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Der düstere Versöhnungstag, das heitere Fest der Laubhütten war vorüber; noch schien die Sonne Tag für Tag fast sommerlich warm vom unbewölkten Himmel nieder, aber die Juden von Barnow hatten ihr winterliches Leben begonnen; sie richten sich ja in allem nicht nach der Natur, sondern nach den Satzungen ihres Glaubens. Jeder spann sich in seinen vier Wänden ein, legte seine Sorgen und Hoffnungen für den Winter zurecht und begann die Arbeit, wie er sie nun bis zum Osterfeste zu üben gedachte. Das abendliche Treiben auf der Straße war zu Ende, dafür besuchten die Nachbarn einander häufig, und jeden Sonnabend nachmittag stand das Haus jedes Reichen gastlich offen.
Sender ließ sich dabei nirgendwo blicken, man lud ihn auch nicht ein; zwar stimmte nicht jeder bei, wenn ihn sein Feind Jossele Alpenroth eine »Schande Israels« nannte, aber die Meinung des Ghetto hatte sich doch wieder gegen ihn gekehrt und kaum minder heftig als im Frühling. Denn fast ebenso schlimm wie heimlich deutsche Bücher zu lesen, erschien es ihnen, ein unbescholtenes Mädchen, das man ins Gerede gebracht, sitzen zu lassen. Sie stritten darüber, ob nicht auch Jossef Grün mitschuldig sei, weil er dies unerhörte Hofmachen, »fast wie bei Christen«, geduldet, aber in Senders Verurteilung waren alle einig. Er verteidigte sich auch gar nicht, wenn ihm einer im Laden oder in der Schul' Vorwürfe machte, sondern erwiderte nur: »Ihr habt recht, ich hätt's mir früher überlegen sollen, aber nun ist's geschehen.« Da verdiente er's redlich, daß ihm Naphtali Ritterstolz einmal vor aller Welt sagte: »Und wenn du noch zehnmal in deiner Lotterie gewinnst, dir gibt nie ein ehrlicher Jud' sein Kind.«
Nur zwei Menschen schwiegen, und gerade die zunächst Beteiligten. Der Marschallik hatte geflucht und gejammert, als ihm Sender an jenem Abend seinen Entschluß mitgeteilt, er hatte alles aufgeboten, um ihn umzustimmen, aber nun machte er ihm keine Vorwürfe. Noch mehr, er schlich sich still davon, wenn andere über Sender loszogen, und fuhr fort, die beiden Bewohner des Mauthauses, die nun wieder einsam wie auf einer Insel dahinlebten, freundschaftlich zu besuchen. Alle seine Schwänke kramte er aus, um sie zu erfreuen – sie hatten ja beide ein bißchen Lachen nötig. Aber da versagte seine Kunst, Frau Rosel hörte ihn kaum an, und auch Sender verzog sein Gesicht nur zuweilen aus Höflichkeit zu einem Lächeln. »Seid nicht hart gegen ihn«, mahnte einmal Türkischgelb die Mutter. »Ich sag' ihm kein Wort«, erwiderte sie. Es war so, auch sie schwieg. »Sie wissen eben beide die Wahrheit«, dachte Sender, »dafür kann ich nichts.« Er irrte. Nur der Marschallik dachte grimmig: »Die Schamlose hat ihm vielleicht von ihrem Bernhard erzählt.« Die Mutter hatte einen anderen Verdacht: »Er hat ja was vor, was es ist, mag Gott wissen, aber ich fühl's, er will was Unerhörtes beginnen. Anfangs hat sie ihm zugestimmt, im letzten Augenblick nicht. Da hat er lieber sie gelassen, als seinen Vorsatz.« Ihr Herz krampfte sich in Zorn und Sorge zusammen. Dennoch hatte sie Mitleid mit ihm, sie sah ja, wie es um ihn stand. »Er ist ja verzweifelt«, dachte sie, »da jage ich ihn durch Vorwürfe gar aus dem Hause.«
Und in der Tat, schlimm genug stand es in dieser ersten Zeit um ihn. Da hatte er nur eine Empfindung. »Wär' ich doch tot, wie soll ich ohne sie leben?« Zuweilen zürnte er ihr und klagte sie der Hinterlist an, – wie hatte doch Jütte gesagt: »Bei ihr kommt alles aus dem Verstand!« – oder er empfand eifersüchtigen Groll gegen »diesen Doktor«, aber zumeist seufzte er nur: »Sie hat recht gehabt, aber was fang' ich nun an?« Unablässig schwebten ihm die blauen Augen vor, und den Klang ihrer Stimme verlor er vollends nie aus dem Ohr; selbst durch die Schimpfreden Dovidls tönte er hindurch, ja sogar durch die Worte des Pater Marian, und denen horchte er doch gewiß mit voller Hingabe.
Denn die Lehrstunden in der Bibliothek hatten wieder begonnen. Der edle Greis hatte ihn gütig aufgenommen und widmete sich ihm nun mit vermehrtem Eifer. Er wußte nicht, warum der junge Jude so bleich und verwandelt zu ihm zurückgekehrt, er fragte nicht danach; ihm genügte es, daß er seiner Hilfe nun noch mehr zu bedürfen schien als vordem, um sie ihm verdoppelt zu widmen. »Es ist nur Egoismus«, wehrte er lächelnd ab, wenn ihm Sender dankte, »sonst habe ich ja nichts zu tun, nicht einmal meine Sünden habe ich mehr zu bereuen.« Der neue Prior war weder ein Gelehrter, noch ein freier Geist, aber ein verständiger, duldsamer Mann. Er hatte das Los des berühmten Ordensbruders, dessen Buch über die Sittenlehre des Urchristentums so viel Lärm machte, nach Kräften gelindert, so weit er es ohne Zustimmung der Oberen vermochte; ihm eine Tätigkeit in der Schule oder Seelsorge einzuräumen, lag nicht in seiner Macht. »Egoismus! das ist meine einzige Arbeit, und ohne zu arbeiten, kann man nicht leben. Die Arbeit allein hilft uns über alles hinweg.«
Als Sender dies Wort zum ersten Male hörte, glaubte er nicht recht daran. Freilich, er wollte arbeiten, sein Ziel war ja das einzige, um dessentwillen er noch lebte, für seinen Schmerz jedoch schien es ihm kein Trost. Aber allmählich kam es doch so, je mehr Zeit verstrich, je größer die Freude an der Arbeit wurde. Sie hatten »Die Räuber« zu Ende gelesen und nahmen nun den »Fiesko« durch. Es ging jetzt rascher, weil die Einsicht des Schülers wuchs, sein Instinkt sich immer mehr schärfte. Oft genug mußte der Pater über die Raschheit staunen, mit der sich Sender in so wildfremde Dinge wie die genuesischen Verhältnisse des sechzehnten Jahrhunderts hineinfand – jedes erläuternde Wort, jedes Gleichnis wurde ihm zur sicheren Stütze – noch mehr über seine Treffsicherheit in der Beurteilung von Charakteren und Situationen. An komischen Mißverständnissen fehlte es nicht, aber im wesentlichen begriff er doch fast immer, wie sich der Dichter eine Gestalt gedacht und worauf es ihm ankam. »Brav!« sagte der Greis immer wieder. »Ich glaube, aus dir wird was«, und steigerte seine Bemühungen immer mehr. Er ahnte nicht, welche Wohltat er dadurch seinem Schützling gerade in diesen Zeiten erwies. Nun war Sender nicht mehr ganz verzweifelt, mit leiser Wehmut konnte er der Verlorenen gedenken, und zuweilen ging es ihm tröstlich durchs Herz: »Wär' ich nicht unglücklicher, wenn ich sie gewonnen und mein Ziel verloren hätte? Die gute Jütte hat mich getröstet, daß Malke ohnehin nicht für mich getaugt hätte, nun – vielleicht doch! Aber beherrscht hätte sie mich gewiß mein Leben lang, – wie, wenn ihr, die so vernünftig ist, die Schauspielerei als zu unsicheres Brot erschienen wäre, wenn sie es mir verboten hätte? Ich hätte mich nicht gefügt, aber was dann?«
Da kam ein Tag, der ihm den Trost noch mehrte. Sie hatten den »Fiesko« beendet; nun sollte Sender versuchen, die Rolle des Mohren zu lesen, die ihn besonders angezogen hatte. Er machte es so gut, daß der Pater freudig ausrief: »Wahrhaftig! Ich hätt's kaum für möglich gehalten! Du bist wirklich zum Schauspieler geboren!«
Senders Augen leuchteten. »Ich dank' Ihnen«, rief er. »Und Sie verstehen was davon.«
»Nicht allzuviel, aber darin glaube ich mich doch nicht zu irren. Nur um die Aussprache steht's noch schlimm, aber auch die bessert sich etwas, dank deiner Ausdauer.« Mit Recht hätte der gute Priester sagen dürfen, dank unserer Ausdauer. Er schrie sich täglich die Kehle heiser, daß man es bis auf den Korridor der Pönitenz hörte, und Sender vollends brüllte die »a« und »o«, daß die Fenster klirrten. »Wenn dein Fleiß nicht ermattet«, schloß Marian, »freilich nur dann, wird was Rechtes aus dir.«
»An mir soll's nicht fehlen«, beteuerte Sender. »Ich seh' ja ein, ein Schauspieler muß sehr fleißig sein, fleißiger als jeder andere Mensch. Es ist da so schrecklich viel zu lernen. Da darf man an gar nichts anderes denken. Für mich wär's vielleicht sogar nicht gut gewesen, wenn ich geheiratet hätt', eh' ich was geworden bin.« Es war ihm unwillkürlich entfahren; er fühlte nun, wie sein Gesicht zu flammen begann.
Der Geistliche lachte laut auf. »Heiraten!« rief er. »Das ist das letzte, wozu ich dir jetzt raten möchte. In zehn Jahren, wenn du als Künstler durchgedrungen bist. Aber warum wirst du so rot?... Du, ich glaube gar...«
Er hob drohend den Finger, aber Sender beteuerte so nachdrücklich, damit wäre es nichts, daß ihm der Pater endlich glauben mußte. »Das freut mich«, sagte er, »denn es wäre ein rechtes Unglück für dich. Sogar eine Liebschaft kannst du jetzt nicht brauchen.«
Leichteren Herzens als seit Wochen ging Sender heim. »Mein Pater«, dachte er, »ist ja sonst ein kluger Mann, wahrscheinlich hat er auch darin recht. Unsere Weisen sagen: ›Es ist alles auch zum Guten.‹ Vielleicht ist der Schmerz, den ich um Malke gelitten hab' und noch leide, nur die gerechte Strafe dafür, daß ich an etwas anderes gedacht hab', als an mein Ziel.« Er seufzte tief auf. »Aber freilich, dann muß die Schuld groß gewesen sein.«
Aber als er am nächsten Tage in die Bibliothek trat, begann Poczobut wieder: »Du, Sender, mir kommt die Sache doch verdächtig vor, trotz deiner Schwüre. Warum gehst du nicht nach Lemberg? Du wolltest Mitte September fort, nach euren Feiertagen. In vier Tagen haben wir den 1. November, und du denkst noch nicht daran.«
»Das hat einen anderen Grund«, erwiderte Sender seufzend. »Haben Sie den Wolczynski vergessen?«
Sein Liebesschmerz hatte diese Sorge in den Hintergrund gerückt, nun wuchs sie ihm über den Kopf. Der erste November war ja der Termin, wo die Maut zur Bewerbung ausgeschrieben werden sollte. Sender bereitete auch die Eingabe der Mutter vor; daß sie, gleichviel, was Frau Rosel bot, erfolglos bleiben würde, sofern Wolczynski nicht wollte, wußten beide. Und der wackere Edelmann schien ja unversöhnlich. Die Mutter klagte nicht, aber die zehrende Sorge stand ihr auf dem Antlitz geschrieben – er wußte nicht, daß daneben auch die Angst vor Froims Wiederkehr ihre Nächte schlaflos machte.
»Was soll ich beginnen?« klagte Sender dem Pater. »Abwarten – aber ich kenn' ja die Entscheidung schon heute, was dann? Die Hoffnung auf Nadlers Hilfe habe ich aufgegeben, und der Mutter mein Geld lassen und ohne Mittel in die Welt gehen, ist auch schwer möglich. Freilich wird mir nichts anderes übrig bleiben.«
»Und dieser Wolczynski glaubt auch ein Christ zu sein«, rief Marian schmerzvoll. »Und erst dieser Strus, ich kenn' ihn ja aus der Kirche, der fromme Heuchler beichtet sogar wöchentlich. Als ob sich Gott so betrügen ließe wie die Menschen.« Aber er konnte nur an Senders Sorgen teilnehmen, helfen nicht.
Am nächsten Tage jedoch schien sich auch diese Wolke zu lichten. Als Sender da – es war der 29. Oktober – zum Essen heimging, begegnete ihm Herr v. Wolczynski. Sender wollte rasch an ihm vorbei, er aber blieb stehen und winkte ihm freundlich zu: »Nun, lieber Senderko, wie geht's? Warum besuchst du mich nicht? Ich habe ja deiner Mutter gesagt, daß ich dich erwarte.«
»So?« sagte Sender. »Da hat sie nicht gut gehört. Sie hat verstanden, daß nicht Sie, sondern Ihre Hunde mich erwarten...«
Der Edelmann lachte. »Behüte! Einen klugen Burschen wie dich? Mit dem verständigt man sich. Aber bald mußte es sein«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.
»Ich verstehe«, sagte Sender. »Vor dem Ersten. Morgen vormittag bin ich bei Ihnen.«
Die Mutter blickte erstaunt auf, als er bei ihr eintrat. Heut' lächelte er wieder. »Ich hab's dir ja damals gleich gesagt«, meinte er, »der Lump will Geld. Wenn ich zäh bin, so kostet's nicht einmal viel. Denn nun ist er mürb, sonst hätt' er nicht begonnen.«
Aber er hatte Wolczynski unterschätzt. Zwar empfing ihn der Edelmann am nächsten Tage freundlich und bot ihm sogar einen Stuhl zum Sitzen an, aber von Geld wollte er nichts hören.
»Was fällt dir ein, Senderko? Mein Freund Strus tut mir ja gern einen Gefallen, und die vielen Offerten lesen, ist auch lästig; könnte euer Pachtvertrag einfach zu den alten Bedingungen erneuert werden, so wäre es für alle das bequemste. Aber die Pflicht gegen den Staat! Und zu so einer Pflichtverletzung soll ich ihn durch Geld bringen? Da käm' ich schön an. Und ich tät's auch selber nicht. Beamtenbestechung – wie kannst du einem Ehrenmann, einem Edelmann, so was zumuten?«
Sender blieb kaltblütig. »Dann behalten Sie die zwanzig Gulden, die ich Ihnen geben will, für sich selber und lassen Sie sich von Strus den Gefallen umsonst erweisen.«
»Elender Jude!« brauste Wolczynski auf. »Ich soll Geld behalten, das einem anderen gehört? Das mag eure Moral gestatten, unsere nicht!« Dann aber besänftigte er sich wieder. »Aber eben darum, was wißt ihr alle von Anstand und Ehrlichkeit?! – eben darum, weil du ein Jude bist, will ich dir verzeihen. Aber lern' mich besser kennen. Ich erweise dir eine Gefälligkeit, die mich nichts kostet, du sollst sie mir durch eine lohnen, die dich nichts kostet und dir noch was trägt. Hundert Gulden Trinkgeld. Nämlich ich mache noch immer meine Lottoberechnungen, verstehst du, aber immer erst am Dienstag nachmittags und da kann es ja vorkommen, daß ich mein Zettelchen zu Hause liegen lasse – verstehst du – und –«
»Ich verstehe«, sagte Sender. »Es ist dieselbe Gaunerei, zu der Sie mich schon einmal haben verleiten wollen. Ob sie möglich ist, ohne entdeckt zu werden, weiß ich nicht –«
»O doch! Ich kenne einen Mann, der dadurch sein Glück gemacht hat.«
»Aber daß ich es nicht tue, weiß ich.«
Der Edelmann pfiff vor sich hin. »Dein letztes Wort?«
»Mein letztes.... Aber zehn Gulden will ich noch drauflegen. Also dreißig.«
»Jüdisches Hundsblut!« brach Wolczynski los. »Hinaus mit dir und danke Gott, daß ich dich nicht anzeige, weil du mich zu einem Verbrechen hast anstiften wollen.«
... »Weine nicht!« tröstete Sender die Mutter, als sie auf seinen Bericht in Tränen ausbrach, »deshalb gehen wir noch lange nicht zu Grunde. Ich reiche die Offerte ein, nützt es nichts, so wird uns doch Gott nicht verlassen.«
Er machte sich stärker, als er war. Am letzten Januar, wo das Ergebnis der Ausschreibung veröffentlicht werden mußte, wollte er jedenfalls gehen, aber wie ein Bettler das neue Leben beginnen, war hart.
Er begann jeden Heller zu sparen. Es traf sich gut, daß Dovidl nun immer mehr zu tun bekam und daher seinen Lohn erhöhen mußte. Auch konnte er sich durch das Schreiben von Briefen für andere Leute etwas verdienen. Wieder mußte er die Nächte zu Hilfe nehmen, was ihm nicht leicht fiel, denn der naßkalte Spätherbst hatte ihm seinen Husten wieder gebracht. Aber es ging nicht anders, seine Studien durften durch den Broterwerb nicht leiden. Im Gegenteil, nun widmete er ihnen womöglich noch mehr Zeit und Kraft, und Pater Poczobut feuerte seinen Eifer durch sein Lob immer mehr an.
Nun lasen sie »Kabale und Liebe«, dann den »Don Carlos«. Da es im großen Saal zu kalt geworden, siedelten sie in eine heizbare Zelle über. Freilich mußten sie nun ihre Stimmen dämpfen, da sie damit dem büßenden Pater Ökonom, der in einer benachbarten »Nonnenzelle« wohnte, näher gerückt waren. Aber die Furcht, von ihm gehört zu werden, war wohl überflüssig. Er verbrachte seine Tage in einer Art von Beschaulichkeit, die Fedkos stillen Neid weckte, er ließ sich des Morgens von diesem eine Flasche Slibowitz holen und trank sich einen Rausch an, der bis zum Abend vorhielt.
So war der November verstrichen. Die ersten Dezembertage brachten strenge Kälte, blinkenden Schnee und wolkenlosen Himmel. Nun konnte Sender wieder leichter atmen, als in der trüben Nebelluft. Aber auch eine große Überraschung sollten ihm diese Tage bringen.
Eines Abends im Dezember – der Marschallik war eben auf Besuch – erklang das Mautglöckchen am Hause, und als Sender in die bittere Kälte hinaustrat, den Schranken zu öffnen, hielt da ein kleiner, von einem Knaben gelenkter Schlitten, in dem eine Reisende saß. »Guten Abend, Sender«, grüßte sie zaghaft.
Er trat näher.
»Ihr, Jütte!« rief er überrascht. »Im offenen Schlitten! Ohne Pelz, bei der Kälte? Und mit Eurem Koffer? Was ist geschehen?!«
»Gutes!« erwiderte sie, aber es klang nicht eben fröhlich. »Ist mein Vater daheim?«
»Sogar bei uns! Kommt herein! Ihr müßt ja halb erstarrt sein!«
Sie zögerte. Dann kletterte sie so rasch, wie es die steifen Glieder gestatteten, aus dem Schlitten. »Ach was«, sagte sie tapfer, »erfahren muß er's doch.« Und ebenso tapfer ließ sie in der Stube die Flut von Fragen und Klagen, mit denen der Marschallik sie empfing, über sich ergehen.
»Ja, Vater«, erwiderte sie endlich und wischte sich den Schnee aus dem braunen Haar, »fortgejagt hat mich Reb Hirsch Knall und Fall, das ist nicht zu ändern. Noch vorgestern war ich sein ›lieb' Kind‹, sein ›Nüssele‹, und heut' eine Verbrecherin. Aber meine Schuld ist's nicht! Oder doch – ja, aber ich bereu's nicht!«
»Wegen Malke?« klagte Reb Itzig. »Du hast dich für sie geopfert?«
»Geopfert?« Die Kleine reckte sich empor, wie es ihre Gewohnheit war. »Seh' ich aus wie eine Geopferte? Freilich wär' ich lieber in Frieden aus dem Haus gegangen, wo ich so lang wie ein Kind gehalten war. Aber wozu klagen? Natürlich, Malkes wegen war's. Vor vierzehn Tagen kommt unter meiner Adresse ein Brief vom Bernhard, er hofft, bald als Advokat angestellt zu werden, ob er kommen und um sie anhalten soll? Sie antwortet: ihn allein wird Reb Hirsch hinauswerfen, er soll mit seinem Vater kommen. Richtig kommen gestern die beiden – eine furchtbare Szene, Reb Hirsch wirft auch seinen Bruder hinaus. Sie reisen zum Schein ab. Aber wie ich gestern abend zum Bäcker geh', tritt mir jemand in den Weg, der Bernhard: ›Mein Vater und ich halten morgen früh um fünf am Marktplatz und nehmen Malke mit.‹ So hab' ich denn die Nacht mit ihr durchwacht und sie an den Wagen gebracht. Wie Reb Hirsch aufsteht und das Nest leer findet, ich hab' geglaubt, er verliert vor Wut den Verstand. Aber das nützt alles nichts, fort ist sie, ich aber – der Hausknecht hat uns gesehen, wie wir zum Wagen geschlichen sind, aber ich hätt's auch sonst nicht geleugnet – ich hab's ausbaden müssen –«
»Und nun?« jammerte Türkischgelb.
»Muß ich verhungern«, erwiderte sie lachend, »denn es gibt auf der ganzen Welt keine Wirtschaft mehr, die mich brauchen könnt'.« Sie streckte die runden Arme. »Und so schwach bin ich nebbich (Ausdruck des Mitleids) auch!... Schämt Euch, Vater, für mich ist's wohl nicht schlecht, und für Malke ist's gut, und für den da auch.« Sie wies auf Sender. »Ich hör', die dummen Leut' haben Euch ordentlich in Verruf getan. Nun sollen's alle erfahren, wie es damals zugegangen ist!«
Und sie erzählte es. »So verdirbt die Tochter dem Vater das Geschäft!« rief Türkischgelb zwischen Zorn und Lachen; Frau Rosel aber war innigst erfreut: ihre Vermutung, daß er sie eines geheimen Vorhabens wegen abgelehnt, war irrig gewesen, und wenn die Leute erst erfuhren, wie Malke war, so mußte jeder Sender beistimmen. Nach ihrer Auffassung konnte nur eine Entartete bei Nacht und Nebel mit dem Geliebten fliehen. Dann aber fand auch der Marschallik kein Hindernis mehr, wenn er für Sender eine neue Partie suchte, und sie hätte den Alten noch heute darum gebeten, wenn er minder betrübt gewesen wäre.
Aber schon zwei Tage später war er die Sorge um Jütte los: Schlome Freudenthal, der Besitzer des Barnower Gasthofs, hatte sie als Wirtschafterin aufgenommen. »Für mich ist's gut«, sagte Türkischgelb der Freundin, »für sie schlecht. Am Ort, wo ihr Vater lebt, hat noch keines Marschalliks Tochter geheiratet.« Für Sender aber versprach er sich umzutun: »es wird gehen, nun loben ihn ja alle!« In der Tat wußte sich dieser der Glückwünsche kaum zu erwehren. »Daß du's auf dich genommen hast«, hieß es, »war eine Narrheit, aber daß du sie nicht genommen hast, dein Glück. Sonst wär' die Elende dir davongelaufen.«
Er aber verteidigte sie warm und ehrlich. Wohl tat ihm noch immer leise das Herz weh, wenn er ihrer gedachte, aber redlich gönnte er ihr alles Gute. »Mag sie der Doktor so glücklich machen«, dachte er, »wie es mein Vorsatz war!« Und mit feuchten Augen las er das Blatt, das um Neujahr an ihn gelangte. Auf die lithographierte Anzeige: »Wir beehren uns, Ihnen ergebenst unsere Vermählung anzuzeigen. Doktor Bernhard Salmenfeld und Frau Regine, geb. Salmenfeld«, hatte Malke geschrieben: »Mit tausend Grüßen innigster Dankbarkeit ihrem teuren Freunde Alexander Kurländer.« Darunter stand von der Hand des jungen Gatten: »Wie wollen wir applaudieren, wenn einst ›Dawison II.‹ in unserem Wohnort Triumphe feiert. Aber in so ein Nest kommt er wohl gar nicht. Ich werde froh sein, wenn ich für Barnow ernannt werde.« Stolz zeigte er das Blatt seiner Freundin Jütte, und auch Pater Marian bekam es zu lesen.
»Also doch!« sagte der Greis lächelnd. »Darum warst du so traurig. Aber ›Dawison II.‹ – damit hat's seine Wege.« Aber er selbst fühlte sich in diesen Tagen immer wieder an Senders berühmten Landsmann und Glaubensgenossen erinnert. Auf sein Drängen las er mit ihm den »Kaufmann von Venedig«. Hatte ihn Senders Begabung schon früher oft genug mit freudigem Staunen erfüllt, so fühlte er sich vollends durch die Art, wie er den Shylock las, tief ergriffen; sie mutete ihn an wie ein Wunder der geheimnisvoll waltenden Natur, und als Sender die Worte sprach: »Wenn Ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn Ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn Ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?« wandte er sich ab, damit Sender nicht sehe, wie ihm die Augen feucht geworden. »Es ist ja alles noch roh«, dachte er, »und würde auf der Bühne wahrscheinlich ausgelacht werden, – die eckigen Gesten, die unreine Aussprache! – aber welches Talent steckt in diesem Burschen, welches Gemüt! Das kann ihm Gott der Herr doch nicht ohne Absicht geschenkt haben, er will, daß er ein Künstler wird zur Freude, zur Erbauung der Menschen. Und was ich dazu tun kann, soll geschehen.« Mit wahrer Inbrunst widmete er sich dem Unterricht, ihm war's, als wäre auch dies Gottesdienst.
Aber dies Studium des Shylock sollte auch eine unerwünschte Folge haben. In ihrem Eifer hatten die beiden ganz ihren Nachbar, den Pater Ökonom vergessen. Und so hörte dieser, als er eines Tages – es war um die Mitte des Januar – in der ihm gewohnten Art beschaulichen Gedanken nachhing, deutlich eine fürchterliche Stimme: »Ich will ihn peinigen, ich will ihn martern!« Und gleich darauf: »Ich will sein Herz haben!... Geh, und triff mich bei unserer Synagoge! –« Entsetzt fuhr der Trunkene empor und lauschte. »Juden«, murmelte er, »Juden sind im Kloster und wollen mich töten.« Und als dieselbe Stimme noch gellender und mit geradezu blutdürstigem Ausdruck wiederholte: »Ich will sein Herz haben!« brach er das Hausgesetz, das ihn an die Zelle fesselte, und stürzte zum Prior.
Der hochwürdige Valerian schalt heftig auf ihn ein; daß der verkommene Mönch, der einen starken Fuselduft verbreitete, im Rausch eine Halluzination gehabt, kam ihm viel wahrscheinlicher vor, als daß sich die Juden von Barnow am hellen Tage im Kloster zusammengerottet hätten, um die Mönche zu ermorden. Da jedoch der Pater mit den heiligsten Eiden beteuerte, er habe es deutlich gehört und wolle die schwerste Strafe erdulden, wenn er der Lüge überführt würde, so folgte ihm der Prior kopfschüttelnd auf den Korridor der Pönitenz. Der Bitte des Paters, einige handfeste Fratres mitzunehmen, willfahrte er nicht; »mit diesen fürchterlichen Juden werd' ich schon selbst fertig«, sagte er und betrat lächelnd den Korridor. Aber wie ward ihm, als er nun wirklich aus einer der Zellen eine kreischende Stimme vernahm – und offenbar die eines Juden – die in wilder Freude rief: »Ja! das ist wahr! Geh, Tubal, miete mir einen Amtsdiener!« und dies wiederholte, bis eine andere einfiel: »Keine solchen Grimassen, Sender. Und leiser!« Aber der andere brüllte: »Ich will sein Herz haben!« Da riß der Prior die Tür auf.
Es wäre schwer zu entscheiden gewesen, wer starrer vor Staunen war, die beiden, als sie den Prior erblickten, oder Valerian, als er in einer Zelle seines Klosters einen jungen Juden entdeckte, der mit erregten Mienen und blitzenden Augen dem Pater Marian zurief, daß er jemandes Herz wolle. Unwillkürlich schlug er ein Kreuz, und es währte lange, bis er sich so weit gefaßt hatte, um fragen zu können: »Was suchst du hier? Was geht da vor?«
Aber noch länger währte es, bis ihm Marian antworten konnte, und wohl gar eine Viertelstunde, bis der Prior begriff, nicht um was es sich handelte – das war ihm noch lange nicht klar – sondern daß Pater Marian mindestens bei Vernunft war. Was er von dem Juden halten sollte, der da totenbleich, wie vernichtet mit halbgeschlossenen Augen in einer Ecke lehnte, wußte er freilich nicht, wohl aber, daß er keinesfalls ins Kloster der Dominikaner gehöre. »Geh'«, sagte er ihm, und zu Pater Marian: »Sie kommen heut' nachmittag zu mir.«
Aber Sender konnte dem Befehl nicht sofort folgen: »Hochwürdiger Herr«, stammelte er entsetzt, »erst muß der Fedko da sein, um mich bei der Tartarenpforte hinauszulassen. Denn wenn mich die anderen aus der großen Tür treten sehen, schlagen sie mich tot...«
Zum Glück kam eben Fedko mit seinem Schlüsselbund daher. So sah der Korridor der Pönitenz nun den fünften erschreckten Mann, und vielleicht den entsetztesten von allen. Und als ihm der Prior zurief: »Also du besorgst den Büßern Schnaps und läßt Juden ein?« sank er fast ohnmächtig in die Kniee.
Mit Mühe brachte ihn Sender wieder auf die Beine und bis an die Pforte. »Es ist alles aus«, murmelte der Alte, »mit meinem Dienst, mit dem Slibowitz des Ökonomen, mit deinem Slibowitz. Die Welt geht unter...«
Es sollte glimpflicher kommen. Kopfschüttelnd hörte der Prior die lange Erzählung Marians an, was Sender anstrebte, warum er ihn gefördert, was den jungen Mann noch in Barnow festhalte; dann aber, nach längerem Nachsinnen, sagte er: »Lieber Bruder, Sie wissen, ich bin kein Gelehrter wie Sie, sondern ein dummer Mönch. Ob dieser Sender zum Schauspieler taugt, kümmert mich nichts, ob es ein löbliches Werk ist, ihn zu fördern, will ich nicht entscheiden. Daß aber die Zellen unseres Ordens nach dem Statut unseres erhabenen Begründers, des heiligen Dominikus de Guzman, nicht dazu bestimmt sind, daß wir darin junge Juden zu Schauspielern ausbilden, dies weiß ich ganz genau. Aber andererseits kenne ich Sie und weiß, Sie können nichts Unedles gewollt haben. Durch das Vergangene also ziehen wir einen dicken Strich, aber die Fortdauer des Unterrichts muß ich verbieten. Das braucht ja Sie und ihn nicht gar so sehr zu kränken, da er ohnehin in vierzehn Tagen fort will. Damit ich ihn aber unter allen Umständen los werde, so will ich mir in den nächsten Tagen den Wolczynski und den Strus ins Gebet nehmen. Sie sind ja beide meine Beichtkinder, und namentlich der Strus, der Heuchler, schmilzt, wenn man ihm die Hölle heiß macht. Ich hoffe, die alte Jüdin behält die Pachtung.«
Er kratzte sich an der Tonsur. »Ach ja, um was alles sich ein Prior kümmern muß.... Und noch eins! Sie haben ja diesen Sender so lange unterrichtet, da werden Sie auch Abschied von ihm nehmen wollen? Nun, zum Abschiednehmen darf er noch zu Ihnen kommen, meinetwegen jeden Tag, wo er noch hier bleibt.... So – dies ist meine Entscheidung. Verzeihen Sie, ich bin ein dummer Mönch...«
Der Greis faßte seine Hand und drückte sie. »O«, rief er. »Sie sind der Weiseste der Menschen!«
»Schmeicheln Sie mir nicht!« brauste der Prior auf. »Sonst glaube ich, unrecht getan zu haben, und ich habe mich doch streng ans Statut gehalten – nicht wahr?«