Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Zehntes Kapitel

Jossele Alpenroth, sonst ein sanftes, stilles Männchen, empfing ihn heute sehr mürrisch.

»Es ist drei Uhr«, sagte er, »du hältst die Arbeitsstunde nicht ein. Auch sonst kann ich unmöglich mit dir zufrieden sein, endlich muß ich es dir doch sagen. Wenn das nicht besser wird, so kannst du gehen.«

Das hätte sich Sender sonst wahrlich nicht zu Herzen genommen, das Handwerk war ihm ja in der Tat sehr gleichgültig. Heute traf es ihn hart. Denn weil er bei Jossele weder Kost noch Wohnung hatte, so hatte er sich eben vorgenommen, den Meister um einen kleinen Lohn zu bitten. Nur so konnte es ihm ja möglich werden, die Namenstage seines alten Freundes würdig zu feiern. Nun fand er natürlich nicht den Mut, die Bitte auszusprechen.

Betrübt kam er des Abends heim. Es fiel ihm schwer, aber er mußte nun, wohl oder übel, die Mutter darum ersuchen.

Frau Rosel hörte ihn nach ihrer Gewohnheit schweigend an, und fragte dann kurz: »Wozu?«

»Nun«, meinte Sender verlegen«, ich bin ja kein Kind mehr. Ein erwachsener Mensch fühlt sich ja wie ein Toter, wenn er so ohne Geld herumgeht.«

»Warum verdienst du es nicht?«

»Aber ich bin ja noch Lehrling.«

»Warum heiratest du nicht?«

»Hei–ra–ten!«

Sender war ebenso erstaunt wie erschreckt.

»Ja, heiraten!« wiederholte die Frau nachdrücklich. »Glückliche Eltern, die das Geld dazu haben, können schon früh das gottgefällige Werk tun und ihre Söhne im fünfzehnten, sechzehnten Jahre verheiraten. Mir ist dies Glück, dies Verdienst vor Gott nicht beschieden gewesen. Aber nun bist du über zwanzig Jahr' alt – es ist die höchste Zeit, daran zu denken!«

»Nein!« rief er heftig.

»Wie?« schrie sie auf.

»Um Gotteswillen, Mutter, nein!« fuhr er flehentlich fort und erhob abwehrend die Hände – an diese Gefahr für seine Pläne hatte er noch gar nicht gedacht!

»Willst du gar nicht heiraten?«

»Nein!«

»Niemals?!« schrie sie abermals gellend auf.

»Niemals!« erwiderte er ebenso laut, fast sinnlos vor Erregung.

»Warum?« stieß sie heiser hervor. »Aber was frage ich noch!« fuhr sie murmelnd fort. »Ich weiß es ja!«

Ihre Stimme brach sich, die Tränen stürzten ihr plötzlich über die Wangen und sie begann krampfhaft zu schluchzen.

Das war etwas so Ungewohntes, so Unerhörtes an dieser Frau, daß es dem Jüngling ins tiefste Herz griff.

»Um Gotteswillen!« rief er flehend. »Beruhige dich doch! Niemals – ich habe es ja nur so gesagt – warum sollt' ich niemals heiraten?! Ich meine nur – jetzt – jetzt könnt' ich an alles andere eher denken! Ich hab' ja noch nichts, ich bin ja noch nichts, wie sollt' ich ein Weib ernähren?!«

Er mußte lange fortfahren, bis sie sich wieder gefaßt hatte.

»Ist es nur dies?« fragte sie endlich und blickte ihn scharf an.

Er nahm sich zusammen und hielt den Blick aus.

»Ja!«

»Dafür kann Rat werden!« entschied sie. »Du wirst bald dein Brot verdienen. Und bis dahin kannst du ja von dem leben, was die Mitgift deiner Frau trägt oder auch von der Mitgift selbst, das ist auch noch durchaus kein Unglück, kein Leichtsinn. Die meisten heiraten so und es geht gut aus! Also nächster Tage werde ich mit Itzig Türkischgelb reden.«

Das war der geschickteste Heiratsvermittler von Barnow.

Sender seufzte tief auf.

»Nächster Tage« wiederholte Frau Rosel und strich mit der flachen Hand über die Tischdecke.

Sender kannte die Bedeutung dieser Bewegung: die Sache war abgemacht.

Es konnte ihn wenig trösten, daß er nun auch das erbetene Geld erhielt mit dem Versprechen, daß es ihm wöchentlich regelmäßig zukommen werde bis zur Vermählung.

»Hoffentlich noch in diesem Winter«, schloß die Frau.

Sender schlief in jener Nacht etwas später ein als sonst, aber wer so jung ist und so fest an sich selbst glaubt, bringt seine Sorgen leicht zur Ruhe. Bis auf weiteres genügte ihm die Möglichkeit, in der Klosterbibliothek »Weisheit« zu erwerben, und was die angedrohte Braut betraf, so konnte er sich wohl über die Entschlossenheit seiner Mutter keiner Täuschung hingeben, »aber« – dachte er – »ohne mich kann's doch eigentlich auch nicht geschehen und obendrein brauche ja nicht bloß ich mich zu entscheiden, sondern auch die Eltern der Braut können ›Nein!‹ sagen. Ich kann ja auch etwas dazu tun – umsonst heißen sie mich nicht den ›Pojaz‹!«

Seine Pflegemutter aber fand auch der grauende Morgen noch wach. »Er hat vielleicht zuletzt nicht gelogen«, dachte sie, »aber die Sache ist nicht leicht zu nehmen. Denn jenes ›Niemals‹ hat sein Blut aus ihm herausgerufen, das unselige Blut, das vielleicht stärker ist als seine Liebe zu mir!«

Sie wollte tatkräftig eingreifen, auch diesmal den Kampf mit dem Dämon aufnehmen, aber das Herz war ihr schwer und kummervoll.

Nachdem Sender nun das Geld hatte, die vielen Namenstage des Fedko würdig zu begehen, fand er sich wieder regelmäßig in der Bibliothek ein und las das »Spiel vom Juden Nathan« weiter, eifrig, aber mühsam und ohne vollen Erfolg, weil ihm das nötige Wissen zum rechten Verständnis fehlte. Über die unzähligen dunklen Stellen half ihm weder sein scharfer Verstand, noch sein starker dramatischer Instinkt genügend hinweg.

Was er verstand, packte ihn freilich mächtig, schon deshalb, weil es ihm so neu war, eine unbekannte, fremde Welt, die Welt der reinen Menschlichkeit. Er war in einem Winkel der Erde geboren und aufgewachsen, wo die Binde des religiösen Vorurteils den armen Menschen so dicht um die Augen liegt, wie selten anderwärts. Als er nun mit ungemeiner Spannung aller Sehnen der Seele, so wie man eine unerhörte Entdeckung vernimmt, das Märchen von den drei Ringen las, da sank ihm diese Binde freilich nicht von den Augen, aber er erkannte doch, daß es Leute gegeben, die sie nicht getragen. Die Stelle beschäftigte ihn auf das Lebhafteste, er las sie immer und immer wieder, obwohl er dabei die Neugierde niederkämpfen mußte, wie »das Spiel ausgehen« werde. Aber wie oft er auch begeistert vor sich hinsprach: »Eine schöne Geschichte, eine wunderschöne! Ich wollt', ich könnt' sie gleich weitererzählen! Und so ›sinnedig‹ (sinnreich) ist sie!« – er selbst vermochte sie nicht recht zu beherzigen, und die Mahnung

                                      »Wohlan
So eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!«

wäre ihm unerfüllbar gewesen, auch wenn ihm ihr Sinn völlig klar aufgegangen wäre. »Wenn Nathan«, dachte er, »beweisen will, daß auch ein Jud', ein Christ, ein Türk' ein braver Mensch sein kann, daß niemand glauben soll, nur er ist gut – da hat er recht. Aber wenn er vielleicht sagen will: jeder Glaube ist der richtige – das ist, scheint mir, nicht wahr. Ich hab' doch gewiß nichts gegen die Polen und bin schon zufrieden, wenn sie mich in Ruh' lassen, aber daß ihre Religion so gut ist wie die meinige, kann ich nicht glauben. Denn warum bleib' ich denn ein Jud', den alle schimpfen und bedrücken? Da kann ich mich ja gleich taufen lassen! Aber daß der Herr Lessing einen Juden so gerecht reden läßt, war doch schön von ihm. Die Leut' hören es und denken sich dann: ›Warum sollen wir die Juden hassen? – sie hassen ja auch uns nicht‹... Und das ist gut, sehr gut! Schad' ist nur, daß nicht alle Polen Deutsch verstehen!« Denn daß die Mahnung auch anderwärts nötig sein könnte, fiel ihm nicht bei. Hatte doch auch Nadler gesagt, daß die Juden heutzutage nirgendwo mehr so bedrückt seien, wie in Galizien!

Als er endlich nach mehreren Wochen mit der Dichtung fertig war, legte er sie mit sehr gemischten Empfindungen aus der Hand. Es kränkte sein Selbstgefühl, daß ihm so vieles unverständlich geblieben; er räumte in Gedanken ein, daß dies nicht des Dichters Schuld sei, aber ärgerlich war es doch und verdarb ihm die Freude an dem Werke. Auch mißfiel ihm, daß die Leute seines Erachtens gar so viel redeten und zu wenig handelten – es ging doch zu wenig vor – kein Kampf, keine Schlacht, nicht einmal eine richtige Liebesgeschichte war darin. Eine Ahnung der sittlichen Größe der Dichtung überkam freilich auch ihn – »Er muß doch wirklich ein feiner Mensch gewesen sein«, urteilte er über den Dichter, »und gegen alle gut, nicht bloß gegen uns Juden. Aber daß er es auch gegen uns war, werd' ich ihm nie vergessen!« Darum empfand er es auch peinlich, daß ihm von jenen beiden »Spielen«, die er kannte, der »Nathan« nicht ganz so gut gefiel, als der »Schajelock«, obwohl doch in diesem die Juden nicht so gut wegkommen. Und wenn er gar nachdachte, wen er lieber darstellen wollte, den wilden, rachegierigen »Schajelock« oder den edlen, milden Nathan, so gab er vollends mit aller Entschiedenheit der unedleren Gestalt den Vorzug.

»Nathan«, sagte er sich, »ist zwar der Bessere, aber er redet immer ruhige, vernünftige Sachen und hat keine großen Leiden und keine großen Freuden, Schaje aber – der kann immer schreien und herumlaufen und dies und jenes tun. Nathan wäre leichter zu machen, aber Schaje wäre mir doch lieber! Natürlich aber den Schluß, den müßte ich machen, wie ich will!«

Das nächste, worüber er nun geriet, war »Emilia Galotti«. Aber hier kam kein Jude vor, und in diesem feinen Intriguennetze vermochte sich der arme Sender vollends nicht mehr auszukennen, so peinliche Mühe er sich auch gab. Auch war ihm natürlich die Sprache zu gebildet. Da las er zum Beispiel die Szene zwischen dem Fürsten und dem Maler, las sie wohl an die zehn Male, und begriff noch immer nicht, worüber die Herren sich eigentlich unterhielten. Je weiter er kam, desto dunkler ward es um ihn, und schließlich wurden ihm die feingefügten Szenen zu einem Irrgang, in welchem er nur noch aus Pflichtgefühl umherschlich. Brennend empfand er die Sehnsucht nach einem Lehrer und Rater, und dabei dämmerte ihm auch zuweilen die Erkenntnis auf, daß dieses Lesen von »Spielen« vielleicht doch nicht jenes »Lernen« sei, welches ihm der Direktor in Czernowitz so dringend ans Herz gelegt. Tag für Tag fand er sich ums Mittagsläuten pünktlich an der Tartarenpforte ein, aber von Tag zu Tag zaghafter und betrübter.

Hiezu kam noch eine äußere Bedrängnis. Der Winter war hereingebrochen, und das ist ein grimmiger Gast in der großen Ebene, welche schutzlos dem Nord- und Ostwind preisgegeben ist. Im Saale der Bibliothek herrschte die Temperatur eines wohlgepflegten Eiskellers.

So oft Sender die Treppe emporstieg, klapperten ihm schon beim bloßen Gedanken an diese Kälte die Zähne, und während der beiden Stunden mußte er wie wahnsinnig auf und ab rennen, stampfen und um sich schlagen, um nicht zu erstarren.

Der alte Fedko, der bisher weder im Städtchen noch im Kloster durch eine besondere Zauberei beängstigt worden und daher immer mehr zu der Überzeugung kam, daß sein armer Senderko nur eben ein stiller Wahnsinniger sei, Fedko also fühlte Mitleid mit »diesem merkwürdigen Juden«, und brachte einmal eine wohlgefütterte Kutte herbeigeschleppt.

»Da schlüpf' hinein«, riet er, »die Kutte hat dem Pater Ämilius gehört, er hat sie immer angezogen, wenn er hier in der Bibliothek ein Buch gesucht hat.«

Aber Sender sträubte sich lange, das Mönchsgewand anzuziehen, und als er es endlich an einem besonders kalten Tage dennoch tat, da war es ihm, als hätte er eine schwere fast unsühnbare Sünde auf sich genommen.

Einige Tage später hatte er eine Unterredung, welche das Maß seiner Sorgen und Bekümmernisse voll machte.

Als er nämlich eines Abends heimkam, fand er bei seiner Mutter im warmen Stübchen einen Mann sitzen, den er sonst sehr gern gesehen hatte, seit einigen Wochen aber so ängstlich mied, als wäre es der leibhaftige Teufel. Das war Itzig Türkischgelb, der fröhliche »Marschallik« (Lustigmacher) und Heiratsstifter von Barnow, in seiner Art auch ein »Pojaz« und wahrlich nicht der langweiligste, klug und wohlwollend, immer fröhlich, freilich auch immer durstig.

Sender war damals vielleicht der einzige Mensch in Barnow, der die Gesellschaft dieses feuchten Greises fürchtete. Denn Itzig Türkischgelb war eine überaus beliebte Persönlichkeit, und verdiente dies auch durch seine Bravheit und ewig muntere Laune. In Häusern, wo sich heiratfähige Kinder fanden, war er besonders wohlgelitten, denn er stand im Rufe, daß er selbst das häßlichste Mädchen, den ungeschicktesten Tölpel anzubringen wisse, sofern er sich nur recht der Sache annehme. Nur die Mädchen liefen vor ihm davon, weil er seinem Witz und seiner Phantasie gern freien, sehr freien Lauf ließ. Aber Sender war kein Mädchen, und darum hatte er bei Gastmählern und Hochzeiten manche fröhliche Stunde mit dem Alten verbracht und so wacker in allerlei Schwänken mit ihm gewetteifert, daß die Leute oft kaum zu sagen wußten, wer sie besser unterhalten habe, ob der gemietete »Marschallik« oder sein freiwilliger Nebenbuhler.

Jetzt freilich wurde Sender bleich, als er den alten Kumpan da sitzen sah, und blickte ihn finster an. Aber Itzig bemerkte es nicht, oder tat so, als ob er es nicht bemerkte.

»Sender«, rief er ihm fröhlich entgegen, »sei so gut und mach' den Mund auf und sag' ›Ja‹!«

Aber Sender blieb finster.

»Was wollt Ihr?« fragte er kurz.

»Daß du ›Ja‹ sagst«, erwiderte der Alte freundlich. »Wenn du aber vielleicht müde bist, so brauchst du nur mit dem Kopfe zu nicken, und es ist uns auch genug – nicht wahr, Frau Rosel?«

Die Frau richtete auf ihren Sohn einen Blick, dessen Macht Sender wohl kannte, denn er schlug sofort die Augen nieder.

»Wir haben es dir zum Guten ausgedacht«, sagte sie scharf.«Reb Itzig wird dir sagen, um was es sich handelt –«

»Ich kann es mir denken«, sagte Sender, »und ich glaube...«

»Höre!« befahl die Frau kurz. »Redet, Reb Itzig!«

»Es handelt sich«, begann der »Marschallik« behaglich und wiegte sich hin und her, »um eine Blume! Eine schönere und duftigere Blume ist noch nie in einem Garten gewachsen, seit uns das Paradies verschlossen ist. Es handelt sich um einen Schatz! Kein Mensch in unserer Gemeinde oder im Barnower Kreis hat noch je einen solchen Schatz besessen. Es handelt sich um einen Diamant! Ein so kostbarer Diamant ist noch nie gefunden worden, seit die Welt steht, und sogar der Kaiser in seinem goldenen Haus in Wien wünscht sich ihn umsonst! Es handelt sich –«

»Und wie heißt dieser Diamant?« fragte Sender spöttisch.

»Wie soll ein Diamant heißen?!« war die Antwort. »Diamant!«

»Wie?«

»Chaje Diamant, die Tochter von Reb Mortche Diamant, dem Uhrmacher von Mielnica.«

Darauf folgte eine lange Stille. Sender schwieg und biß sich die Lippen blutig.

»Der gute Jung'!« rief Türkischgelb. »Auf so ein Glück war er gar nicht gefaßt! Aber ist das ein Wunder? Wirklich! Ein solches Glück kann einem die Red' verschlagen! Erstens ist das Mädchen schön wie die Sonne, weiß wie Schnee, rot wie Blut, frisch wie ein Fisch, dick und schwer, daß das ganze Haus zittert, wenn sie auf den Fußspitzen herumschleicht, und gesund ist sie wie das ewige Leben. Eher stürzt der Himmel ein, als daß die auch nur den Schnupfen bekommt. Zweitens ist Reb Mortche der geschickteste Uhrmacher im ganzen Land und sein Geschäft ist das beste Geschäft auf der ganzen Welt, und seinen Schwiegersohn will er in dieses Geschäft aufnehmen und für das ganze Leben versorgen wie einen Herrn, wie einen Baron, wie einen Grafen, wie einen Fürsten, wie einen Kaiser. Drittens ist das Mädchen klug wie der Tag, freundlich und still wie der Mond, und versteht zu kochen, daß alle Weiber von ganz Israel bei ihr lernen sollten. Neulich, wie ich bei Reb Mortche war, hat sie Fische gekocht in der braunen Brühe mit Rosinen – das waren Fische – Sender, Fische waren es – auf Ehre, ich kann nicht weiterreden, wenn ich an diese Fische denke, das Wasser läuft mir im Munde zusammen – ich kann nicht weiterreden –«

»Es ist auch nicht nötig«, sagte Sender finster.

»Freilich ist es nicht nötig«, erwiderte der Vermittler, »du weißt schon jetzt genug, um gleich ›Ja!‹ zu sagen, zu rufen, zu schreien. Aber das Glück, das auf dich wartet, ist noch viel größer! Denn wer hat eine schönere Ausstattung als deine Chaje? Auf Ehre – eine Prinzessin könnt' gleich sterben vor Neid, wenn sie diese Hemden anschaut, diese Röcke, diese Polster, diese Leintücher, diese Tischtücher, diese Handtücher, diese Kleider, diese Hauben, diese Mantillen! Und dazu Ohrringe und Armbänder und Ketten und Broschen und eine Uhr, man kann blind werden, wenn man es lange anschaut, so groß ist die Pracht. Und dann die Mitgift! ›Gott!‹ hab' ich zu Reb Mortche gesagt, ›daß Ihr ein reicher Mann seid, hab' ich gewußt, wie jeder Mensch im Kreise – aber so ein Vermögen – so ein Vermögen‹ – ich hab' nicht ausreden können vor Staunen. Denn was meinst du, was deine Braut mitbekommt? Halt dich an den Tisch oder setz dich hin, sonst fällst du um vor Freud'! Sechshundert Gulden, bare sechshundert Gulden! Nun freilich, es ist ja das einzige Kind –«

»Das ist nicht wahr!« unterbrach ihn Frau Rosel. »Bleibet bei der Wahrheit, Reb Mortche hat andere Töchter. Aber Sender kann dennoch glücklich sein, wenn er ihn zum Schwiegersohn nimmt.«

»Warum lasset ihr mich nicht ausreden?« fragte Itzig Türkischgelb ohne jede Verlegenheit, »freilich hat er noch eine Tochter, aber die ist doch schon verheiratet, wozu soll ich unserem Sender von ihr erzählen?! – Soll er denn die auch nehmen?! Wenn ich aber schon von ihr rede, so sollst du auch gleich wissen, wen du zum Schwager bekommst. Der Mann von der Ältesten ist ein Ururenkel vom Rabbi von Mielnica und außerdem der größte Fuhrherr von Czernowitz, Meyer heißt er und mit dem deutschen Namen Strisower...«

»Der!« lachte Sender höhnisch. »Rot-Meyerl! Einen Karren hat er und zwei Schindmähren...«

»Soll ein Lohnkutscher vierspännig fahren?!« rief Türkischgelb fast entrüstet. »Und was seine Pferde betrifft, der Kaiser hat keine solchen Rappen –«

»Da habt Ihr recht! Solche gewiß nicht!«

»Genug!« befahl Frau Rosel. »Die Rappen heiratest du nicht... Übrigens sind noch zwei jüngere Töchter im Hause, aber...«

»Es ist doch das größte Glück«, fiel Türkischgelb ein. »Ich hab' von den beiden gar nicht gesprochen, vielleicht sind es sogar drei – denn ist es mein Geschäft, mich um Kinder zu kümmern? Ich kümmere mich um Erwachsene! Und wie sollen dir diese vier kleinen Kinder im Wege sein und wie sollen sie dir dein Glück stören? Als guter Mensch, als guter Schwager wirst du sagen: ›Gott lasse alle fünf gesund aufwachsen und gebe ihnen gute, tüchtige Männer, wie ich bin!‹ Ja, so wirst du sprechen, Sender, denn ich kenn' dein gutes Herz!«

»Fünf?« fragte Frau Rosel sichtlich unangenehm überrascht.

»Ich glaube«, sagte Itzig Türkischgelb unbefangen. »Reb Mortche ist auch in dieser Beziehung ein gesegneter Mann. Am Ende sind es gar sechs. Möglich ist es, verschwören will ich es nicht. Denn mich, wie gesagt, kümmert nur mein Geschäft! Und ob nun zwei kleine Töchterchen im Hause sind oder noch vier andere dazu, ist deshalb diese schöne, kluge, dicke Chaje...«

»Wieviele sind's nun aber wirklich?« unterbrach ihn Frau Rosel mit scharfer Stimme.

»Sieben!« gestand er. »Aber ist deshalb, frag' ich, diese schöne, kluge, dicke Chaje häßlicher, magerer, dümmer?! Kann sie deshalb keine Fisch' kochen? Fehlt deshalb etwas an der Aussteuer oder an den baren sechshundert Gulden? Oder wird Sender deshalb nicht ins Geschäft aufgenommen und ist darum auf Lebenszeit ein versorgter Mann?! Und ist dies Geschäft nicht...«

»Auch was das Geschäft betrifft, müßt Ihr ihm die volle Wahrheit sagen«, fiel ihm Frau Rosel ins Wort. »Dein Schwiegervater nimmt dich nur für fünf Jahre ins Haus. Während der Zeit arbeitest du in seiner Werkstätte und bekommst mit deiner Familie freie Kost und Wohnung. Die sechshundert Gulden werden für dich auf Zinsen angelegt. Nach fünf Jahren kannst du dir damit eine andere Werkstätte ankaufen oder selbst einrichten!«

»Nun, was sagst du?!« rief Türkischgelb begeistert. »Ist das nicht noch viel schöner, als wenn du etwa immer dort bleiben müßtest und noch zehn Jahre oder zwanzig oder gar vierzig Jahre deinen Schwiegervater als Herrn über dir hättest? Ist das nicht viel schöner, als wenn du dir dein Leben lang die Nachrede gefallen lassen müßtest: ›Er hat sein Geschäft vom Schwiegervater geerbt, allein hat er's nicht so weit gebracht?!‹ Nu, hab' ich recht oder nicht?!«

»Darüber läßt sich streiten«, sagte Frau Rosel. »Aber über die Hauptsache nicht: daß diese Partie deshalb doch ein großes Glück für einen Menschen ist, der nichts hat, auch nichts erben wird, der schon vieles versucht hat, eh' er Uhrmacher geworden ist, und es auch jetzt noch nicht weit in seinem Handwerk gebracht hat. Darum hat mich auch alles andere nicht gestört, was Sender noch nicht weiß! Aber saget es ihm, Reb Itzig! Er soll nicht klagen dürfen, daß wir ihm etwas verschwiegen haben!«

»Ich verstehe Euch nicht!« versicherte der Marschallik treuherzig und blickte sie fragend an, »etwas, was dagegen spricht?! Davon habe ich Euch gegenüber nichts erwähnt und wüßte es auch unserem Sender nicht zu sagen. Es spricht ja alles dafür

»Nun«, sagte Frau Rosel, »zum Beispiel, daß leider ein Verbrecher in der Familie ist.«

»Ein Verbrecher?!« rief Türkischgelb entrüstet. »In dieser Familie?! Frau Rosel, verzeiht, aber das müßt Ihr geträumt haben. Die Familie von Reb Mortche ist ja von einem Adel, einem Adel – Gott, wie soll ich den beschreiben?! Ist es nicht schon genug, wenn ich sage, daß Reb Mortches Großvater der berühmte Reb Srulze war, der den ganzen Talmud auswendig gekonnt hat?! Auswendig, Sender! – von vorn und von hinten hat er ihn hersagen können, und wenn man ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf geweckt hat! Von hinten, mitten in der Nacht! – Wenn du nicht darauf brennst, die Urenkelin von einem solchen Gelehrten zum Weibe zu bekommen, so verdienst du nicht, ein Jude zu sein! Und wer ist denn der Bruder deiner künftigen Schwiegermutter? Der erste ›Gabe‹ (höherer Diener, etwa Sekretär) beim Wunderrabbi von Nadworna. Und wen hat Reb Mortches Sohn, dein ältester Schwager, geheiratet?! Die Tochter von Reb Meier Hirschler in Tluste – ja, von Reb Meier so wahr ich lebe! Und Reb Meier ist doch gewiß der größte Gelehrte im Barnower Kreis, aber der hat nicht von einer Verbrecherfamilie gesprochen!«

»Ich auch nicht«, meinte Frau Rosel. »Aber deshalb bleibt's doch wahr, daß Reb Mortches einziger Bruder –«

»Still, Frau Rosel, still!«

Itzig Türkischgelb zuckte schmerzlich zusammen, dann erhob er sich würdevoll, ein Zug tiefer, milder Wehmut lag auf seinem Antlitz.

»Still«, wiederholte er zum dritten Male. »Mir tut das Herz weh, wenn ich anhören muß, wie sich eine fromme Frau wie Ihr gegen Gott versündigt. Er, der Allerbarmer, hat uns befohlen: ›Lasset die Toten ruhen und richtet sie nicht!‹ Warum –«

»Das hab' ich nicht gewußt«, fiel sie ein. »Ist also der Mensch inzwischen gestorben?«

»Schon vor drei Jahren«, sagte Itzig Türkischgelb mit zitternder Stimme. »Er ruhe in Frieden!«

»Also gleich nachdem er ins Zuchthaus gekommen ist?« fragte sie. »Denn vor drei Jahren ist er ja erst verurteilt worden! Mir scheint aber, Ihr irrt Euch! Denn wie ich mich nach der Sache erkundigt habe, hat mir Reb Jossele, der Lehrherr von Sender, der den Lumpen, den Noah kennt und damals auch als Zeuge vor Gericht erscheinen mußte, gesagt, daß er ihn erst vor einigen Monaten bei der Durchfahrt in Zloczow gesehen hat. Dort ist ja das Zuchthaus. Und Noah ist mit anderen Sträflingen im Straßengraben gesessen und hat Steine zum Straßenbau geklopft!«

»Und das nennt Reb Jossele leben?!« rief Türkischgelb. »Ich hätt' ihn für gescheiter gehalten! Wer ins Zuchthaus kommt, ist tot! Noah ist tot für die Welt, tot für den Bruder!... Du darfst aber nicht glauben«, wandte er sich an Sender«, daß er am Ende gar ein Räuber oder ein Mörder war! Unglück im Geschäft hat er gehabt – sonst nichts!«

»Saget das nicht«, verwies ihm Frau Rosel streng. »Ihr seid ja selbst ein so ehrlicher Mann. Auch Reb Mortche wird mir gerühmt, und daß er nicht das geringste mit den Gaunereien seines Bruders zu tun gehabt hat!«

»Ich möcht's auch niemand raten, so was zu sagen!« rief der Marschallik. »Dieser Noah – sieh, Sender, wie merkwürdig das Leben ist! Er war der Enkel von Reb Srulze, der den ganzen Talmud von hinten hat hersagen können, und auch sein Vater war ein Frommer und Gerechter, und erst sein älterer Bruder Mortche – solche Vorbilder hat noch kein Mensch gehabt! Und was wird aus ihm? Ein Gauner! Statt Uhrmacher zu bleiben wie Mortche, wird er Uhrenhändler, nimmt in der Schweiz und in Frankreich und weiß Gott wo Uhren auf Kredit und beschwindelt die Leut' von hinten und vorn, fälscht Wechsel, handelt mit gestohlenem Gut! Reb Mortche mahnt und rettet ihn ein-, zweimal, endlich sagt er sich von ihm los. Und wie hat er sich seinetwegen bei dem Prozeß gekränkt und geschämt, obwohl es doch eigentlich eine Ehre für ihn war –«

»Eine Ehre!« rief Sender.

»Gewiß! Denn alle Leut' haben gesagt: ›So ein Lump und so ein Ehrenmann sind unter demselben Herzen gelegen – zwei so verschiedene Brüder hat die Welt noch nicht gesehen!‹ Übrigens frag' ich –« der Marschallik erhob sich – »ich frag' Euch, Frau Rosel, und dich, Sender, frag' ich: Ist diese schöne, dicke Chaje mit den sechshundert Gulden die Tochter von Noah oder von Mortche?! Gebt mir zur Güte Antwort!«

»Ich hab's schon gesagt«, erwiderte Rosel, »es ist für Sender doch ein Glück, nur soll er alles wissen. Darum soll ihm auch die Bedingung nicht verschwiegen sein, daß er sich nach fünf Jahren überall, wo er will, niederlassen darf, nur in Mielnica nicht. Denn das verschlechtert die Partie!«

»Nein, es verbessert sie!« rief der Marschallik. »Ein junger Ehemann soll nicht immer unter den Augen seiner Schwiegereltern bleiben – es tut nicht gut, Frau Rosel, glaubt meiner Erfahrung, es tut nicht gut. Wie gern wird Sender nach fünf Jahren mit seiner Chaje und seinen Kinderchen, die ihm Gott schenken wird, hierherziehen oder nach Tarnopol – wohin er will, und wo es gut für ihn ist.«

»Warum stellt Mortche diese Bedingung?« fragte Sender.

»Weil er«, erwiderte Frau Rosel, »seinen Ältesten auch zum Uhrmacher ausbildet und nicht will, daß du ihm einst vielleicht die Kunden wegfängst. Der Sohn soll das Geschäft erben. Nun, das ist im Grunde auch nur gerecht, und ich kann mir ja auch für dich nicht alles auswählen, wie für einen Prinzen. Ich muß Gott danken, daß sich die Sache mit dem Noah ereignet hat, sonst wurde Reb Mortche gewiß nichts von dir hören wollen. Aber was dies betrifft – das besprechen wir noch, wenn es nötig sein sollte. Ich hoff' aber, es ist nicht nötig.«

Sie blickte den Sohn fest an und strich die Tischdecke glatt.

»Ich dank' Euch, Reb Itzig«, wandte sie sich dann an den Marschallik. »Sender weiß jetzt, um was es sich handelt und daß es wirklich ein Glück ist, das wir ihm zuwenden wollen. Also – heut' ist Mittwoch, Sonntag früh fahrt Ihr mit ihm auf Brautschau. Es bleibt dabei, wie wir es verabredet haben, Sonntag früh bitte ich Euch hierherzukommen.«

»Gut!« erwiderte Reb Itzig. »Aber ein Glück für Sender sagt Ihr – nur ein Glück?! Im siebenten Himmel kann er sich fühlen, im vierzehnten, im vierundzwanzigsten Himmel. Also – Sonntag früh. Lebt gesund!«


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