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Der Held dieser Geschichte – und zwar in Wahrheit ein Held, wenn man diese Bezeichnung nicht einem Menschen, der mit Aufgebot aller Kraft leidvoll nach einem hohen Ziele ringt, ungerecht weigern will – hatte auch einen heroischen Vornamen. Er hieß ›Sender‹, in welcher gedrückten, gleichsam ausgeknochten Form der stolze Name Alexander, den die Juden in einer glorreichen Zeit ihrer Geschichte von den Hellenen übernommen, unter ihren gequälten, geknechteten Nachkommen im Osten Europas fortlebt. Minder heldenhaft klingt sein Zuname: Glatteis, den irgend ein Zufall oder die Laune eines Beamten seinem Großvater zugeteilt hatte.
Aber wenige wußten, daß er so hieß, der Name stand eigentlich nur in seinem Geburtsschein, in seinem Konskriptionszettel und in dem Totenschein. In Barnow jedoch ward er nie anders genannt als »Sender der Pojaz« oder noch häufiger »Roseles Pojaz«. Denn die Rosele Kurländer draußen im Mauthause, am Eingang des Städtchens, hatte ihn aufgezogen, und er benahm sich so sonderbar: wie ein »Pojaz« meinten die Leute. »Pojaz« aber ist das korrumpierte Wort für »Bajazzo«.
Auch die Rosel war nur seine Pflegemutter. Sender war mit niemand im Städtchen verwandt, auch sonst mit keinem Menschen in der ganzen weiten Welt. Freilich war er in Barnow geboren und stand im Buch der Gemeinde verzeichnet. Die Leute hätten ihn nicht fortjagen dürfen, selbst wenn er ihnen zur Last gefallen wäre, wie die Scholle das Samenkorn, das ihr der Wind zugetragen, dulden muß, auch wenn es zum Unkraut wird. Aber deshalb ist es doch nur ein Zufall, daß es hier gehaftet und nicht eine Meile weiter. Er freilich hatte die Empfindung nicht, daß er nur so ein Korn im Winde gewesen, und als sie ihn spät genug überkam, bestimmte sie sein ganzes Leben. Den Leuten von Barnow aber war er immer ein Fremder, und es wunderte sie, daß er so lange unter ihnen blieb, denn seine Herkunft war ihnen ja allen vertraut.
Sein Vater, Mendele Glatteis, war ein »Schnorrer« gewesen, ein fahrender Mann, der rastlos umherzog und nichts, gar nichts sein eigen nennen konnte.
Es gibt sehr viele solche Nomaden unter den Juden des Ostens; tausend und abertausend verurteilen sich in dieser Weise freiwillig zur bittersten Armut, zum Verzicht auf all die Güter, die auch dem Dürftigsten das Leben schmücken und erträglich machen: Heimat, Weib und Kind.
Man sagt, der Hang zur Trägheit, die Arbeitsscheu erkläre diese Erscheinung, und hat dabei insoweit recht, als sicherlich kein »Schnorrer« zu einer geordneten Tätigkeit zu bringen ist. Da fruchten nicht Güte, noch Strenge, er würde lieber verhungern, als arbeiten. Aber darum allein brauchte er noch nicht durch aller Herren Länder zu ziehen; so schwer auch die Sorge ums tägliche Brot auf den Juden des Ostens lastet – die ärmsten Menschen der Erde finden sich gewiß im polnischen und russischen Ghetto –, so ist doch dort noch keiner verhungert, so lang die anderen leidlich satt wurden. Der Fleißige verwünscht den Bettler, aber wehe dem, der gegen den Bruder hartherzig sein wollte, er wäre geächtet. So kann der Träge nirgendwo besser fortkommen als dort, wo ihm die fromme Satzung unter allen Umständen den Unterhalt sichert; in der Fremde hat er nicht bloß mit der Polizei zu kämpfen, sondern auch mit den einheimischen Bettlern, die den Zugereisten grimmig verfolgen.
Es hat also noch andere Gründe, als die Trägheit, daß dennoch alljährlich, und zwar in unseren Tagen genau ebenso, wie vor hundert Jahren, Tausende von Ost nach West, von West nach Ost wandern, und daß vollends Hunderttausende innerhalb Halbasiens von der Leitha bis zur Wolga, von der Newa bis zum Bosporus ihr unstetes, armseliges Wesen treiben. Hier spielt die Wanderlust mit, die dies Volk einst noch weiter geführt, noch mehr zerstreut hat, als ohnehin durch seine furchtbaren Geschicke bedingt war, dann die Eitelkeit des »Schnorrers«, vor allem aber das Bedürfnis der seßhaften Leute nach dem Verkehr mit diesen fahrenden Gesellen.
Das klingt seltsam und dennoch ist es jener Grund, der das Schnorrertum forterhält. Auch der Jude Halbasiens weiß sehr wohl, daß es sich da um eine rechte Landplage handelt; er empfindet dies umso deutlicher, als er selbst nichts übrighat. Die fromme Satzung aber würde höchstens hinreichen, dem Fremden den Bissen Brot zu gewähren, nicht aber den freundlichen Empfang, der ihm wird, namentlich in kleinen Gemeinden, die abseits der großen Heerstraßen liegen. Nur die wohlhabendsten Leute des Ortes wagen es, dem eintretenden Vagabunden zunächst ein bärbeißiges Gesicht zu zeigen, aber auch sie lenken rechtzeitig ein, damit er ihnen nicht davongehe.
Am Wochentag ist er nur eben willkommen, aber am Festtag unentbehrlich – was wäre ein Sabbat ohne »Schnorrer«?! Denn es ist ein überaus dumpfes, stilles, eintöniges Leben, das der Jude in diesen Kotstädtchen des Ostens führt; noch gleichförmiger verbringt höchstens der slawische Bauer seine Tage, und der empfindet ihren Druck weit weniger, weil sein Geist ganz ungeweckt ist. Der Jude aber hat hebräisch lesen und schreiben gelernt; die Thora, der Talmud haben seinen Verstand bis zur Spitzfindigkeit geschärft, ihm einen heißen Wissensdurst erweckt, aber befriedigen kann er ihn nur immer aus derselben Quelle: dem uralten Wissen der Väter. Von der modernen Bildung hält ihn ja ebenso der Wille der Machthaber, wie der eigene fromme Wahn fern!
Nachdem er von Morgens bis zum Abend für die Notdurft des Lebens gesorgt, möchte er erfahren, was in der Welt vorgeht, ob sich der Deutsche und der Franzose vertragen; vor achtzig Jahren hat er wissen wollen, ob Napoleon noch nicht aus St. Helena zurückgekehrt ist, heute, ob Bismarck nicht wieder Reichskanzler ist, denn Napoleon wie Bismarck sind für ihn buchstäblich unsterbliche Menschen. Seine Zeitung will der Mann haben, und die gedruckte christliche nützt ihm nichts, weil er sie nicht lesen kann. Auch ist ihm nichts lieber, als ein guter Witz, ein »gleiches Wörtel«, das irgend eine schwierige Talmudstelle scharfsinnig erklärt oder doch so, daß man über die Auslegung lachen kann; auch nach Liedern oder Gassenhausern, nach einem »Spiel« ist er begierig. Und im Ghetto gibt es keinen gedruckten Anekdotenschatz, kein Konzert, kein Theater.
So hat es denn der Himmel gnädig gefügt, daß es dort wenigstens »Schnorrer« gibt. Denn der richtige Schnorrer ist alles zugleich: Witzbold, Sänger, Schauspieler, vor allem aber die lebendige, zweibeinige Zeitung. Vor den gedruckten hat diese Zeitung voraus, daß sie immer in jenem Format erscheint, das dem Abonnenten wünschenswert ist; will er in Kürze bedient sein, in Duodez; liebt er die Ausführlichkeit, in Folio. Auch kann man gleich fragen, wenn man etwas nicht versteht, und findet immer, was man finden will: wer Schnurren liebt, bekommt sie aufgetischt und die Staatsgeschichten nur als Anhang; der Politiker des Ghetto aber kann die längsten Leitartikel genießen, immer nur die hohen diplomatischen Affären, mit einem Feuilleton wird er nicht belästigt. Freilich lügt der Schnorrer oft, während in der gedruckten Zeitung immer nur die Wahrheit steht; auch ist seine Auffassung der Tatsachen oft eine subjektive, ja geradezu einseitige, während in jedem Leitartikel die einzige Meinung zu finden ist, die man als vernünftiger Mensch über ein Ereignis haben kann.
Aber dafür leistet er daneben auch noch Besonderes, was sogar ein Weltblatt nicht gewähren kann. Denn keine andere Zeitung singt und führt komische Soloszenen auf, und so viel Anekdoten auf einmal, wie er mitbringt, könnte auch keine bieten und erschiene sie dreimal täglich in der Größe eines Bettlakens.
Darum braucht der Jude des Ostens seine »Schnorrer«, und es gibt viele unter diesen Landstreichern, die sich die Kundschaft förmlich auswählen können und nicht für jeden zu haben sind, der sie als Gäste begrüßen will. Aber auch bei jenen, die er seines Besuches würdigt, bleibt der »Schnorrer« kaum länger als einen Tag, und selbst in einer größeren Stadt kaum länger als eine Woche. Die Unrast treibt ihn hinweg, aber auch die Klugheit, die Eitelkeit. Er will immer neu, anziehend, willkommen bleiben.
Man sieht, das »Schnorrertum« ist eine Erscheinung im Volksleben des Ostens, die so sehr an die eigentümlichen Verhältnisse wie an den Volkscharakter gebunden ist, daß man in aller Welt und Geschichte nichts Gleiches finden könnte.
Es läge ja nahe, an den »Schmieren«-Künstler zu denken, wie er bei uns in Deutschland von Dorf zu Dorf, von Flecken zu Flecken zieht, durch seine Talente die Leute rührt oder erfreut, und dadurch sein Brot erwirbt, wenigstens zuweilen. In der Tat verdankt auch er, wie der »Schnorrer«, die Möglichkeit, sein Dasein zu fristen, jenem dunklen Drang der Menschenbrust, der auch den Rohesten nicht fehlt, dem Drang, zuweilen aus der Tretmühle seines Lebens ins Freie, aus der platten Wirklichkeit in die Welt des schönen Scheins zu flüchten. Aber der »Schnorrer« ist unendlich vielseitiger und dann ist seine soziale Stellung eine ganz andere, eine viel schlimmere, sollte man denken. Denn der wandernde Komödiant bettelt nur, wenn er durch seine »Kunst« nicht genug verdient, während es beim Schnorrer selbstverständlich ist, daß man ihn beherbergt, beköstigt und zum Abschied eine kleine Wegzehrung reicht. In Wahrheit ist diese Stellung eine weit bessere. Der »Schnorrer« blickt nicht bloß in heimlichem Selbstgefühl auf den Seßhaften herab – das tut ja wohl auch der »Schmieren«-Künstler –, sondern läßt ihn auch oft genug seine Überlegenheit fühlen, und eine andere Behandlung, als die eines Ebenbürtigen, nimmt er höchstens von den Reichsten hin, in der Regel aber überhaupt von keinem. In seinen Augen ist eben Broterwerb keine menschenwürdige Beschäftigung, er dünkt sich nicht allein klüger, witziger, gebildeter – das ist er zumeist wirklich –, sondern auch vornehmer als seine Gönner; vollkommen gleich aber fühlt er sich ihnen schon durch die Satzungen des Glaubens, der nur Brüder kennt und keinen anderen Adel, als den der Gelehrsamkeit. Was gäbe der deutsche Dorfkomödiant darum, wenn er sich so fühlen dürfte, wie der »Schnorrer«!
Aber auch an den Hofnarren des Mittelalters darf man nicht denken, obgleich der Vergleich schon etwas zutreffender wäre: auch er war in allen Bedürfnissen von dem Herrn abhängig und durfte ihm dennoch die Wahrheit sagen. Aber der Hofnarr war deshalb doch ein gemieteter Diener, der »Schnorrer« aber ist ein freier Mann. Ihn drückt keine Sorge um Weib und Kind, um den kommenden Tag; erlebt er ihn, so werden sich auch Speise und Nachtlager für ihn finden, erlebt er ihn nicht, ein Grab auf dem nächsten Judenfriedhof. Wenn nur seine Feinde nicht wären, die Polizei und die einheimischen Bettler! Aber dann schiene ihm sein Leben eben gar zu schön, und etwas Trübsal muß jeder Mensch haben, schon der Abwechslung wegen...
Freilich, nicht jeder »Schnorrer« fühlt sich so glücklich. An manchem nagt die Qual ungestillten Ehrgeizes, der Neid auf die begabteren Kollegen. So kann nur ein Dichterling den wahren Poeten hassen, wie der unfähige »Schnorrer« den echten, richtigen. Auch hier nützt der Fleiß allein nichts, und sogar die Streberei nicht auf die Dauer; das beste ist die »Gabe von oben«. Zum richtigen »Schnorrer« muß man geboren sein, wie zum Dichter.
Einer dieser Echten war der Vater des Sender, Mendele Glatteis, den sie nach seiner litauischen Geburtsstadt den »Kowner« nannten, denn von den »christlichen« Familiennamen, die ihnen durch den Willen der Regierung aufgezwungen worden sind, machen die Juden im Osten untereinander noch heute keinen Gebrauch, geschweige denn zu seinen Tagen; er war am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts geboren.
Der Wille der Eltern hatte ihn zum Talmudisten bestimmt, weil er früh treffliche Anlagen zeigte und schon als Zehnjähriger mit den Gelehrten über die schwierigsten Fragen, die sie beschäftigten, zu disputieren wußte. Seltsame Fragen! – Seit Jahrhunderten werden sie in jeder »Klaus«, wie die jüdischen Studierstuben des Ostens heißen, erwogen, gründlich, mit Aufgebot aller Geistesschärfe, aber noch sind sie nicht ganz gelöst.
Kein Wunder, die Fragen sind eben gar zu schwierig! Zum Beispiel, an welchem Tage Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis gepflückt hat. Ein Sabbat war es gewiß nicht, denn da darf man keine Früchte pflücken, aber welcher Wochentag?! Oder von welcher Art die Leiter gewesen ist, die Jakob im Traum gesehen hat? Natürlich keine Hängeleiter, die an den Wolken befestigt war und bis auf die Erde hinabreichte, denn es steht ja geschrieben, daß sie auf der Erde stand und mit der Spitze an den Himmel rührte. Aber war es eine Schiebeleiter, die zusammenzulegen war, oder bestand sie aus einem Stück? War sie aus Holz, aus Eisen oder aus was sonst? Und vor allem: wieviel Sprossen hatte sie? Das aber hängt mit der Frage zusammen, ob die Engel, die daran auf und nieder stiegen, lange oder kurze Beine hatten. Wie also waren die Engel gebaut? Darauf allein kommt es an, denn wohl wissen wir ja, daß sie Flügel haben, aber in jener Nacht machten sie keinen Gebrauch von ihnen, es steht ausdrücklich geschrieben: »Sie stiegen«. Daraus aber ergibt sich die weitere Frage: Warum stiegen sie, warum flogen sie nicht von Sprosse zu Sprosse? Und dann: »Der Herr stand oben darauf« heißt es in der Heiligen Schrift. Auf der obersten Sprosse also? Oder hatte die Leiter oben eine Plattform? Und wenn diese, wie breit war sie? Aber das sind im Grunde noch naheliegende Fragen im Vergleich mit jenen anderen, die für scharfe Augen zwischen den Zeilen der Heiligen Schrift stehen. Im Lobgesang Mosis wird der Herr gerühmt, weil seine Rechte die Ägypter ins Rote Meer versenkt. Was aber tat zu selbigen Zeit des Herrn Linke? Darüber steht nur eines fest, sie hat nicht etwa das Meer geteilt, denn das vollbrachte, wie geschrieben steht, der Atem des Herrn. Was also verrichtete sie, oder ruhte sie etwa ganz?...
Die Jahre kommen und gehen und werden zu Jahrzehnten, zu Jahrhunderten, immer neue Gebiete des Wissens tauchen auf und unzählige Arbeiter des Geistes mühen sich um sie und häufen sie höher und höher empor, im Osten aber grübeln sie noch heut' wie im Mittelalter über die Linke des Herrn, den Apfelbiß und die Himmelsleiter. Und das ist noch heute dort der einzige Weg, sich als »feiner Kopf« hervorzutun.
Das gelang auch unserem Mendele. Nachdem er den Körperbau der Engel auf den Zoll festgestellt und nachgewiesen, daß Gottes Linke in jenem Augenblick wahrscheinlich nichts getan, beschlossen die Eltern, ihren Einzigen zu einer »Leuchte in Israel« zu machen, und der große Rabbi von Kowno nahm ihn als Schüler in sein Haus auf.
Es ging zunächst alles gut. Mendele machte unerhörte Fortschritte, und darum sah der Gelehrte mild darüber hinweg, daß sich der Knabe viel in den Straßen umhertrieb, seine Mitschüler neckte und sogar ihn selbst nicht verschonte. Der Weise hatte nämlich die Gewohnheit, sich oft zu kratzen – vielleicht auch war es keine Gewohnheit, sondern er hatte jedesmal Grund dazu, und so oft er sich kratzte, tat es auch sein Lieblingsschüler und in ganz derselben Art. Aber Mendele behauptete, es geschähe nur, wenn es eben sein müßte, und erinnerte an den Talmud, wo die Freundschaft zwischen David und Jonathan dadurch veranschaulicht wird, daß es beide stets im selben Augenblicke gehungert und gedürstet habe. Die innige Sympathie, die ihn mit seinem Lehrer verbinde, äußere sich hier eben darin, daß es beide zu gleicher Zeit jucke. Der Rabbi zweifelte; indes, möglich war es doch, und so ließ er die Sache hingehen, so unangenehm ihm das Lächeln der anderen Schüler war.
Er nahm es sogar geduldig hin, als sich die Sympathie in immer deutlicheren äußeren Zeichen entlud. Nun mußte Mendele in derselben Sekunde husten, sich räuspern und schneuzen, wie der Gelehrte, ja, die Sympathie zwang ihn allmählich sogar, in demselben Tonfall, mit derselben heiseren Stimme zu sprechen. Ganz Kowno lachte, aber zu ändern war das nicht.
Da machte ein allerdings seltsames Ereignis dem Unterricht ein Ende.
Zu den schwierigsten Fragen, die der Talmud abhandelt, gehört auch die des Blutflecks im Ei; es ist für den Gläubigen genießbar oder nicht, je nach der Form des Flecks. Nun sind aber die Weisen des Talmuds trotz aller Mühe, die sie auf die Sache gewendet haben, zu keiner völligen Eintracht gelangt, und alle Formen haben sie ja auch unmöglich voraussehen können. So muß denn jeder Gelehrte, so oft er befragt wird, sein Hirn gehörig anstrengen und er wird oft befragt, weil eine sparsame Hausfrau lieber den Gang zum Rabbi macht, als das Ei zu opfern.
Nun begab es sich also, daß Mendeles Mutter plötzlich von diesem Mißgeschick so oft ereilt wurde, wie keine andere Hausfrau; fast jeden zweiten Tag brachte Mendele in ihrem Auftrag ein Ei zum Rabbi. Und immer hatte der Blutfleck höchst seltsame Formen, die dem Gelehrten die Entscheidung umso schwerer machten, als er sehr kurzsichtig war. Die Sache wurde immer unheimlicher; bald hatte der Fleck die Gestalt eines Kreuzes, bald eines Fragezeichens, bald eines Buchstabens. Die Henne der Frau Chane Glatteis schien geradezu verhext!
Eines Tages aber brachte Mendele nach längerer Pause ein Ei zur Schule, dessen Blutfleck wohl unerhört gestaltet sein mußte, denn der Knabe war selbst in sichtlicher Erregung und verfolgte die Bewegungen des Rabbi mit Spannung. Langsam beugte sich der große Gelehrte auf das Ei nieder, blickte es an und fuhr entsetzt zurück, brachte den Fleck noch einmal dicht vor die Augen und schnellte dann bleich und erregt empor.
»Das war noch nie da, seit die Welt steht!« schrie er. »Diese Henne muß ich sehen!«
Der Wunsch war begreiflich. Der Blutfleck hatte diesmal die Form einiger hebräischer Buchstaben, die zusammen das Wort »Esel« bildeten. Ein so merkwürdiges und verruchtes Tier hatte die Welt noch nicht gesehen.
»Ich will Euch die Henne bringen, Rabbi«, sagte Mendele dienstfertig.
»Nein, da seh' ich selbst nach!« rief der Rabbi und eilte zur Mutter seines Schülers.
Mendele begleitete ihn dicht vors Haus, dort drückte er sich und ging spazieren.
Als er heimkam, empfing ihn unter einem Hagel von Schlägen und Vorwürfen die Kunde, daß ihn der Rabbi aus seiner Schule ausgeschlossen, weil er sein Spiel mit dem Heiligsten getrieben. Denn wohl hatte Frau Chane eine Henne, aber dies brave Tier legte immer Eier ohne Blutflecken. Die hatte Mendele mit roter Farbe auf den Dotter gemalt und schließlich auch, durch den Eifer und die Kurzsichtigkeit des großen Gelehrten immer kühner gemacht, die sonderbare Huldigung.
Noch einen Versuch machten die Eltern des damals zwölfjährigen Knaben, ihn jenem frommen Beruf zuzuführen, zu dem ihn seine seltenen Gaben zu bestimmen schienen. Sie vertrauten ihn dem berühmten Talmudisten Rabbi Meyer in Wilna an, der neben dem Ruf großer Gelehrsamkeit auch den einer besonders festen Hand hatte.
In der Tat schien der Rabbi mit Mendele leicht fertig zu werden, und als sich die wachsende Sympathie des Schülers für den Lehrer auch hier in ähnlichen Formen zu äußern begann wie in Kowno, nahm dies bald ein Ende. Denn so oft diese geheimnisvolle Kraft den Knaben trieb, den Rabbi Meyer durch Nachäffung zu verhöhnen, erwachte sie auch in diesem und zwang ihn, dem geliebten Schüler eine ungeheure Maulschelle zu geben. Kein Wunder, daß sich die Sympathie immer seltener äußerte, immer geringer wurde und schließlich in Haß umschlug.
Das ging so bis zu Mendeles dreizehntem Geburtstag fort. An diesem Tage, der im Leben eines jeden jüdischen Knaben einen wichtigen Einschnitt bildet – er wird da konfirmiert und fortab beim Gottesdienst als Erwachsener mitgezählt –, schien sich auch in Mendele eine große Veränderung vollzogen zu haben: der Zorn gegen den strengen Lehrer schlug in sanfte Ergebung, der Haß in Liebe um. Es ist Sitte, daß jeder Lehrer seinen Schüler zu diesem Geburtstage so reich, als ihm irgend möglich, beschenke; auch Rabbi Meyers Geschenk war sehr wertvoll, aber nur in moralischem Sinne. Er hielt dem Knaben nämlich eine sehr lange Mahnpredigt, worin er ihm mit Sicherheit prophezeite, daß er einmal hoch über allen anderen Menschen enden werde, am Galgen. Einen anderen Knaben hätte dies vielleicht erbittert. Mendele aber schien wohl tief zerknirscht, sagte dann aber mit vor Rührung zitternder Stimme: »Ihr habt recht, Rabbi, ich habe kein ander Geschenk verdient. Aber weil ich nun heute dreizehn Jahre alt geworden bin und da Geschenke üblich sind, so schenk' ich Euch was! Verschmähet es nicht, obwohl es wenig ist!« Sprach's, wischte sich die Tränen aus den Augen und überreichte dem Rabbi je eine Büchse jener beiden Salben, die auch der ärmste Jude des Ostens nicht entbehren kann.
Der strenggläubige Jude darf nämlich sein Haupt nicht dem Schermesser beugen, Bart und Wangenlöckchen wachsen, wie ihnen beliebt, und dürfen sogar nie gekürzt werden; im Gegenteil, ihre Länge und Dichtigkeit ist der schönste Schmuck des Frommen und er, der sonst wahrlich auf sein Äußeres nicht viel Pflege, ja nicht einmal allzuviel Wasser wendet, gebraucht doch eine Salbe, die den Bartwuchs befördert. Die andere Salbe aber dient dem entgegengesetzten Zweck: das Haupthaar völlig zu entfernen, denn auch dies gebietet die Mode. Durch einen anderen, als einen völlig kahlen Scheitel würde sich der Fromme entstellt fühlen, und da er sich nicht rasieren lassen darf, so reibt er das Haupt von Zeit zu Zeit mit dieser scharfen Mixtur ein, die zwar anfangs keine Beschwerde macht, darin aber gehörig auf der Kopfhaut brennt. Beide Salben sind weiß und haben metallischen Glanz; um einer Verwechslung vorzubeugen, wird die Ätzsalbe immer in runden, die Bartsalbe in eckigen Büchschen verkauft.
Rabbi Meyer war über das Geschenk betroffen, sogar ein wenig beschämt, dann jedoch machte er, ehe er ins Lehrzimmer ging, von beiden Salben Gebrauch. Mendele aber gönnte sich einen Ferialtag und trollte sich seiner Wege.
Eine Stunde später merkte der Rabbi ein seltsames Brennen auf den Wangen, und als er in den Bart griff, blieb ihm ein Büschel Haare in den Händen. Entsetzt stürzte er in sein Wohnzimmer, die Ätzsalbe abzuwaschen, aber mit ihr ging auch der schöne lange Bart ab und das Antlitz des Würdigen glich nun der litauischen Heide, auf der nur ein wenig Gestrüpp und hie und da ein einzelner Stamm verraten, welcher herrliche Wald da einst gestanden. Nach einiger Zeit erwiesen sich auch die Haarwurzeln der Kopfhaut, die er bisher immer so schnöde mit Ätzsalbe behandelt, für die unverhoffte Labung dankbar und sproßten kräftig empor. Dies Unglück ließ sich ja gut machen, aber der Bart! Die vielen Besuche neugieriger und teilnehmender Verehrer, die den Rabbi zu besichtigen und zu trösten kamen, freuten ihn gar nicht, und Monate währte es, bis er wieder auf die Gasse zu treten wagte. Der Bart aber kam in alter Fülle nie wieder, niemals, und bis an sein Lebensende gab es ihm einen Stich durchs Herz, wenn man ihn bat: »Erzählet doch, was Euch Mendele Kowner zum Abschied verehrt hat!«
Denn Mendele hatte sich die Freude versagt, den Erfolg seiner freundlichen Gabe mit eigenen Augen zu sehen, und war auf Nimmerwiedersehen gegangen, aus dem Haus und aus der Stadt. Er wollte heimkehren und schlug den Weg nach Kowno ein, aber je näher er der Heimat kam, desto kürzer wurden die Tagereisen, desto länger der Aufenthalt bei gastlichen Glaubensgenossen, und in einer Schenke dicht vor Kowno besann er sich eines anderen und schlug den Weg nach Westen ein. Denn viel rascher als er war die Kunde jenes Streiches dieselbe Straße gezogen und wohin immer er gelangte, und als er den Ort, aus dem er kam, Wilna nannte, fragten ihn die Leute sofort nach Rabbi Meyers Bart, und obwohl einige dazu lachten, waren doch die meisten über den unerhörten Frevel an der heiligen Zier eines heiligen Mannes so entrüstet, daß er es vorzog, inkognito zu bleiben. In jener Schenke vor Kowno aber traf er einen Fuhrmann aus seiner Heimat, der ihm erzählte, seine Eltern hätten anfangs viel geweint, nun aber seien sie damit beschäftigt, biegsame Haselstauden in Essig zu legen, auch zwei Bambusrohre seien angeschafft und sonstige Vorbereitungen zu seinem würdigen Empfang getroffen. Da dachte Mendele, daß es ja nicht gleich sein müsse, machte kehrt und zog langsam der preußischen Grenze zu.
Was aus ihm werden sollte, war damals nach seinem Willen noch nicht entschieden, und hätte jemand dem übermütigen, aber klugen und gutherzigen Knaben auf jener ersten Wanderung gesagt, welches Lebensziel seiner harre, ihm wäre die Warnung nicht nahe gegangen. Er war ja guter Leute Kind, hatte etwas gelernt – warum sollte er ein »Schnorrer« werden?! Es fiel ihm gar nicht bei, er war nur eben der Meinung, daß den Haselstauden eine längere Beize nicht schaden würde, und wollte den Zorn seiner Eltern ausrauchen lassen, ehe er heimkehrte. Auch war es für ihn – wie für manchen vor und nach ihm, der die gleichen Pfade geschritten – eine große Verlockung, daß er nicht um Brot und Obdach zu sorgen brauchte.
Wie der Scholar des Mittelalters von einer Universität zur anderen, noch öfter ins Blaue hinein, sorgenlos durch ganz Deutschland ziehen konnte, weil ihm sein Barett und sein bißchen Latein die Türe jedes Pfarr- und Bürgerhauses öffneten, so genügt noch heute in Halbasien das Wort: »Ich bin ein Jeschiwa-Bocher« (Zögling einer Talmudschule), und die spitzfindige Auslegung irgend einer Bibelstelle, um dem Knaben, dem Jüngling jedes jüdische Haus, in das er tritt, zur gastlichen Stätte zu machen. Das Gegenteil wäre eine Sünde, denn wer in der Lehre forscht, dient dem Herrn, und wer ihn unterstützt, erwirbt den Himmel. Nicht einmal mit allzuviel Fragen wurde Mendele behelligt; sagte er den Leuten, er sei auf der Suche nach einer passenden Schule, so wunderten sie sich auch darüber nicht. Ein begabter »Bocher« wählt sich die »Jeschiwa« sorglich aus und bindet sich nie, ehe er sie persönlich kennen gelernt, ehe er weiß, was ihm dort an weiterer Ausbildung oder an Stipendien geboten wird.
Wenn Mendele so sprach, so log er freilich; er wollte zunächst keine neue Schule beziehen, ehe er nicht den Zorn der Eltern beschwichtigt hätte. Nur kam ihm das Wandern, der Verkehr mit den vielen fremden Menschen so ergötzlich vor, daß er die Heimkehr immer wieder aufschob, und als er gar ins Posensche gelangt war, gefiel es ihm dort so gut, daß er seiner guten Vorsätze ganz vergaß. Hier waren die Städtchen reinlicher, die Gemeinden wohlhabender, aber auch die Gelehrsamkeit vernünftiger; ohne es selbst recht zu empfinden, standen die dortigen Rabbinen ein wenig unter dem Einfluß des deutschen Geistes und beschäftigten sich lieber mit den wissenschaftlichen Problemen des Talmuds, als mit den Fragen über die Himmelsleiter. Das gefiel dem begabten Knaben, schon weil es ihm neu war, er blieb monatelang da und dort haften und lernte ernsthaft. Aber zu seinem Unglück war auch die preußische Polizei regsamer als die russische und schaffte ihn eines schönen Tages, da er keine Papiere hatte, über die Grenze.
Das rüttelte ihn auf; er schrieb an seine Eltern, ob er heimkehren dürfe.
Eine Antwort wurde ihm nicht.
Sie zürnten also noch schwerer, als er gedacht, und so traute er sich nicht heim, sondern wanderte ziellos im »Großherzogtum Warschau« umher, das die Laune Napoleons kurz vorher geschaffen hatte. Auch nun hatte er nicht Hunger noch Kälte zu leiden, zugleich stumpfte ihn die Gewohnheit gegen die Mühsal dieses unsteten Lebens ab. Dennoch regte sich ihm die Sehnsucht nach den Eltern immer stärker im Herzen und er beschloß, die Heimkehr zu wagen, auf die Gefahr, daß der Empfang noch so unfreundlich ausfalle.
Diesmal aber trat der Zufall dazwischen oder, wenn man will, das Schicksal.
Als Mendele im Frühling 1812 langsam aus dem Krakau'schen, wo er zuletzt verweilt hatte, nach Norden pilgerte, begegnete er den Kolonnen der »großen Armee«, die sich eben langsam nach Rußland wälzten. Es war später das Hauptstücklein des Kowners – und es hat ihn lange überlebt – zu berichten, wie er bei dieser Gelegenheit zufällig die Bekanntschaft des größten Mannes seiner Zeit gemacht und verstanden habe, sich ihm durch wichtige strategische Ratschläge unentbehrlich zu machen.
»Seid Ihr schon in Warschau gewesen?« pflegte er mit der Frage an seine Hörer zu beginnen. »Wer dort war, kennt gewiß das große gelbe Wirtshaus gleich rechts neben der Maut; damals hat es der alte Reb Mosche gehalten, Mosche mit der roten Nas'; ein braver Mensch, der sich nie darüber beklagt hat, daß er nicht einmal zum Fenster hinausschauen darf. Nämlich die russische Polizei hat es ihm verboten, weil sonst alle Fremden geglaubt hätten, daß Warschau brennt. Auch sonst ein guter Mensch, er hat mich aufgenommen wie einen Sohn und mir guten Rat gegeben, wenn er nüchtern war, aber freilich war er nie nüchtern. Nun, auf einmal darf der arme alte Mann wieder frische Luft schöpfen – die Russen sind fort, die Franzosen kommen. Zwei Tage und zwei Nächte dauert der Durchzug, Soldaten zu Fuß und Reiter und Kanonen und Wagen, vor den Augen hat es einem geflimmert und in der Luft war ein Gedröhn wie ein Gewitter – zwei Millionen Menschen, meint Mosche, aber das war nur, weil er alles doppelt gesehen hat – eine Million war es wirklich! Das war aber nur der Vortrab, jetzt ist erst die Armee gekommen. Zehn Millionen! Mein Mosche weint vor Freude: ›Gott, wieviel Franzosen, das gönn' ich den Russen!‹ – Da geht die Tür auf, zwei Offiziere kommen herein, ein großer und ein kleiner, und bestellen Likör. ›Gott über der Welt!‹ schreit der Große erschreckt, wie er den Mosche erblickt, der Kleine aber verzieht keine Miene. ›Das kann doch nur Napoleon sein‹, denk' ich, ›das ist der einzige Mensch, den nicht einmal eine solche Nase aufregen kann‹, und wie ich ihn anschau' – richtig ist er's. Aber ich tu' nichts dergleichen; will er nicht erkannt sein, so weiß Mendele Kowner, was sich schickt. Nur wie er sein Gläschen hebt, heb' ich das meine und sag': ›Ihr Herr Emprör soll bis zu hundert Jahr leben!‹ – ›Ich danke!‹ sagt er freundlich. ›Ha‹, denk' ich, ›jetzt hab' ich dich‹, und frag': ›Warum danken Sie?‹ Er wird verlegen. ›Weil ich auch ein Franzose bin‹, sagt er. ›Du aber bist wohl ein Jude?!‹ – ›Kunststück, daß Sie es erraten!‹ sag' ich. ›Ein Kaftan und Wangenlöckchen, ein Spanier werd' ich sein!‹ Und so kommen wir ins Gespräch, und ich erzähl' dies und das, und er lacht. ›Mir scheint‹, sagt er, ›du bist ein gescheiter Mensch. Was denkst du denn über den Krieg?‹ – ›Fragen Sie Ihren Emprör‹, sag' ich, ›der ist noch gescheiter.‹ – Lacht er: ›Schmeichler! Du weißt doch, daß ich's bin! Also wie soll ich den Krieg führen?‹ – ›Schnell!‹ sag' ich. ›Besseres kann ich Ihnen nicht raten. So schnell wie möglich. Sonst kommt der Winter, und das sind die Russen gewohnt, aber Sie nicht!‹ – ›Mendele‹, sagt er, ›du hast recht! Meine Generale denken anders, aber ich bin deiner Meinung. So schnell wie möglich marschier' ich nach Petersburg!‹ – ›Um Gottes willen!‹ schrei' ich, ›Herr Emprör, das wär' eine Dummheit! Erstens ist dort das Meer nahe – ein bißchen zu weit links und alle Ihre Soldaten fallen hinein! Und dann ist ja dort sehr kalt!‹ – ›Also nach Moskau!‹ – ›Auch nicht! Auch zu kalt! Hinunter nach Kiew, nach Odessa!‹ Davon will er aber nichts hören, ich rede und rede, er bleibt bei Moskau. ›Gut‹, sag' ich. ›Bin ich der Emprör?! Aber was dabei herauskommt, werden Sie schon sehen!‹ – ›Du auch!‹ sagt er und packt mich an der Hand. – ›Wieso?‹ sag' ich. – ›Weil du mitgehst, Mendele! Ohne dich will ich nicht nach Rußland. So einen eisernen Kopf wie du kann ich brauchen! Komm mit! Geht es gut aus, schenk' ich dir einen Zentner Diamanten, geht es schlecht aus, so kann es für Mendele Kowner doch nur eine Ehre sein, mit mir, dem großen Napoleon, ›kapore‹ (zu Grunde) zu gehen.‹ Und bittet und bittet, bis ich nachgeb'.«
So kam Mendele Kowner mit Napoleon nach Rußland. Leider trübte sich die freundschaftliche Beziehung durch den Eigensinn des Kaisers, wohl auch durch seine Eifersucht auf Mendeles militärisches Genie.
Nahe vor Moskau nämlich riet Mendele, sofort zehntausend Feuerspritzen zu bauen und in die Stadt mitzunehmen. »Denn«, meinte er sehr scharfsichtig, »sonst zünden die Russen Moskau an und wir können nicht löschen, und was haben wir von Moskau, wenn es verbrannt ist?! Gnädiger Herr Kaiser, hören Sie auf den Kowner, Sie wissen, er ist nicht dumm! – wo werden Sie sonst überwintern?!« Aber man weiß ja, daß die zehntausend Feuerspritzen nicht mitgenommen wurden und daß Moskau in Flammen aufging, und daraufhin sah der kluge Mendele auch alles andere voraus und sagte dem Kaiser: »An der Beresina wird es Ihnen schlecht gehen, ich rate Ihnen, marschieren Sie lieber auf einer anderen Straße – aber was nutzt mein Reden! Leider tun Sie ja doch, was Sie wollen! Ich aber will nicht mehr dabei sein, denn so ein Unglück, wie Sie es an der Beresina erleben werden, hat die Welt noch nie gesehen, und wenn es auch für mich eine Ehre wäre, mit Ihnen ›kapore‹ zu gehen, ein Vergnügen wäre es nicht! Also, adjes, Herr Emprör, und nichts für ungut!«
Dabei blieb es auch, obwohl ihn Napoleon durch Geschenke festzuhalten suchte und dann, als alles fruchtlos war, ihm zwar den Rücken zuwandte, aber doch hörbar schluchzte. Mendele ging und gelangte, wenn auch auf Umwegen, mit heilen Gliedern in die Heimat zurück.
Die Erzählung entsprach im allgemeinen der Wahrheit, nur waren einige unbedeutende Einzelheiten doch nicht ganz genau wiedergegeben. Die Begegnung in der Schenke vor Warschau hatte wirklich stattgefunden, nur war es nicht Napoleon selbst gewesen, der Gefallen an dem lustigen Burschen gefunden und ihn zum Mitgehen bewogen, sondern ein jüdischer Sergeant aus dem Elsaß, Maurice Ettelmann aus Colmar.
Auch hatte Maurice wirklich bitten müssen, bis sich Mendele dazu entschloß, denn so leichtfertig der Junge war, wollte er die Eltern doch nicht länger entbehren. Aber in Kowno erwarteten ihn nur Prügel, vielleicht sogar eine verschlossene Türe, die sich trotz allen Flehens nie wieder öffnete – hier lockte ein fremdes lustiges Leben; so neben dem Sergeanten in eine Stadt einzuziehen, von allen Juden bewundert und gefürchtet als einer, der mit zur großen Armee gehörte, das war doch etwas anderes, als wenn er als »Bocher« bescheiden an die Tür der Reichen klopfte. Mendele ging mit, als Dolmetsch, Schalksnarr und Marketender zugleich; er erlebte wirklich den Brand von Moskau, entging auch tatsächlich dem Unglück an der Beresina, aber nur, weil das Regiment, dem er sich angeschlossen, schon früher zurückgesendet worden war. Auch hatte er's in Wahrheit nicht übers Herz gebracht, seinen Protektor in der Not zu verlassen; Maurice Ettelmann war verwundet worden; Mendele brachte ihn bei barmherzigen Glaubensgenossen unter und pflegte ihn, bis er genesen war.
Dann zogen beide in der üblichen Judentracht bis Thorn, wo sie schieden; der Sergeant schlug sich nach dem Westen durch und Mendele wandte sich nun endlich nach Kowno.