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Die Schuld war bezahlt, er konnte Schauspieler werden – nur die Krankheit stand noch zwischen ihm und seinem Ziele. Selten hatte der Arzt einen so tapferen, heiteren, fügsamen Patienten gehabt, wie es Sender jetzt war, aber selten auch einen, der den gütigen Mann so oft zu seinem barschen Ton gezwungen. Dieser Gegensatz zwischen dem rührenden Glauben des Kranken und der herben Wirklichkeit ergriff ihn immer wieder tief.
Die anderen aber freuten sich nur über die Wandlung und schöpften neue Hoffnung, auch der Pater und der Marschallik. Sollten sie dem Arzte mehr glauben, als ihren eigenen Augen? Sender wurde ja zusehends wieder kräftiger, das Gesicht war leicht gerötet, die Augen glänzten, auch der Husten hatte fast ganz aufgehört; freilich wurde der Atem kürzer, aber auch das gab sich wohl. Vor allem aber täuschten sie sein Mut, sein Selbstvertrauen über seinen Zustand hinweg.
Nun war alles anders als früher; jeder Besuch freute ihn, mit den Freunden sprach er auch von seinen Plänen; nur kurz freilich, schon weil ihm der Arzt vieles Reden untersagt, aber aus jedem Wort klang felsenfeste Zuversicht. Frau Rosel empfand dies jedesmal als einen rechten Stich ins Herz, aber sie schwieg, ihre Zusage wollte sie halten. Auch las er nun wieder eifrig, und als er zum ersten Male das Bett verlassen konnte, schrieb er einen langen Brief an Nadler, worin er erzählte, wie es sich mit ihm gefügt, daß er nun auf dem Wege zur Genesung sei und bitte, ihn nicht zurückzuweisen, wenn er sich – hoffentlich bald – zum Antritt seines Engagements melde. Der Direktor erwiderte umgehend aus Lemberg: Sender werde ihm immer willkommen sein, und nun könne er ihm auch bessere Vorbilder bieten als in Czernowitz, er sei zum Direktor des Lemberger deutschen Theaters ernannt worden und übernehme im Herbst die Leitung.
Sender war selig; jeder der Freunde mußte den Brief lesen. »Bis zum Herbst bin ich ja längst gesund«, sagte er. »Der Herr Doktor hat es mir ja versprochen.«
In der Tat hatte der Arzt zum mindesten nicht widersprochen, als Sender um Antwort gedrängt und sie sich dann selbst gegeben. »Im Herbst wollen wir dann weiter lügen«, dachte er mitleidsvoll, »wenn es noch nötig sein sollte –« Laut aber sagte er: »Natürlich müssen Sie vorher nach Delatyn zur Molkenkur!« Heilung konnte sie Sender nicht mehr bringen, aber Erleichterung der Atemnot.
Der Kranke war es zufrieden; auf Mitte Juni war die Abreise festgesetzt. Aber nun erhob sich die Schwierigkeit, wer ihn begleiten sollte, denn der Arzt bestand darauf, daß er nicht allein gehe. Frau Rosel konnte von ihrem Posten nicht abkommen, auch hatte sie die Todesangst während Senders Flucht nicht recht verwunden und war in den letzten Monaten sehr gebrechlich geworden. Jütte? Sie selbst wäre freilich auch dazu bereit gewesen, aber das verbot die Sitte. Auch Sender sah dies seufzend ein, sonst hätte er sich keine bessere Gesellschaft zu wünschen gewußt. Das Mädchen war ihm durch seine selbstlose Güte sehr teuer geworden, er liebte sie so recht wie eine Schwester.
»Nüssele«, sagte er ihr einmal, »was hast du für ein golden Herz!« Seit den Tagen seiner Krankheit duzten sie sich. »Darum verstehst und begreifst du auch alles – nur durchs Herz. Ich denk' mir nur immer: wo nehmen wir einen Mann für dich her, der dich wert ist!«
Ihr war sehr weh, als er so sprach, aber sie bezwang sich.
»So ein Mensch ist eben noch gar nicht geboren«, erwiderte sie, »und darum muß ich ledig bleiben.«
»Behüte!« erwiderte er lächelnd. »Er ist schon unterwegs. Wenn er kommt und ich bin nicht mehr da, dann will ich bei der Hochzeit nicht fehlen, und wenn ich aus Berlin oder Hamburg herreisen müßte. Mit einer großen Kiste voll Geschenken komm' ich dann gefahren, Nüssele, und schau' mir den glücklichen Menschen an, der das beste Weib auf der Erde bekommt.«
Da wandte sie sich ab und ging rasch hinaus; ihre Kräfte drohten sie zu verlassen. Außer dem Arzte wußte wohl sie am besten, wie es um Sender stand; auch dies hatte ihr das Herz gesagt, das Herz, das ihn liebte.
Schon war beschlossen, daß ein gemieteter Wärter Sender begleiten sollte, als das Schicksal für einen besseren Pfleger sorgte.
Als Sender eines Nachmittags mit dem Marschallik auf dem Bänkchen vor dem Hause saß, unter dem Lindenbaum, fuhr der Alte plötzlich auf und rief, auf die Straße deutend: »Da ist ja der kleine, jüdische Spieler aus Borszczow.«
Sender blickte auf, auch er erkannte Können sofort. Langsamen Schrittes, das Haupt gebeugt, kam der Kleine, ein Ränzelchen auf dem Röcken, dahergegangen. Als er Sender gewahrte, blieb er wie starr vor freudigem Schrecken stehen und eilte dann auf ihn zu.
»Also Sie leben!« rief er und faßte nach seiner Hand. »Sie leben!«
»Natürlich«, erwiderte Sender. »Nicht mein Geist. Fühlen Sie nur, Fleisch und Blut, wenn auch noch etwas wenig. Hat man mich tot gesagt?«
»Gottlob!« rief der Kleine, ohne auf die Frage zu antworten, dann begrüßte er auch den Marschallik. der ihm freundlich die Hand drückte. Ohne seine Hilfe hätte er Sender in Borszczow kaum von Stickler losgebracht; der Direktor hatte fünfzig Gulden Entschädigung verlangt und sich schließlich nur auf Könnens Vorstellung mit fünfzehn begnügt.
»Kommen Sie als Quartiermacher?« fragte er. »Ich fürcht', in Barnow werden Sie keine guten Geschäfte machen.«
Der Kleine schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Schauspieler mehr«, sagte er düster. Und nun erst sah Sender, daß ihm ein Wald schwarzer Stoppeln im Gesicht wucherte.
»Und die Gesellschaft?«
»Aufgelöst«, erwiderte Können und um seinen Mund zuckte es schmerzlich. Dann setzte er zum Reden an, blickte auf den Marschallik und verstummte wieder.
Der Alte verstand den Blick und ließ die beiden allein.
»Es freut mich, daß Sie sich endlich losgemacht haben«, sagte Sender. »Es war hohe Zeit...«
»Das war's«, erwiderte Können, »aber ich habe mich nicht losgemacht...« Er blickte zu Boden, seine Lippen bebten. »Ich hätte es nie gekonnt... Sie ist...«
»Tot?!« rief Sender bewegt. Wie immer sie sonst gewesen, ihm hatte sie Teilnahme erwiesen. »Wie schade! Ein solches Talent! Aber sie war ja noch so jung und ein blühendes Geschöpf.« Da erinnerte er sich ihres gellenden Lachens, ihrer verzweifelten Reden. »Hat sie sich etwa selbst...?«
Können nickte, sprechen konnte er nicht. »Sie hat sich vergiftet«, stieß er endlich hervor. Aber es währte lange, bis er erzählen konnte: »Sie wissen wohl noch, Birk hat einst viel für sie getan und sie es ihm übel gelohnt. Sie hat ihn zuerst betrogen, dann sich ganz von ihm losgesagt. Er hat nie ein Wort darüber gesprochen, vielleicht habe nur ich gewußt, daß dies das schmerzlichste war, was den Unglücklichen in seinen letzten Jahren getroffen hat; seit dem Bruch mit der Schönau ist es immer rascher mit ihm abwärts gegangen. Und er war dazu verdammt, sie täglich zu sehen, er hat auch dies ertragen müssen, nur daß er außer der Bühne nie ein Wort mit ihr gesprochen hat. Um Mitte Mai – wir waren eben in Kolomea – sagt er mir einmal vor der Vorstellung der Räuber: ›Ich fürchte, heut' bring' ich's nicht zu Ende!‹ Und richtig, gleich in der ersten Szene – er hat den alten Moor gespielt und Hoheneichen erzählt eben von Karls Verworfenheit, stöhnt er bei den Worten: ›Mein, mein ist die Schuld!‹ auf und greift sich an die Stirne und sinkt zurück und röchelt leise. Und das war so schauerlich, daß eine Bewegung durchs Publikum gegangen ist und alle gesagt haben: ›Großartig!‹ Und Hoheneichen merkt auch nichts und spricht weiter, aber auf das nächste Stichwort ist Birk nicht mehr eingefallen. Es war ein Nervenschlag...«
»Entsetzlich«, murmelte Sender.
»Für ihn war's eine Erlösung«, fuhr Können fort, »nur daß er nicht gleich tot war. Drei Tage ist er dagelegen und hat geröchelt und Worte gelallt, die ich nicht verstanden habe. Denn ich habe ihn gepflegt und war sehr betrübt, denn er hat mich nie gehöhnt. Aber das war in jenen Tagen nicht mein größter Schmerz, sondern« – er stockte – »aber warum sollt' ich's Ihnen nicht sagen, da es gottlob nicht wahr war? – Der Souffleur von Nadlers Gesellschaft, der mein Freund ist, hat mir geschrieben, Sie liegen im Sterben... Also, am dritten Tage, wie ich eben bei ihm bin und sehe, es geht zu Ende, klopfte es an die Tür, ich blicke hinaus: die Schönau. Sie hat entsetzlich ausgesehen. ›Mein Gewissen läßt mir keine Ruhe‹, sagt sie, ›vielleicht verzeiht er mir vor dem Tode!‹ Und obwohl ich abmahne, tritt sie ein. Da zuckt es in seinem Gesicht, er sucht die Hand zu heben. ›Weg!‹ ruft er. – ›Ferdinand!‹ schluchzt sie und wirft sich vor seinem Bett nieder. Da richtet er sich plötzlich auf und lallt: ›Weg! Dirne! Mörderin!‹ Und sinkt zurück und stirbt, und noch im Tod war auf seinem Gesicht der Abscheu und der Zorn...«
Er atmete tief auf und fuhr fort: »Drei Tage ist sie still herumgegangen, aber mit einem Gesicht – uns allen hat nichts Gutes geahnt. Da bekommt der Stickler Furcht und bittet einige Edelleute, daß sie sie zu einem Souper einladen. Und sie sagt zu. ›Genug gejammert‹, lacht sie, ›es holt uns doch alle der Teufel!‹ Aber wie das Souper beginnen soll, kommt sie nicht. Und wie einer auf ihr Zimmer geht, sie zu holen – – –«
»Sie war sogleich tot?« fragte Sender.
Können nickte. »Blausäure, sie kann nicht gelitten haben.« Wieder schöpfte er tief Atem. »Von mir will ich nicht reden... Nach dem Begräbnis habe ich dem Stickler gesagt: ›Nun geh' auch ich.‹ Und obwohl er mich nun plötzlich wieder ›du‹ genannt hat, der Lump, bin ich fest geblieben. Mit den drei anderen hat er nicht fortspielen können – und ohne solche Zettel! – so hat sich die Gesellschaft aufgelöst. Sie suchen nun einzeln ein anderes Engagement, nur die Linden nicht, die wird Putzmacherin in Czernowitz.«
»Und was haben Sie vor?« fragte Sender.
»Ich hoffe, der Herr Doktor Bernhard Salmenfeld hier nimmt mich in seine Kanzlei. Ist bei ihm keine Stelle frei, so versuch' ich's anderswo. Um mich ist mir nicht bange.«
»Mir auch nicht«, sagte Sender. »Und ich wüsche Ihnen Glück, daß – verzeihen Sie, Sie haben's selbst so genannt – der Wahnsinn zu Ende ist.«
Können schüttelte den Kopf.
»Der Schauspielerwahnsinn, da haben Sie recht. Aber das andere...«
Er wandte sich ab, dann griff er nach Stock und Ränzel und ging mit stummem Gruß der Stadt zu.
Salmenfeld wollte den Mann, den er als verläßlich kannte, gern behalten, mußte aber erst seinem Sollizitator kündigen. So war Können für die nächste Zeit frei und gern bereit, Sender nach Delatyn zu begleiten. Frau Rosel war freilich etwas besorgt: ein Fremder und ein einstiger »Spieler« dazu! Aber ihr Mißtrauen war unbegründet, treuer als er hing selbst Moskal nicht an seinem Herrn.
Ehe sie die Reise antraten, suchte Sender zum ersten Mal die Gräber seiner Eltern auf. Rabbi Manasse hatte einst den Fremden die Ruhestätte an der Friedhofmauer angewiesen, wo die Ärmsten gebettet werden, aber die Gräber fand Sender wohlgepflegt; auch für zwei stattliche Grabsteine hatte Frau Rosel gesorgt. Lange saß er auf dem Grabhügel seines Vaters, der von dem der Mutter nur durch einen schmalen Raum getrennt war, der eben noch knapp für eine Grabstätte reichte. »Ich war im Leben nicht bei ihnen«, dachte er, »im Tode will ich es sein, wohin immer mich mein Weg führt. Hier wird sich's einst nach langer, hoffentlich segensreicher Arbeit am besten ruhen.« Und er bat noch selben Abends den Marschallik, ihm bei der Gemeinde das Grab zu sichern. »Ich fühl's«, sagte er, »ich werde lange leben. Wer weiß, wie überfüllt dann der Friedhof ist. Es soll sich nichts Fremdes zwischen uns drängen.« Der Alte konnte ihm schon am nächsten Tage die Bestätigung der Gemeinde bringen.
Der Flecken Delatyn liegt in den Karpathen, etwa zwölf Meilen von Barnow; er wird seiner würzigen Tannenluft sowie der kräftigen Molke wegen viel von Lungenkranken aufgesucht. Dort verbrachte Sender mit seinem treuen Können sechs stille, schöne Wochen. Sie suchten niemandes Bekanntschaft; die Gesellschaft des Kleinen genügte Sender vollständig; er konnte ja mit ihm vom Theater sprechen! Dazu die Bücher, die schöne Natur, die Hoffnung, schon in zwei Monaten nach Lemberg zu gehen – er fühlte sich glücklich, fast wunschlos.
Auch mit seiner Gesundheit ging es immer besser. Zwar die Schwäche wollte nicht weichen, aber aus dem Spiegel blickte ihm ein volleres Gesicht entgegen und das Atmen ging leichter. Selbst der Arzt war einen Augenblick freudig überrascht, als Sender sich nach seiner Rückkunft bei ihm meldete. Aber die Freude verflog, als er das Hörrohr an die Brust des Kranken legte. Dennoch widersprach er nicht, als dieser fragte: »Nicht war, im September darf ich nach Lemberg?« Wohl aber beriet er mit Salmenfeld. »Da muß wieder einmal Ihre Bekanntschaft mit Nadler aushelfen«, sagte er ihm. »Er muß ihn durch irgend einen Vorwand auf den Frühling vertrösten. Spätestens im November ist der arme Junge erlöst.«
Der Direktor beeilte sich, dem Wunsche Salmenfelds zu entsprechen, nur machte er diesmal seine Sache trotz besten Willens nicht eben geschickt. Er bat Sender, sich bis zum April zu gedulden, weil in den ersten Wochen der Wintersaison eine ganze Reihe von Gastspielen stattfinde, zuerst komme Dawison, dann die Rettich, La Roche und Fichtner. Nun bedürfe ein Anfänger der steten Anleitung, gerade die ersten Wochen seien oft geradezu entscheidend für die ganze Künstlerlaufbahn, und da werde er sich ihm ja der Gastspiele wegen nicht widmen können.
Dieser Grund leuchtete Sender nicht ganz ein; da er jedoch gewohnt war, jede Weisung Nadlers wie einen Orakelspruch hinzunehmen, so ließ er ihn gelten und machte sich sogar keine Gedanken darüber. »Es ist mir also vorbestimmt«, dachte er, »mein Engagement im Frühling anzutreten, allerdings ein Jahr später. Aber Nadler hat sicherlich wohl überlegt, daß die Verzögerung der geringere Schade ist.« Hingegen erregte der Name Dawison stürmische Sehnsucht in seinem Herzen. Der berühmteste deutsche Schauspieler seiner Zeit, desselben Stammes wie er, der einst freundliche Teilnahme für sein Schicksal gezeigt, in Lemberg – und er sollte ihn nicht sehen! Dawison hatte im Dezember vorigen Jahres – das wußte er – sein Engagement am Burgtheater gelöst und gastierte nun, es hieß, er wolle nach Amerika gehen – wie, wenn sich die Gelegenheit nie wieder fand! Und als er in dem Wiener Blatte, das ihn Salmenfeld lesen ließ, die Nachricht fand, daß der Künstler außer dem Mephisto und Richard III. auch den Shylock spielen werde, erklärte er der Pflegemutter den Entschluß, nach Lemberg zu gehen. Sie widersprach heftig, noch immer täuschte sie sich ja über seinen Zustand, nun wollte er ernstlich zur Bühne, sie durfte es nicht dulden. Der Widerstand nützte ihr nichts, umsomehr da auch der Arzt keine Einwendung hatte. »Warum sollte ich dem Ärmsten nicht noch diese Freude gönnen?« sagte er zu Salmenfeld. »Nur muß freilich Können mit.« Und so geschah's.
In den letzten Septembertagen sollte das Gastspiel stattfinden, schon acht Tage früher brachen die beiden auf, um die vier Tagereisen bequem zurückzulegen. Sender war selig – welcher Genuß harrte seiner! Und das Wetter war warm und sonnig, das Wägelchen bequem, Nadler war verständigt und hatte seine Freude ausgedrückt, ihn wiederzusehen – die Freunde hatten eben für alles gesorgt; im Kofferchen lag sogar ein feiner, schwarzer Anzug, damit er sich dem Künstler würdig vorstellen könne. Wenn ihn Können in diesen ersten Stunden ansah, hätte er kaum glauben mögen, daß es ein Todkranker war, neben dem er saß. Aber bald machten sich die Folgen der Anstrengung fühlbar, der Ärmste rang nach Luft, und die rüttelnde Bewegung bereitete ihm so große Schmerzen, daß er trotz aller Selbstbeherrschung leise stöhnen mußte. Erschreckt ließ Können schon im nächsten Flecken halten; statt desselben Tages gelangten sie erst am nächsten nach Buczacz, der Stadt seiner Knabenstreiche, die er einst so plötzlich hatte verlassen müssen, und mußten hier einen vollen Tag rasten. In der Folge ging es ähnlich, ja schlimmer. Die beiden ersten Gastvorstellungen waren nun versäumt, sie langten erst am Vorabend der letzten Vorstellung in Lemberg an.
Sender war betrübt, aber nicht verzweifelt. »Der Shylock soll ja seine bedeutendste Rolle sein«, sagte er, »das Beste entgeht mir also doch nicht.« Noch mehr, er gewann seinem Ungemach sogar eine gute Seite ab. »Ich bin doch noch nicht so ganz hergestellt, wie ich geglaubt habe; vielleicht hätte mich das Spielen jetzt noch zu sehr angegriffen; im April, nach einem ruhigen Winter, wird's mir weit besser gehen.«
Am nächsten Tage suchten sie Nadler in der Direktionskanzlei auf. Der weichherzige Mann hatte Mühe, seine tiefe Erschütterung über Senders Aussehen zu verbergen. Doch faßte er sich rasch, hieß ihn herzlich willkommen und gewann es sogar über sich, ihm von Rollen zu sprechen, die er ihm im nächsten Frühling zuteilen wolle. Für den Abend lud er die beiden in seine Loge, am nächsten Nachmittag versprach er, Sender Dawison vorzustellen. Mühsam atmend, aber mit stolzen, leuchtenden Augen kehrte Sender, auf Könnens Arm gestützt, ins Hotel zurück.
Am Nachmittag machte der Direktor den beiden einen Gegenbesuch. Sender ruhte, nur Können empfing ihn. Nadler ließ sich von ihm eingehend berichten, auch von jener Probe in Zaleszczyki. Als er ihm Birks Urteil erzählte, rief Nadler schmerzvoll: »Und Birk hatte einen untrüglichen Instinkt wie jedes großes Talent. Ich werde nie aufhören, mir Vorwürfe zu machen, daß ich ihn nicht damals sofort mitgenommen habe!«
Können wollte ihn unterbrechen.
»Ich weiß, was sich zu meiner Entschuldigung vorbringen läßt«, sagte er, »aber mich drückt's doch. Es ist ja traurig genug, wenn ein Talent durch eigene Schuld zugrunde geht wie Birk. Und nun erst dieser Sender! Warum muß er sterben? Sein Verbrechen ist, daß er deutsche Bücher nirgendwo anders fand als in der ungeheizten Bibliothek des Barnower Klosters.«
Schon lange vor Beginn der Vorstellung waren die beiden in der Loge. Klopfenden Herzens musterte Sender das stattliche Haus, das sich eben füllte. Die Stätte seines einstigen Wirkens! Dann dachte er an nichts als die Freude, die heute seiner harrte. So andachtsvoll mag selten jemand einer Vorstellung gelauscht haben wie der arme, blasse Mensch, der die Nebensitzenden zuweilen durch sein Husten störte. Als sich der Vorhang zur ersten Shylockszene hob, ergriff er unwillkürlich Könnens Hand, ihn schwindelte, er ertrug die Spannung kaum.
Da – ein stürmisches Klatschen, daß das Haus dröhnte – da war Dawison.
Vorgebeugt, schwer atmend saß Sender da, die Maske zwar verwunderte ihn nur: er hätte nie gedacht, daß Shylock so alt und häßlich aussehen müsse, aber die Sprechweise, das Spiel ließen ihn sofort erkennen, daß diese Auffassung eine ganz einheitliche sei. Welche Bewegungen, welche Stimme – ihr umflorter, nervöser Klang, in welchem der unterdrückte Haß zitterte, ging ihm durch Mark und Bein. Bei der Rede: »Signor Antonio, viel und oftermals« und so weiter feuchteten sich seine Augen. ›Und ich war auf mein Deklamieren stolz!‹ dachte er. Die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und die Freude, einen solchen Künstler zu hören, ergriffen ihn gleichermaßen. Ähnliches empfand er bei den folgenden Szenen, aber die tiefste Bewegung überkam ihn während der Eingangsszene des dritten Aktes. »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?« Das war kein Schauspieler mehr, sondern ein armer, unseliger Mensch, der lange seine und der Brüder Jammer verschlossen in sich getragen, der klaglos geduldet und nun plötzlich Worte fand für sein furchtbares Weh. Über Senders Antlitz rannen die Tränen nieder; als am Schlusse der Szene donnernder Beifall losbrach, saß er regungslos, aber seine Lippen murmelten: »Mein Gott und Herr, ich danke dir!«
Gleich mächtig vermochte nichts mehr auf ihn zu wirken, und in der Gerichtszene, wo Dawison den Blutdurst durch die grellsten Mittel verbildlichte – er wetzte sogar das Messer an der Sohle – ertappte er sich sogar auf dem Gedanken: »Ist das nötig?« Gleichwohl war er auch hier voll der wärmsten Bewunderung, und als der Vorhang des vierten Akts gefallen war, erhob er sich.
»Kommen Sie«, flüsterte er Können zu.
»Sind Sie nicht wohl?« fragte dieser besorgt.
Sender schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Aber aus diesem Künstler hat mich Gottes Odem angeweht, die anderen sind nur Menschen.«
In dieser Nacht schloß Sender kein Auge. Neben dem Jubel, daß ihm solches zu sehen vergönnt gewesen, erfüllte ihn auch kleinmütiges Verzagen an der eigenen Begabung. Aber dann kam ihm der Trost: »An Talent mag er mich hundertfach übertreffen, an Begeisterung nicht. Wenn auch kein großer Künstler aus mir wird, so doch gewiß ein ehrlicher.« Und dieser Gedanke beruhigte ihn so, daß er im Morgengrauen endlich den Schlaf fand.
Am Nachmittag holte ihn Nadler zu Dawison ab; er wohnte in einem Hotel dicht neben dem Senders. Der Direktor hatte ihn wohl vorbereitet; der Künstler wußte, daß er einem Todgeweihten die letzte große Freude seines Lebens bereiten konnte, und empfing ihn darum mit größter Herzlichkeit.
»Unsere Schicksale sind einander so ähnlich«, sagte er. »Kampf mit der Armut und dem Vorurteil! Freilich habe ich das Polnische in einer Schule erlernen können, aber mein Sequestrator, für den ich Akten rein schrieb, wird nicht viel anders gewesen sein, als Ihr Winkelschreiber. Und das Deutsche habe ich auch als Schreiber in der Redaktion der ›Gazeta‹ aus eigener Kraft erlernen müssen. Und es ist doch gegangen! Ich hoffe, das wird Ihnen trostreich sein, lieber Kollege.«
Sender vermochte nichts zu erwidern, er sah nur immer in das scharfgeschnittene, bewegliche Antlitz. Er, Sender, der Pojaz, war bei Bogumil Dawison und der nannte ihn seinen Kollegen. Es dünkte ihm wie ein Traum.
Dawison sprach dann von seiner Lemberger Zeit, wie er durch Laubes Fürsprache ans Burgtheater gekommen und schließlich auch durch diesen verdrängt worden. »Aber das kann Sie nicht irre machen«, fuhr er dann hastig fort. »Natürlich hat das Künstlerleben auch seine Schattenseiten. Und dennoch: wer dazu berufen und auserwählt ist, sollte mit keinem König tauschen wollen!«
Sender nickte, seine Augen glänzten, Worte fand er nicht, kaum daß er zum Schluß seinen Dank stammeln konnte. Auch von Nadler nahm er zur selben Stunde Abschied.
»Ich weiß«, sagte er. »Sie würden mir noch für einige Vorstellungen den Besuch erlauben, aber mir ist's, als hätte ich in die Sonne gesehen; darauf kann man lange nichts anderes unterscheiden. Auch muß ich mich ja nun recht schonen, um im nächsten Frühling zur Stelle zu sein. Kann ich vielleicht – aber Sie dürfen nicht böse sein – erst Ende April kommen, weil dann schon das Wetter verläßlicher ist?«
Nadler nickte nur, sprechen konnte er nicht.
Erst am zweitnächsten Morgen reisten die beiden ab. Können hatte auf dieser Rast nach den Aufregungen bestanden. Gleichwohl faßte ihn auf der Rückreise oft die Angst, daß sein Pflegling am Wege sterben werde. Aber es ging doch, und noch mehr: ahnungslos, wie er abgereist, kam Sender wieder. »Ich bin schwach«, sagte er dem Arzt, »das ist doch nach einer solchen Reise nur natürlich!«
Darum blieb er auch am nächsten Morgen geduldig im Bette. Er war schmerzloser, als seit lange, und griff nach den Büchern, die ihm Salmenfeld geliehen. Und da traf er auf das Zitat: »Jung stirbt, wen die Götter lieben.«
Kurz darauf kam Pater Marian zu ihm. Sender erzählte von den Freuden, die ihm die Reise nach Lemberg gebracht, dann sagte er: »Sie haben mich so oft belehrt, tun Sie es auch heute! Diesen Satz hier kann ich nicht verstehen.« Er deutete auf die Stelle.
»Er hat einen guten Sinn«, sagte der Pater mit zitternder Stimme. Und er sprach von den Enttäuschungen, der Gebrechlichkeit des Alters. »Wer jung stirbt, hat das Höchste doch schon genossen, was das Leben bietet, das Streben nach hohen Zielen.«
Sender nickte. »Gewiß! Wenn man mir sagen würde: ›Streiche das Streben aus deinem Leben, und du wirst hundert Jahre alt‹, ich würde antworten: ›Dann will ich lieber heute sterben.‹ Mein Leben war ja bisher so schön, so schön! Sogar meine Liebe danke ich meinem Streben. Sie hat mir viel Schmerz gebracht, denken Sie vielleicht. O diese Nacht, wo ich geglaubt habe, daß sie mich liebt, wiegt alles auf... Und meine Kunst – nun beginnt ja erst mein Leben. Gott läßt mich genesen, ich kann heute so leicht atmen, wie seit lange, sehr lange nicht.«
Pater Marian ahnte, was das bedeutete, und der Arzt, der eintrat, bestätigte seine Vermutung. Nach einer Stunde waren alle, die ihn liebten, in der Stube versammelt. Sie mühten sich, ihr Schluchzen zurückzuhalten, aber er hörte sie nicht mehr. Das Bewußtsein war geschwunden, er phantasierte.
Aus den leisen Worten, die zuweilen von seinen Lippen fielen, konnten sie entnehmen, daß ihn heitere Bilder umgaukelten.
»O, er ist ein großer Künstler... ich danke Ihnen, Herr Dawison... Danke... Danke...« Dann spielte er selbst den Shylock. »Wenn Ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn Ihr...« Er suchte das Haupt aus den Kissen zu heben, seinen Mund umspielte ein seliges Lächeln. Nun verneigte er sich wohl vor dem Publikum...
Nur einmal noch öffnete er die Augen, und diesmal schien es Jütte, die seinem Bette zunächst stand, als glimme ein Strahl des Bewußtseins in ihnen. Aber das Lächeln schwand deshalb nicht von seinen Lippen.
»Mein Leben«, hauchte er. »So schön... so schön...«
Das waren seine letztere Worte.