Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Fünfunddreißigstes Kapitel

Er schritt aus so rasch er konnte.

Aber daß sie ihn auch suchten! Daß seine Mutter ihn verfolgen ließ wie einen Verbrecher trotz seines Briefs, trotz seines Vermächtnisses! Jetzt, wo die Gefahr für den Augenblick vorbei war, übermannte ihn die Empörung. O solche Härte, solche Beschränktheit hatte er ihr nicht zugemutet! Aber es sollte ihr nichts nützen, nicht überall befand sich ein Bürgermeister, der ungesetzliche Befehle ausführte, um den Chassidim gefällig zu sein. Sie sollten ihn nicht fangen – nein! »Ich werde, wozu mich Gott bestimmt hat...«

Und er schritt immer schneller aus. Aber so konnte er's nicht lange, er mußte langsamer gehen, dann ganz innehalten, das Stechen in der Brust war allzu schmerzhaft geworden. Nun mußte er heftig husten – da erschrak er tödlich. Das war derselbe widrige, süßlich-salzige Geschmack im Munde, den er nur einmal verspürt und doch nie vergessen: bei jener entsetzlichen Szene vor dem Rabbi. Bebend riß er das Taschentuch hervor und preßte es vor den Mund – ja, Blut. Verzweiflungsvoll blickte er um sich – rings der Morast der Äcker, die durchweichte Straße, nirgends ein Mensch, bei ihm nur der Hund, der ihn wedelnd umsprang. »Mein Herr und Gott«, flehte er, und seine Hand umkrampfte das Gebetbüchlein im Mantel, »lass' mich nicht so vergehen!«

Es schien, als wollte der Himmel sein Gebet erhören. Wohl mußte er immer wieder husten, und zuweilen kam noch ein roter Tropfen über die Lippen gequollen, aber zu einem Blutsturz schien es diesmal nicht zu kommen. Mit zitternden Knien setzte er seinen Weg fort und blickte immer wieder zurück, ob nicht ein Wägelchen ihn überhole, das ihn mitnehmen konnte. Endlich sah er einen Karren herankommen, aber er fuhr auf ihn zu. Ein jüdischer Knabe lenkte ihn. Sender hielt ihn an. Ob er nicht einigen großen Wagen begegnet?

»Den Pojazen? Ja. Vor der Rosatyner Schänke. Eine halbe Meile von hier.«

Sie wurden bald handelseins, der Knabe wandte das Wägelchen und trieb das Pferd unablässig an. »Das ist brav von dir«, sagte Sender.

Der Knabe sah ihn groß an. »Es ist ja mein Vorteil«, sagte er. »Umso schneller erreichen wir sie. Und dann sind Sie so blaß, Herr, grad' als wollten Sie sterben. Meinem Vater ist einmal ein Herr im Wagen gestorben, da hat er viel Verdruß davon gehabt.«

Endlich war das Dorf erreicht. Vor der Schänke hielten noch die Wagen, ein einstiger Möbelwagen mit den Dekorationen und Kostümen, und ein lebensmüder Omnibus fürs Personal. Als Sender abstieg, trat die Gesellschaft eben heraus, die Fahrt fortzusetzen.

»Hurra!« rief Stickler. »Jubelt Kinder! Hoch Kurländer!« Auch die anderen umringten ihn freudig, nur Birk nicht, der mit kurzem Kopfnicken in den Wagen kletterte.

»Aber wie blaß Sie sind!« rief die Schönau. »Und Ihre Lippen sind blutig. Was ist Ihnen?«

»Nichts«, wehrte er hastig ab. »Etwas Husten, ich habe mich erkältet... Fahren wir?« fragte er den Direktor.

»Wie er brennt!« rief Stickler, »der Stätte seiner Triumphe entgegen! Ja, mein Sohn, du sollst die Borszczower als Shylock hinreißen und deine drei Gulden bekommst du obendrein.«

»Fünf!« sagte die Schönau und zog den Fuß vom Trittbrett, »sonst fahr' ich nicht mit.«

Stickler sah sie an. Diese Miene mochte ihm bekannt sein. »Hab' ich ihm fünf versprochen?« fragte er. »Dann natürlich fünf. Der Stickler hält sein Wort!... 'rein!... Vorwärts!...«

Sie kletterten in den Omnibus, nur Können nicht, der seinen Platz neben dem Kutscher des Möbelwagens hatte; dort waren auch irgendwo die Kinder der Linden verpackt. Die Schönau wies Sender seinen Platz zwischen der Linden und der Mayer an, auf dem Mittelsitz, wo das Stoßen des Wagens am wenigsten fühlbar wurde; sie war früher darauf gesessen, nun nahm sie ihm gegenüber Platz. Der Direktor mußte in die Ecke, Hoheneichen zum Kutscher.

»Stinkadores weg!« befahl sie Stickler, als dieser eine Zigarre anzünden wollte. »Und Kurländer wird nicht angesprochen, er soll nicht reden.«

»Wegen des bißchen Husten«, lachte Stickler. Sender aber blickte sie dankbar an. Es fieberte ihn, und er fühlte sich furchtbar schwach. Mit geschlossenen Augen saß er schweratmend da, und nur wenn wieder ein Tropfen kam, führte er das Tuch zum Munde.

»Das passiert den gesündesten Leuten«, sagte Stickler. Und die Mayer erzählte eine lange Geschichte von einem schwindsüchtigen Grafen, der sie unglücklich geliebt und schließlich an Altersschwäche gestorben. Aber die Schönau unterbrach sie: »Schweigt! Man kann auch einmal still sitzen.«

Langsam humpelte der Omnibus durch den tiefen Morast der Heerstraße, die vom Dniester gegen Nordosten führt, – Borszczow liegt nahe der russischen Grenze – zur Rechten und Linken, so weit der Blick reichte, überschwemmtes Heideland und schlammige Äcker. Allmählich nickten die Reisenden ein, Stickler und die »Perle von Temesvar« schnarchten vernehmlich. Nur die Augen der Schönau sah Sender auf sich gerichtet, so oft er den Blick erhob. »Wie geht's?« fragte sie leise.

»Besser«, erwiderte er. Er log, aber als nun die Sonne durchbrach, fühlte er sich wirklich besser, und nachdem er im Wirtshaus, wo sie Mittagsrast hielten, eine Suppe gegessen und etwas Wein getrunken, begann die Mattigkeit in den Gliedern zu weichen. Des Nachmittags kam auch der Husten seltener. »Es wird vorbeigehen«, dachte er, »es wäre ja auch entsetzlich, wenn es nicht vorbeiginge! Jetzt krank werden, sterben! So hart kann der Allgütige nicht sein!«

Es war schon tiefe Dunkelheit, als sie endlich das Städtchen erreichten und vor dem Gasthaus hielten. Der Wirt trat ihnen entgegen. Sender fuhr zusammen – wo hatte er dies häßliche Geiergesicht schon gesehen? Erst der Name, Salomon Wohlgeruch, führte ihn auf die richtige Spur; es war der Bruder jenes »Rebbe« Elias, der ihm einst als Kind den Arm gebrochen. Den Mann kannte er nicht; er war seines Wissens nie in Barnow gewesen.

Sender ging sofort auf die Kammer, die ihm angewiesen war. Er wolle allein sein, bat er, aber er konnte nicht hindern, daß ihm die Schönau selbst den Tee brachte; dann kam Birk mühsam hereingehumpelt und setzte sich an seinem Bette nieder.

»Schonen Sie sich«, sagte er. »Mut, denken Sie an die Zukunft!« Er blieb, bis er an Senders Atemzügen erkannte, daß der Kranke eingeschlummert war. »Die Natur kann nicht so grausam sein«, murmelte er. »So ihr eigenes Werk zu zerstören... Aber sie ist oft so grausam... o wie oft!« Er schlich hinaus, so leise es sein wankender Schritt gestattete.

Als Sender in der Nacht erwachte, sah er beim Schein des Nachtlichts in der Ecke der Stube sich etwas regen. »Moskal!« rief er. Da schlug der Hund aus einer anderen Ecke an. Das Geschöpf drüben war Können. Auf den Zehen kam er geschlichen.

»Sie wachen bei mir?« murmelte Sender gerührt. »Nach einer solchen Reise!«

»Reden Sie nicht!« bat der Kleine. »Schlafen Sie. Mir tut's ja nichts. Ich bin ja von Eisen... Leider!« fügte er fast unhörbar hinzu.

Sender vernahm es nicht. Und darauf schlief er wieder ein. Auch diesmal, wie nach der entsetzlichen Wanderung vom Mittwoch, schien sich die Natur selbst helfen zu wollen. Er schlief bis zur Mittagsstunde, und als er sich erhob, war das Fieber gewichen. Freilich mußte er häufiger als sonst husten, aber nun kam fast kein Blut mehr.

In der Wirtsstube unten begrüßten ihn seine Kollegen – nun waren sie es doch geworden – als wäre er vom Tode erstanden.

»Wir geben den ›Kaufmann‹ erst Mittwoch«, berichtete ihm Stickler... »Die Schönau will's – morgen pausieren wir. Besetzung eines Künstlers wie du würdig... ›Antonio, Marocco, Arragon‹ – Hoheneichen, ›Bassanio‹ und ›Alter Gobbo‹ – Birk, ›Porzia‹ und ›Lanzelot‹ – die Schönau, ›Tubal‹ und ›Lorenzo‹ – Können, ›Jessica‹ und ›Graziano‹ – die Linden, ›Doge‹ und ›Salarino‹ – ich, ›Nerissa‹ und ›Solanio‹ die Mayer... Alle anderen Rollen gestrichen.«

In Senders Zügen prägte sich das helle Entsetzen aus.

»Eine Mustervorstellung wird's«, rief Stickler. »Guter Souffleur hier gewonnen. Schon auf der Probe, Mittwoch zehn Uhr, wirst du Augen machen. Bis dahin bist du Freiherr, kannst spazieren gehen.«

Das tat Sender nicht. Er hielt sich den Rest des Tages auf seiner Stube und sah sich auch nur einen Akt vom »Kabale und Liebe« an. Der Saal war noch schmutziger und kleiner, als der in Zaleszczyki, aber er war nahezu gefüllt, und die Leute applaudierten aus Leibeskräften. Das beruhigte ihn und er schlief, trotz des leisen Bangens vor seinem ersten Debüt, bald ein und es war auch am Dienstag nahezu Mittagszeit, als er in der Wirtsstube erschien.

Dort malte Können eben die morgigen Zettel fertig. »Damit Sie sich bei ihrem ersten Auftreten nicht ärgern«, sagte das Männchen, »habe ich diesmal die christlich-jüdischen Sachen nicht gemacht, obwohl das Stück noch besser dazu taugt als Deborah.« In der Tat war der Zettel von solchem Doppelspiel frei, sogar die Titel hüben und drüben dieselben, und es waren nicht weniger als fünf: »Der Kaufmann von Venedig« oder »Christen und Juden in Handel und Wandel« oder »Was in einem Kästchen stecken kann« oder »Wie schneidet man einem lebendigen Menschen ein Pfund Fleisch heraus, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen« oder »Liebe, Rachgier und Verzweiflung«. Sender war angekündigt als: »Herr Alexander Kurländer, genannt der ›zweite Dawison‹, eines der größten Talente der Vergangenheit und Gegenwart, Mitglied mehrerer Weltbühnen, auf der Durchreise von Berlin nach Wien unwiderruflich nur dies eine Mal als Gast.«

Er erschrak. »Was werden sich die Leute versprechen!« rief er.

»Weniger als sie finden werden«, sagte Können. »Ich habe ihnen bisher nichts über die Probe gesagt«, fuhr er stammelnd fort. »Sie glauben – aus Neid – und da haben Sie nicht ganz unrecht – es ist auch Neid dabei gewesen. Aber die Hauptsache war der Gedanke: ›Du bist ja nicht wert, ihn zu loben.‹« Er faßte Senders Hand und drückte sie. »Hier, zur Erinnerung habe ich einen eigenen Zettel für Sie gemalt. Geben Sie acht, er kommt einmal in ein Museum, so wahr ich ein elender Stümper bin. Aber wie fühlen Sie sich? Besser, hoff' ich. Denn die Nacht war gut – nur zweimal haben Sie gehustet, sind aber nicht erwacht.«

»Sie haben wieder bei mir gewacht?« rief Sender gerührt.

»Ja, nach der Vorstellung habe ich mich hineingeschlichen und in aller Frühe wieder hinaus. Der Moskal ist ein kluges Tier, er hat gewußt, ich tu' seinem Herrn nichts... Danken Sie mir nicht«, wehrte er hastig ab, als Sender es tun wollte.

Den Abend verbrachte Sender mit Birk auf dessen Stube. Der unglückliche Mann war frischer, als er ihn je zuvor gesehen, und erzählte viel aus den Glanzzeiten seines Lebens, namentlich vom Burgtheater, dann vom Elend der Schmieren. Sender verstand die Absicht. Um neun Uhr schickte ihn Birk fort. »Ins Bett. Morgen müssen Sie gesund sein.«

»Ich werde es sein«, erwiderte Sender mit leuchtenden Augen. Es war ja alles gnädig vorbeigegangen. Und welche Zukunft harrte sein!

Diesmal verriegelte er die Tür. Ihm war der Gedanke peinlich, daß der arme Mensch, der den Tag über sich so schwer mühte, nun auch vielleicht diese Nacht auf der Diele verbringen sollte, als wäre auch er sein Hund. Dann träumte er lange seligen Herzens mit offenen Augen, aber noch schönere Träume brachte ihm der Schlaf. Da war alles, was er von der Zukunft erwartete, Wirklichkeit – er stand auf einer Bühne und blickte in ein großes, vollerleuchtetes, dichtbesetztes Haus hinein, es war noch viel, viel größer, als der Theatersaal in Czernowitz, alle Sitze mit rotem Samt ausgeschlagen und auf ihnen schöne Frauen und Herren mit Orden und Offiziere, und da – da war der junge Kaiser... Er hatte eben die Szene mit Tubal beendet, und alle applaudierten, sogar der Kaiser, und riefen: »Kurländer!« Einige klopften auch auf den Boden und dies Klopfen ward immer stärker und eine Stimme rief: »Sender!« die Stimme seiner Mutter. Aber wie kam sie ins Burgtheater? Nun jedoch schwiegen alle anderen Stimmen und nur sie rief: »Sender!«

Er fuhr empor und rieb sich die Augen. Barmherziger Gott, das war ja kein Traum mehr. Es war heller Tag, und das die Kammer im Gasthof zu Borszczow, und draußen klang das Klopfen und Rufen seiner Mutter: »Sender! Mach' auf! Es nützt dir nichts!«

Fast ohnmächtig sank er in die Kissen zurück; in tollem Wirbel kreisten seine Gedanken. Aber nur wenige Sekunden, er sprang aus dem Bette ans Fenster. Die Kammer lag ebenerdig; eh' sie etwa die Tür sprengen ließ, war er längst angekleidet und im Freien. Aber das zuckte ihm nur so durch den Sinn. Fliehen? Warum? Und als es draußen wieder klang: »Es nützt dir nichts«, warf er trotzig den Kopf zurück. »O doch«, dachte er, »mein gutes Recht über mich selbst wird mir nützen.«

»Ich öffne«, sagte er. »Warte, bis ich mich angekleidet habe.«

Als er fertig war, legte er die Hand auf das Büchlein, das auf dem Nachttisch lag. »Gott, laß mich nicht vergessen, daß es meine Mutter ist.« Um Stärke brauchte er nicht zu flehen.

Er öffnete. Die Mutter trat ein, hinter ihr schob sich der Marschallik in die Stube. Moskal fuhr die Eintretenden bellend an. Sender ließ ihn kuschen. Das war das einzige Wort, das er hervorbringen konnte, so tief erschütterte ihn der Anblick der Mutter; eine alte, aber rüstige Frau hatte er daheim gelassen, eine gebrochene Greisin stand vor ihm. Auch sie sah ihn starr aus entsetzten Augen an; vielleicht ebenso seiner Tracht wie seines leidenden Gesichts wegen.

»Mutter«, begann er endlich. »Du bist umsonst gekommen... Es tut mir leid, daß du meinen Brief nicht verstehen wolltest...«

»O, wohl habe ich ihn verstanden«, rief sie. »Und was ich noch nicht gewußt habe, das habe ich von der Wirtin in Zaleszczyki und dem Wirt hier lernen können. Ein Abtrünniger, der mit anderen Verworfenen durch Possen sein Leben fristet. Das ist das Große, was dir dein Herz gebietet und wozu dich Gott bestimmt hat!«

»Da mußt du auch andere fragen«, erwiderte er. Er suchte ihr klar zu machen, welches Ziel er sich gesteckt, verwies auf Nadlers Briefe, sein Engagement in Czernowitz.

Sie hörte ihn ungeduldig an. »Wahnsinn«, murmelte sie immer wieder dazwischen. »Wahnsinn und Sünde!«

Der Marschallik aber fragte: »Sender, du warst im vorigen Jahr so krank – und jetzt hast du wieder Blut gehustet, bis du für ein solches Leben gesund genug?«

»Mit Gottes Hilfe – ja!«

»Ruf' dabei Gott nicht an!« rief sie wild. »Du bist krank, mußt bei diesem Leben bald zu Grunde gehen. Aber auch wenn du gesund vor mir ständest, ich würde dich beschwören: »Kehr' um, so lange es Zeit ist! Komm' heim!« Und als er den Kopf schüttelte, knirschte sie: »Dann zwing' ich dich. Die Gerichte wissen, daß ein Minderjähriger unter dem Willen seiner Mutter steht.«

»Probier's!« erwiderte er finster.

Sie wollte noch heftiger werden, da trat der Marschallik dazwischen.

»Nicht so!« bat er. »Ob du gezwungen werden kannst, weiß ich nicht, die Leut' reden verschieden. Aber du sollst nicht gezwungen werden. Nein, bei Gott! Denk' an deine Gesundheit und an deine alte Mutter. Du bringst sie vorzeitig ins Grab. So sieh doch nur!«

Sender vermochte nichts zu erwidern, er stöhnte nur auf und wandte sich ab. Und so blieb er auch, als sie auf ihn zutrat.

»Sender!« rief sie mit gefalteten Händen. »Du hast geschrieben, daß ich mehr für dich getan habe, als sonst eine Mutter – ist dies dein Dank? Mit Geld willst du es bezahlen? Hier ist dein Geld!« Sie riß eine Brieftasche hervor und warf sie auf den Tisch. »Zähl' nach, es fehlt nichts!«

Ihr Zorn gab ihm die Fassung wieder. »Ich nehm's nicht!« stieß er hervor. »Es gehört dir! Und alles, was ich verdienen werde. Aber mit meinem Leben kann ich nicht zahlen!«

»Und so soll ich es tun!« schrie sie auf. Im nächsten Augenblick sank sie zu seinen Füßen nieder. »Sender«, schluchzte sie, »deine Mutter liegt vor dir auf den Knien und bettelt um ihr Leben! Aber nein – nicht darum – nur um eine ruhige Sterbestunde.«

Er hob sie auf und umfaßte sie. »Zerreiß' mir nicht das Herz!« murmelte er mit bleichen Lippen... »Eine ruhige Sterbestunde! – Glaubst du, daß Gott so richtet wie Rabbi Manasse? Du kannst in Freuden leben, in Freuden sterben, auch wenn dein Sohn Schauspieler wird!«

»Nein!« schrie sie auf. »Der Rabbi? Das braucht mir kein Rabbi zu sagen!«

Wieder mischte sich der Marschallik ein. »Komm' mit uns, Sender, sprich mit unserem Stadtarzt! Vielleicht beruhigt er die Mutter. Auf einige Wochen kann es dir ja nicht mehr ankommen.«

»Nein!« rief sie. »Auch wenn es der Arzt erlauben würde. Ich darf's nicht zulassen. Entscheide dich!«

»Ich habe mich entschieden«, erwiderte er. »Sehr viel darf eine Mutter von ihrem Kinde verlangen – so viel nicht!«

Wieder wollte sie sich zu seinen Füßen stürzen. Der Marschallik hielt sie zurück. »Frau Rosel«, sagte er. »Er ist krank. Ihr werdet es werden. Schont ihn und Euch und scheidet in Frieden! Wie Gott will – was zu sagen war, ist gesagt.«

»Nein, ich geh' nicht!« schrie sie gellend. »Nein! Nein! Nein!« Sie war unheimlich anzusehen. Die Augen glühten wie im Wahnsinn, sie hatte alle Herrschaft über sich verloren. »Mein Leben auf Erden hab' ich dem fremden Kind geopfert, mein Leben im Jenseits nicht! Ich will ruhig sterben, ich will seinen Eltern sagen können –«

»Mutter«, stammelte Sender entsetzt. »Barmherziger Gott«, dachte er, »sie ist wahnsinnig geworden...«

Auch der Marschallik war bis in die Lippen erbleicht. »Frau Rosel«, murmelte er, »um Gotteswillen, was redet Ihr da?«

»Nun ist mir alles gleich!« rief sie wild. »Hier war ich in Jammer und Elend um seinetwillen – meine Seligkeit geb' ich nicht für ihn. Ehe sein armer Vater, Mendele Kowner, im Straßengraben gestorben ist, war sein letztes Wort: ›Alles soll mein Sohn werden, nur kein Schnorrer!‹ Und deiner Mutter, mit der Friede sei, hab' ich's gelobt, du wirst es nicht...« Sie preßte die Linke wie in Todesangst aufs Herz, die Rechte reckte sie empor. »Was soll ich ihnen nun sagen? Was? Was?!«

Sender stand regungslos, nur die bleichen Lippen zitterten. Starr blickte er sie an, dann den Marschallik. Als er die Augen des Alten voll tiefsten Mitleids auf sich gerichtet sah, schloß er die seinen und sank wie vernichtet auf den Stuhl, neben dem er stand.

Darauf war es sehr lange still, man vernahm nur die erregten Atemzüge der drei Menschen.

Dann erhob sich Sender wankend, tastete nach dem Büchlein und führte es an die Lippen. Hierauf barg er sein Gesicht und brach in heftiges Schluchzen aus.

Auch Frau Rosel begann heftig zu weinen. Sie wollte auf ihn zutreten, aber der Marschallik hielt sie zurück.

»Kommt«, flüsterte er, und als sie ihm nicht folgte, wiederholte er befehlend: »Kommt. Nun ist er nicht Euer Sohn mehr, laßt ihn mit seinen Eltern allein!« Und zu Sender gewendet: »Du triffst uns unten.«

Zwei Stunden mochten vergangen sein, Sender ließ sich noch nicht blicken. Da schlichen die beiden an seine Tür und wagten endlich einzutreten.

Sie trafen ihn in derselben Haltung, wie sie ihn verlassen, die eine Hand hielt das Büchlein fest, die andere deckte die Augen. Als sie vor ihn traten, richtete er sich auf. So schmerzvoll hatte der alte Mann in seinem langen Leben noch keines Menschen Antlitz gesehen, jedoch Senders Stimme klang zwar tonlos, aber fest: »Ich komme mit!«

»Sender!« jubelte sie auf und wollte auf ihn zustürzen. Der Marschallik hielt sie zurück.

»Ihr müßt es ihm versprechen«, sagte er, »daß Ihr nichts dagegen habt, wenn es unser Arzt erlaubt... Er überlebt sonst den Schmerz nicht« flüsterte er ihr zu. Dann wieder laut: »Es ist nicht für immer. Die Toten dürfen nicht verlangen, daß sich die Lebenden für sie opfern.«

»Wie Gott will!« erwiderte Sender. »Meine Eltern – das würde ich auf mein Gewissen nehmen. Aber hat mir eine Fremde ihr Leben geopfert, so darf sie mein Leben dafür verlangen.«


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