Feuer!«

Hier und da knatterte es unregelmäßig. Jetzt kam die Wache aus ihrer Stube herausgestürzt – wieder fielen drei oder vier Schüsse.

»Rasende!« schrie Antonio, der einzige, welcher noch unverwundet war, als er die Kameraden um sich stürzen sah. »Für wen denn haben wir unser Leben gewagt? Nur für euch!«

»Feuer!« schrie jetzt auch der Unteroffizier der Wache, der nicht hinter dem andern zurückstehen wollte, und drei Kugeln zugleich trafen den jungen Offizier, daß er, auf der Stelle tot, zusammenbrach.

In diesem Augenblick spornte der Offizier, der das Palais noch nicht erreicht hatte, sein Pferd und hielt im nächsten Augenblick vor dem Tor. Kaum aber sah er die unglücklichen Opfer der Verschwörung im Hof in ihrem Blute liegen und Castilla oben auf dem Dach, so schrie er laut: »Rettet Seine Exzellenz, Soldaten! Feuer auf die Verräter! Zu Hilfe, man will den Präsidenten ermorden!«

Niemand achtete auf ihn. Die wenigen Menschen, die sich zufällig um diese Zeit in der Straße befanden, eilten an das äußere Tor und sahen dort erschrocken die Steine blutig gefärbt, sahen die Erschossenen am Boden liegen, und selbst die Soldaten standen bestürzt, ihre abgefeuerten Gewehre in der Hand, und waren sich selber noch nicht klar bewußt, was eigentlich hier vorgefallen war.

Nur der Hauptmann Ternate hielt die Zeit für gekommen, den Ort zu verlassen, ehe er zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Wurde er später gefragt, nun, dann fand sich schon eine Ausrede! Unbehindert verließ er auch den Hof. Niemand achtete auf ihn. Draußen bog er in die nächste Quergasse ab und eilte seinem eigenen Hause zu.

Von allen aber hatte sich Castilla am ersten wieder gesammelt, und er schien auch allein zu wissen, was hier vorgegangen war. Ehe die Soldaten unten im Hof ordentlich zur Besinnung kamen, hatte der Präsident das Dach seines Hauses verlassen und erschien in seinem Morgenrock, in Pantoffeln, nur eine Soldatenmütze auf dem Kopf, im Hof mitten zwischen den Soldaten und sagte, mit einem finstern Blick auf die Leichen:

»Hat euch gereut, was ihr beabsichtigt? Es war die höchste Zeit, denn ich dächte doch, ihr solltet euren General kennen! Und nun fort mit den Leichen! Sie haben ihre Strafe erhalten – ich will sie nicht mehr sehen, ich will nicht fragen, was ihre Absicht war. Jetzt besetzt die Wache und die übrigen verlassen das Palais.«

»Viva su Excellencia!« schrie in diesem Augenblick Oberst Desterres von seinem Pferd herab und suchte durch seinen Hochruf die Neugierigen und das Militär zum Einstimmen in sein Vivat zu veranlassen. Er hätte aber keine unpassendere Zeit dazu wählen können, denn niemand antwortete ihm, nur um die Lippen Castillas zuckte ein spöttisches Lächeln, als er den Blick dort hinüber warf.

Die Soldaten standen noch immer wie betäubt. Hatten sie denn wirklich ihre eigenen Offiziere erschossen, und galten die Worte des Präsidenten ihnen, mit denen er sagte: »Hat euch gereut, was ihr beabsichtigt?« Was hatten sie denn beabsichtigt, als sie heute morgen hierher marschierten? Nichts, als die Wache zur rechten Zeit abzulösen. Wohin aber war nur der Hauptmann so rasch gekommen? Konnte das wirklich ein Mordversuch auf den Präsidenten gewesen sein, und hielt sie der »Alte« für mitschuldig an dem Attentat?

Sie kamen gar nicht richtig zur Besinnung, denn des Präsidenten Kommandostimme ließ sie rasch zusammenfahren und wieder in Reih' und Glied einrücken. Im Nu war die Wache abgelöst, und als das eiserne Tor wieder geschlossen worden war, beorderte der alte Herr selbst die Dienerschaft, die Leichen in eins der unteren Zimmer zu legen, bis sie weggeschafft werden konnten, und das Blut indessen vom Hofe abzuspülen. Zwei von der Mannschaft, zwei Unteroffiziere, hatte Castilla aber zurückbehalten, um sie als Ordonnanzen zu verwenden, und diese eilten wenige Minuten später im Sturmschritt den verschiedenen Orten ihrer Bestimmung zu: der Polizei und der Gendarmerie.

Wie ein Lauffeuer lief indessen das Gerücht durch die Stadt: der Präsident sei ermordet und Santomo zu seinem Nachfolger ausgerufen worden. Woher die Leute nur so plötzlich den Namen wußten! Durch die Calle S. Pedro sprang ein Offizier, ein Oberleutnant, der Kaserne zu. Dort wohnte ein Freund von ihm, der Hauptmann Ternate, und als er dessen Haus in der Calle S. Pedro passierte und die Haustür offen stand, trat er hinein, um diesen abzurufen. Der Hauptmann ging in Schlafrock und Pantoffeln im Hof spazieren.

»Aber, amigo capitan«, rief ihn der andere an, »wissen Sie denn gar nicht, was vorgefallen ist! Man hat den Präsidenten ermordet!«

»Alle Teufel!« sagte der Hauptmann wirklich überrascht, denn als er heute morgen das Palais verließ, war zu dieser Wendung keine Aussicht – »der Präsident ermordet? Von wem?«

»Eine Militärrevolution, wie das Gerücht geht. Ziehen Sie sich nur rasch an, daß wir auf unsere Posten kommen. Außerdem heißt es, Santomo wäre Präsident – aber der Teufel werde daraus klug! Vorher begegnete mir jemand, der behaupten wollte, er habe Castilla an der Spitze einer Schwadron Ulanen eben durch die Stadt galoppieren sehen. Das ist aber jedenfalls ein Irrtum. Eilen Sie sich nur! Ich mache, daß ich hinaus in die Kaserne komme, denn wenn dort revidiert wird, ist es besser, wir sind bei der Hand!«

Er wandte sich eben zum Gehen, als draußen der Schritt einer Patrouille laut wurde. Vor der Tür hielt das kleine Kommando und die Gewehrkolben rasselten auf die Pflastersteine nieder. In demselben Augenblick öffnete sich die Tür, ein Unteroffizier mit vier Mann trat ein, und auf Hauptmann Ternate zugehend, sagte er, die Hand an der Mütze:

»Herr Hauptmann, auf Befehl Seiner Exzellenz, des Präsidenten, bitte ich Sie, mir zu folgen. Sie sind mein Gefangener!«

Der Hauptmann wurde leichenblaß; sein Freund aber, der das für einen Irrtum hielt, rief aus:

»Das ist ja gar nicht möglich, Amigo, und jedenfalls ein Mißverständnis! Lebt denn Präsident Castilla?«

»Allerdings – Gott schütze ihn!« rief der Unteroffizier. »Was aber das Mißverständnis anbetrifft, Herr Oberleutnant, so sind Sie dann vielleicht imstande, es mit aufklären zu helfen. Ich habe ebenfalls Befehl, Sie zu verhaften!«

»Mich? Das ist nicht übel!«

»Jeden, den ich bei Hauptmann Ternate treffen sollte, besonders jeden Offizier«, bestätigte aber der Mann, und daß es ihm ernst war, ließ sich nicht bezweifeln. Hauptmann Ternate hätte auch wohl seinem Freund eine genügende Erklärung dafür geben können, aber er hielt es für zweckmäßiger, zu schweigen, bat nur um ein paar Minuten Geduld, um sich anziehen zu können, und erhielt dann von dem Unteroffizier zwei Mann zur Begleitung in sein Schlafzimmer, während die anderen beiden indessen bei dem Oberleutnant zurückblieben und die beiden Herren nachher auf die Hauptwache führten.

Die Nachricht, daß ein Mordversuch auf den Präsidenten Castilla gemacht worden sei, überraschte die Bewohner von Lima beim Frühstück, und da eigentlich niemand etwas Bestimmtes wußte, so durchliefen die widersprechendsten Gerüchte die Stadt und erschreckten besonders alle Anhänger Castillas oder die wenigstens, denen nur das Leben des jetzigen Präsidenten Stelle und Gehalt sichern konnte.

Morales war eben aufgestanden, als ein Dienstbote mit der Nachricht in das Zimmer stürzte, Castilla sei ermordet worden. Der Schreck schlug dem Herrn dabei so in die Glieder, daß er sich niedersetzen mußte. Aber er sprang gleich wieder auf, denn er wußte ja nicht, wer sein Nachfolger sei und was er von dem zu hoffen haben könnte. – Castilla ermordet, das wäre das wenigste gewesen – ein anderer Präsident brauchte auch wieder Minister –, aber ob er gerade dabei gebraucht wurde, das war die Frage und eine Sache, die Señor Morales besonders stark bezweifelte.

Castilla ermordet! Einer schrie es dem andern auf der Straße zu, und auf dem Theaterplatz, unter den Kolonnaden des Hotels, wo die Obsthändlerin eben ihren Stand aufschlug und dem Mulattenjungen half, die Körbe voll Weintrauben und Chirimoyen vom Maultier zu heben, rief es ein auf einem andern Maultier vorbeigaloppierender Neger dem Jungen zu, und schien dann selber die größte Eile zu haben, um fortzukommen.

»Castilla ermordet!« Oben am Fenster stand Granero, den die Ungeduld an diesem Morgen schon fast verzehrt hatte. Der Streich mußte jetzt gefallen sein, und noch immer konnte er keine Nachricht erhalten und durfte auch seine Burschen nicht danach schicken, denn wenn sein Name in Verbindung mit dem Attentat genannt wurde, war er verloren. Und jetzt – da drüben schrie es der Neger herüber, und die Obsthändlerin ließ vor Schreck ihre Seite des Korbes los, daß die Chirimoyen über die Straße rollten. Es war aber auch kein Spaß, denn sie wußte jetzt nicht einmal, ob sie auspacken sollte oder nicht.

War der Präsident wirklich ermordet worden, dann gab es auch heute in der Stadt eine Revolution, und wer da auch siegte, Obst aßen sie alle, und was frei auf der Straße stand, war dem ersten Pöbelhaufen preisgegeben, der gerade vorbeistürmte.

Granero taumelte oben vom Balkon zurück und schloß die Tür; er mußte sich erst sammeln, so war ihm der freudige Schreck in die Glieder geschlagen – Castilla tot! Jetzt konnte er Rache an seinen Ecuadorianern nehmen; vielleicht wurde in diesem Augenblick schon der Dampfer geheizt, der ihn zurück nach Guayaquil führen sollte. Aber daß noch keine Nachricht von Desterres kam! Wie bestimmt hatte dieser versprochen, ihm auf der Stelle einen Boten zu schicken, sobald der Streich gefallen wäre! Und niemand kam!

Aber zu zweifeln brauchte er wohl nicht mehr daran, denn die Leute riefen es sich ja schon auf der Straße zu, und der kleine Mulatte holte aus einer Schublade eine schon zu diesem Zweck aufgesparte Flasche Champagner vor, verschloß seine Tür und setzte sich seelenvergnügt in seine Hängematte, um sie dort allein zu leeren und seinen höchst angenehmen Gedanken dabei nachzuhängen.

Draußen an seine Balkontür flog etwas an, als ob's ein kleiner Stein gewesen wäre. Er drehte rasch den Kopf danach und horchte; aber alles blieb ruhig, und Granero, sich nicht weiter darum kümmernd, schlürfte das etwas warm gewordene Getränk mit stillem Behagen ein, während er mit den kurzen Beinen zu seinem in Gedanken getrillerten Lieblingsmarsch den Takt auf der staubigen Matte schlug.

Wildes Pferdegestampf wurde jetzt draußen laut, und die eisenbeschlagenen Hufe schlugen das Pflaster in scharfem Trab.

»Was war das?« Granero sprang mit einem Satz aus seiner Hängematte, und Flasche und Glas daneben stellend, flog er nach der Balkontür.

Die Straße herauf kam eine Schwadron Ulanen gesprengt, in voller Rüstung, die Fähnchen flatternd, die Karabiner an der Seite, die Säbel blank gezogen, und voraus, war denn das nicht um Gottes willen – wieder zitterten ihm die Knie, aber dieses Mal nicht vor freudigem Schreck, war denn das nicht Castilla, so gesund und lebenskräftig, wie er ihn je gesehen hatte?

Und das Volk auf der Straße schwenkte die Hüte und jubelte ihm zu und hinter ihm her:

»Viva Castilla! Mueran los traidores!«

Unter seinem Fuß spürte der kleine Expräsident, der sich aber noch nie so »ex« gefühlt hatte, in diesem Augenblick etwas Hartes. Als er unwillkürlich hinuntersah, bemerkte er ein zusammengerolltes Papier, und als er es aufnahm, sah er, daß es ein um einen Stein gewickelter Zettel war.

Mit zitternder Hand wickelte er ihn auf, aber es standen nur, noch dazu mit undeutlicher, offenbar verstellter Hand die Worte darauf: »Alles verloren!«

Er ließ den Zettel fallen, hob ihn aber rasch wieder auf, zündete ein Schwefelholz an und verbrannte ihn. Trotz der kritzlichen Züge kannte er die Handschrift: sie war von Oberst Desterres. Kein Zweifel mehr: der Schlag war mißglückt.

War aber alles verloren, wenn der eine Schlag einmal daneben ging, und konnte er nicht von einer festen und entschlossenen Hand, vielleicht mit mehr Glück wiederholt werden? Er ging mit raschen, unruhigen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, und bittere Flüche, Flüche, so gemein, wie sie kein anderes Volk der Erde kennt, als die unteren Schichten der spanischen Rasse, flossen von seinen sich unaufhörlich bewegenden Lippen.

Und nicht einmal selber handeln konnte er jetzt, wenn er wirklich den Mut dazu gehabt hätte, bis er nicht wenigstens wußte, was verloren und inwieweit ihr ganzer Plan verraten war. Aber dazu war es nötig, den Oberst Desterres selber zu sprechen, und er schickte seinen Burschen Juan deshalb augenblicklich an seinen Verbündeten ab, um ihn womöglich heimlich zu sprechen und zu bitten, gleich in das Hotel zu kommen. Nach einer Stunde etwa kehrte Juan mit einem ziemlich bestürzten Gesicht zurück.

»Nun, hast du den Oberst gesprochen?« fuhr Granero rasch auf ihn ein.

»Ja, Señor, aber . . .«

»Kommt er?«

»Nein, Señor«, stammelte Juan; »hat mir nur gesagt, wenn ich mich noch einmal bei ihm im Hause blicken ließe, würfe er mich die Treppe hinunter oder aus dem Fenster.«

Granero hatte die Arme auf den Rücken gelegt und ging mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab. Vielleicht hatte der Oberst recht, daß er jetzt jede Verbindung mit ihm abbrach, denn wie leicht konnte in diesem Augenblick, wo Hunderte von Spionen tätig waren, etwas Derartiges entdeckt und dann beiden verderblich werden. Aber mußten sie denn nun nicht die weiteren Schritte beraten, und war das überhaupt möglich ohne persönliche Zusammenkunft? Gewiß kam er heute nach Dunkelwerden selber; nur dem Burschen hatte er das nicht anvertrauen wollen. So lange mußte er sich wohl gedulden – heute abend kam er gewiß.

»Juan!«

»Señor?«

»Da, nimm den Champagner mit hinaus; trink ihn, er ist warm geworden.«

»Muchas gracias, Señor.«

»Fort damit, nimm ihn hinaus und das Glas auch; rasch!«

General Granero mochte die Flasche nicht mehr sehen, aus der er heute schon Sieg gefeiert hatte.

*

Rafael hatte an diesem Morgen eigentlich nach Callao fahren wollen, um dort noch wegen der Insulaner Erkundigungen einzuziehen, da Bertrand heute nachmittag in Lima eintreffen und mit ihm zum französischen Konsul gehen wollte. Auf der Reede lag gerade ein französisches Kriegsschiff, und die Gelegenheit war günstig genug, jetzt die eingeleitete Rettung dieser armen, verratenen Menschen durchzuführen.

Um auf den Bahnhof zu gelangen, mußte er aber durch die Straße, in der das Palais des Präsidenten lag, und schon ehe er diese erreichte, fiel ihm die Unruhe auf, die überall herrschte. Noch hatte er freilich keine Ahnung von dem Geschehenen, bis er dicht vor dem Palais war und hier das Ganze rasch aus den Erzählungen der Umstehenden erfuhr. So gern er aber auch den Hof betreten hätte, um die Opfer zu sehen, ging das doch nicht an; das Gittertor war verschlossen und der Eintritt verboten.

Eben wollte er sich abwenden, als Don Gaspar am Tor erschien und Einlaß begehrte. Er brachte eine Depesche von dem Kriegsminister an Seine Exzellenz.

»Sieh da, Rafael; was machst du hier?«

»Ich hätte gern die gefallenen Offiziere gesehen«, sagte der junge Mann, »aber es scheint nicht erlaubt zu sein.«

»Komm nur mit mir hinein, mir müssen sie öffnen. Ich werde dich dann, bis ich fortgehe, dem wachthabenden Offizier übergeben.«

»Wer da?« rief die Schildwache den Offizier an.

»Gut Freund – Depesche für Seine Exzellenz.«

»Von wem?«

»Kriegsminister – selber zu überreichen.«

Der Posten verschwand in der Wachtstube, um seinem Offizier Meldung zu machen, und kam gleich darauf zurück, um den Boten einzulassen. Rafael hielt sich an seiner Seite, und nachdem er dem hier kommandierenden Offizier empfohlen worden war, schritt Don Gaspar dem Palais zu, um an den Präsidenten seine Botschaft auszurichten.

Rafael betrat indessen schaudernd in der Begleitung des Offiziers den Raum, in dem man die Leichen vorläufig untergebracht hatte, bis sie beerdigt werden durften, denn die Gerichte mußten vorher ihre Erlaubnis dazu geben.

Es war ein trauriger Anblick. Sechs junge, frische Leben in der Blüte ihres Daseins weggerafft, so lagen sie dort mit den Todeswunden in ihrem Herzen. Die Soldaten mußten vorzüglich getroffen haben, denn nur einer hatte die Kugel in den Leib bekommen und noch einige Zeit gelebt. Einer war gerade in die Stirn getroffen, die anderen alle in die Brust, manche von zwei Kugeln, und unter ihnen – Rafael erschrak ordentlich, als er das offene, bildschöne Gesicht des jungen Offiziers von gestern wiedererkannte, der Lydia so ähnlich sah und jetzt kalt und bleich, mit der Todeswunde im Herzen, auf den Steinen vor ihm ausgestreckt lag.

»Du lieber Gott«, seufzte er leise vor sich hin, »was da für hoffnungsreiche Leben so mit einem Schlag zerstört und vernichtet wurden! Und was bezweckten diese jungen Leute?« Der Offizier zuckte die Achseln und sagte:

»Das ist eine höchst merkwürdige Geschichte, und bis jetzt liegt sie noch völlig im unklaren; denn kein Mensch weiß eigentlich, was der Zweck des ganzen Unternehmens war. Die Soldaten der Patrouille selber hatten, als sie hierher kamen, keine Ahnung von einem Überfall auf den Präsidenten und gestehen jetzt sogar ein, daß sie nicht einmal wußten, ob ihr eigener Offizier, der hier mit unter den Opfern liegt, darum gewußt oder die angeblichen Überbringer einer Adresse nur vielleicht begleitet habe.«

»War es denn wirklich auf das Leben Castillas abgesehen?«

»Ich glaube kaum«, sagte der Offizier, »denn weshalb kamen die Verschworenen wieder zurück auf den Hof, wo sie den Präsidenten in seinem Haus drinnen rettungslos in ihrer Gewalt hatten? Ich begreife die ganze Sache nicht, und es scheint anderen Leuten ebenso zu gehen.«

Während sie zusammen sprachen, waren sie wieder auf den Hof hinausgetreten, wo ein höherer Offizier draußen am Gitter eben Einlaß verlangte, um Seine Exzellenz zu sprechen. Es war Oberst Desterres, und die Schildwache meldete es ihrem Offizier.

»Ich bedaure sehr, Herr Oberst«, sagte dieser, zu dem Gitter tretend, »aber ich habe strengen Befehl, niemand heute morgen vor Seine Exzellenz zu lassen. Er will vollkommen ungestört sein.«

»Aber er wird uns doch erlauben«, sagte der Oberst leidenschaftlich, »ihm unsere Glückwünsche für die fast wunderbare Rettung seines geheiligten Lebens zu bringen? Er weiß ja doch, wie wir an ihm hängen und wie furchtbar uns schon der Gedanke sein mußte, in Gefahr gewesen zu sein, ihn zu verlieren!«

»Heute nachmittag wird Seine Exzellenz gewiß die Glückwünsche der ihm Treugesinnten entgegennehmen«, sagte der Offizier; »heute morgen kann ich aber nichts weiter tun, als den mir gegebenen Befehlen nachkommen.«

Der Oberst mußte das allerdings einsehen. »Gut, Kamerad, dann tun Sie mir wenigstens den Gefallen und melden Seiner Exzellenz, zu welchem Zweck ich hier war und daß ich für heute nachmittag um einen Augenblick Gehör bitte.«

»Sehr wohl, Herr Oberst, soll pünktlich befolgt werden.«

Der Oberst drehte sich ab und schritt die Straße hinauf der Kaserne zu, und Rafael überdachte indessen noch einmal die heimliche Zusammenkunft des Toten da drinnen und eben dieses Obersten in der englischen Restauration. In welchem Zusammenhang standen die beiden gestern?

»Sonderbar«, sagte der Offizier, als der Oberst sich entfernt hatte, »ob er's nicht weiß oder ob er sich nicht daran kehrt, daß auch ein Neffe von ihm da drinnen bei den Toten liegt?«

»Ein Neffe – welcher?«

»Der junge hübsche Bursche links; der erste in der Reihe.«

»Das war sein Neffe?«

»Ja, und es hieß, daß er sehr viel auf ihn hielt. Aber da draußen hör' ich die Ulanen angaloppiert kommen, und dann wird auch der Präsident gleich hier sein. Lieber wär's mir, wenn Sie Ihren Freund vor dem Gitter erwarteten, ich bekomme sonst am Ende eine Nase.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Die Schildwache öffnete rasch das Tor, und Rafael hatte es kaum verlassen, als die berittene Eskorte Castillas, die Hälfte von ihnen Neger und wilde entschlossene Gestalten, mit donnernden Hufschlägen vor den Palast sprengte und hier Front machte. Das Pferd des Präsidenten wurde zu gleicher Zeit vorgeführt, und wenige Minuten später erschien er selbst in voller Generalsuniform, um durch die Stadt zu reiten und durch sein eigenes Erscheinen die Bewohner von Lima zu beruhigen.

Als er den Fuß in den Steigbügel hob, trat der Offizier zu ihm heran und begann die Meldung, die Oberst Desterres für Seine Exzellenz hinterlassen hatte. Der Präsident ließ ihn aber gar nicht ausreden. Als er den ungefähren Sinn verstanden, winkte er mit der Hand und rief:

»Schon gut, schon gut; sie sollen mich jetzt ungeschoren lassen, besonders – ich will nichts wissen! Sie sollen warten, bis ich sie rufen lasse!«

Damit schwang er sich gewandt und rüstig in den Sattel, und wenige Sekunden später flog er an der Spitze der kleinen, etwa aus dreißig Mann mit zwei Trompetern bestehenden Eskorte wie ein eisernes Wetter die Straße hinab.

 


 << zurück weiter >>