Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Siebentes Kapitel

Als ein veränderter Mensch kam Sender in sein armseliges Heimatstädtchen zurück. Wohl trieb er noch zuweil seine tollen Possen, aber wahrlich nur als Deckmantel für seine Pläne. Es war eine wilde Energie in ihm wach geworden, die er selbst einige Tage vorher nimmer in sich geahnt hätte, noch minder ein anderer. Alle Sehnen seiner Seele spannten sich, so jäh, so stark, daß er es fast schmerzlich empfand, fast unheimlich, wie den Eingriff einer fremden, übermächtigen Hand. Aber trotz dieser jähen Gluten im Herzen – und dies ist vielleicht der beste Beweis, daß sie echt gewesen – ward er nach außen schlau, vorsichtig, bedächtig.

Von seiner Unterredung mit dem Direktor erfuhr zunächst niemand. Vielleicht sagte es ihm der Instinkt, noch mehr als die Überlegung, daß ihn dies nur hemmen müsse. Und dann – »Vor der Thora in der Betschul' hängt ja auch ein Vorhang«, pflegte er später darüber zu sagen, »mein Plan war meine Thora...«

Er begriff, daß er als Fuhrknecht die »deutsche Weisheit« nicht erlernen könne, und trat vor die Mutter – das unstete Leben freue ihn nicht mehr.

Frau Rosel vernahm es erfreut und stimmte eifrig zu. Aber als er nun bat, nach Czernowitz gehen zu dürfen, schlug sie dies rund ab. Was er in der unheiligen Stadt wolle, fragte sie. Er erwiderte: er gedenke bei einem geschickten Meister denn doch wieder die Uhrmacherei zu erlernen.

»Gut, werde Uhrmacher«, entschied sie. »Aber hier in Barnow.«

Sender widersprach nicht. Und als ihm die Mutter am nächsten Tage mitteilte, daß sie ihn bei Jossele Alpenroth, dem geschicktesten Uhrmacher des Städtchens, in die Lehre getan habe, sträubte er sich auch dagegen nicht und trat in die Werkstätte ein. Aber sein Entschluß stand fest: fand er in Barnow keinen Lehrer des Deutschen, so mußte er auf eigene Faust hinaus – in die Fremde...

Da griff abermals ein seltsamer Zufall in sein Leben, oder doch etwas, was wir armen, kurzsichtigen Menschen gemeiniglich so nennen...

Am Eingang des Städtchens, abseits der Heerstraße, stand damals ein großes, hölzernes Haus, von Ställen und Fruchtschobern umgeben. Die Türen der Baracke waren schwarzgelb angestrichen, und über dem Tore prangte ein kaiserlicher Adler. Das war das k. k. Verpflegsmagazin von Barnow, welches man drei Jahre vorher, im Spätherbst 1849, in größter Eile gezimmert hatte.

Der Unternehmer dieser Bauten, Leib Rosenstengel aus Tluste, war so reich daran geworden, daß er sich im nächsten Jahr bereits Leo nannte, aber dies war auch der einzige Segen, den die Baracke brachte. Denn das armselige Gebäude bot keinen Schutz vor Kälte, Wind und Regen, und im April 1854, als man es am nötigsten brauchte, stürzte es nachts im Frühlingssturm zusammen. Zwei Soldaten blieben tot, einige andere wurden zu Krüppeln geschlagen und meilenweit trug der Sturmwind die Vorräte über die Heide, daß die Bauern um Barnow noch lange schmunzelnd von dem unverhofften Manna erzählten. Zwei Monate darauf bekam Leo Rosenstengel den Franz-Josephs-Orden. Ob aber nur um dieses oder auch noch einiger ähnlicher Verdienste willen, steht jedoch nicht fest.

Zur Zeit, da Sender einen Mentor suchte, im Frühling 1852, stand dieses Haus noch, und darin wohnten die Beamten der Verpflegskanzlei und ein »Flügel Fuhrwesen«, was, aus der k. k. österreichischen Militärsprache übersetzt, eine Abteilung Trainsoldaten bedeutet.

Es ist dies gerade kein Elitekorps. Der »Fahrer«, wie der Gemeine heißt, ist mehr Pferdeknecht als Soldat und wird schon darum von den Kameraden anderer Waffen über die Achsel angesehen. Er muß Dienstleistungen verrichten, gegen welche sich der soldatische Stolz sträubt, er ist gleichsam nur ein Anhängsel der streitbaren Macht. Darum geht niemand freiwillig zum Fuhrwesen, sondern diese Truppe setzt sich zum Teil aus jenen Rekruten zusammen, die für eine andere Waffengattung körperlicher oder geistiger Gründe wegen untauglich scheinen, zum Teil aus Soldaten, welche sich durch unziemliche Aufführung diese Versetzung als Strafe zugezogen. Der »Furbes« ist der Prügelknabe der Armee, er gilt, bis das Gegenteil erwiesen ist, als Dummkopf oder Spitzbube. Heute ist dies übrigens besser als in jenen Tagen, da die »Fünfundzwanzig« blühten, insbesondere sind wohl derzeit die Offiziere des Korps Männer anderer Artung, als ihre Vorgänger in den Flitterjahren der Reaktion.

Das waren stramme, rohe Grauköpfe, welche vom Gemeinen aufwärts gedient, zwanzig Jahre Feldwebel gewesen und schließlich das Leutnantspatent bei dieser Truppe erhalten, weil sie bei der ihrigen nicht recht in die Offiziersgesellschaft gepaßt hätten. Oder auch sehr junge Herrchen, welche so lange leichtfertige Schulden gemacht oder sonstige Streiche verübt, bis sie endlich vor der Alternative standen: Fuhrwesen oder Quittierung des Dienstes! Wie das Verhältnis solcher Vorgesetzten zu einer solchen Mannschaft sich gestaltete, braucht kaum gesagt zu werden. Die Disziplin wurde leidlich aufrecht erhalten, aber wahrlich nur durch jene Wunder, welche ein wahrhaft österreichischer Heiliger jener Tage verrichtete: »Der heilige ›Haslinger‹ (Haselstock)«.

Es war an einem Sabbatnachmittag im Frühjahr, da unser Sender gedankenvoll aus dem Städtchen wandelte und dann über die Seredbrücke. Auf der »Promenade«, unter den Linden, welche längs des Flusses stehen, spazierten die geputzten Leute aus der »Gasse« langsam und vergnüglich auf und nieder, er aber eilte an ihnen vorbei, er wollte allein sein.

Seine Gedanken waren gerade nicht heiter, und tröstlichere wollten ihm nicht kommen, so sehr er sich auch sein Hirn zerquälte. Seit zwei Wochen war er nun Lehrling bei Jossele, aber einen Meister der »deutschen Weisheit« hatte er bisher nicht gefunden. In der Klosterschule freilich wurde sie gelehrt, er selbst hatte bei dem Sohne des Doktor Schlesinger eine Fibel gesehen, und dieser Knabe hatte ihn stolz versichert, das sei zwar nur der Anfang der Weisheit, doch wer diesen Anfang erst erfaßt habe, verstehe eigentlich schon alles übrige.

Aber an diese Schule konnte er ja nicht ernstlich denken. Des Doktors Sohn freilich durfte straflos zu den Dominikanern gehen; sein Vater war zwar auch ein Jude, aber zugleich ein »Deutsch«, ein angesehener Mann. Ihn aber hätte für die bloße Absicht sein Lehrherr entlassen, der Rabbi gezüchtigt, die Mutter verstoßen und die Gemeinde halb tot geschlagen.

So war es denn seine einzige und ach! sehr karge Hoffnung, einen Menschen zu finden, der ihn heimlich lehren könne, wonach ihn dürstete. Aber einen solchen Weisen kannte er nicht, mindestens keinen, an den er sich hätte heranwagen mögen.

Da war der reiche Grünstein, Schlome Grünstein, der »Meschumed« (Abtrünnige), wie sie ihn nannten, weil er in seiner Jünglingszeit aus deutschen Büchern sündiges Wissen gesogen. Der wußte gewiß viel, aber er war ein kranker, gebrochener Mann, der sich heute ängstlich von ähnlichen Sünden fernhielt und wohl kaum an die Bestrebungen seiner Jugend erinnert sein wollte.

Da war ferner der einzige christliche Privatlehrer des Ortes, Herr Osner, ein hageres, bewegliches Männchen, welches jahraus, jahrein denselben gelblichen Rock trug und in der Rechten eine riesige Tabaksdose. Aber dieser Herr war erstens sehr geschwätzig und konnte kaum ein Geheimnis bewahren, zweitens lebte er ja vom Unterrichten und verlangte vielleicht zwanzig Kreuzer für die Stunde – wie sollte Sender das viele Geld aufbringen!

Noch schlimmer lagen die Dinge bei Luiser Wonnenblum, dem Gemeindeschreiber, und bei Dovidl Morgenstern, dem »Privatagenten«, das heißt Winkelschreiber. Sie konnten Deutsch, weil sie es fürs Geschäft erlernt, waren aber sehr habgierig.

Kurz, je länger der arme Junge darüber nachdachte, desto trauriger ward er, desto mehr festigte sich in ihm der Entschluß, nach Czernowitz zu fliehen – das war sein Mekka, dort war ja jeder Jude ein »Deutsch«. Der Gedanke, die Mutter zu verlassen, ihr Schmerz zu bereiten, war ihm wohl peinlich, aber er hinderte ihn nicht.

»Sie hat viel für mich getan«, dachte er, »aber das war ja ihre Pflicht, ich bin ja ihr Fleisch und Blut! Es wird sie anfangs sehr schmerzen, aber bin ich nur einmal erst ein großer Komödiant, so wird sie ja auch viel Freude und Ehre davon haben und ein sorgenfreies Leben!«

Während er sich all dies wieder einmal in Gedanken zurechtlegte, wohl zum tausendsten Male in den Tagen, seit er heimgekehrt, hatte er absichtslos einen Pfad eingeschlagen, den er sonst sicherlich vermieden hätte.

Am linken Ufer des Sered, in der Vorstadt Wygnanka, die von Bauern und den ärmsten Juden bewohnt wird, erhebt sich ein Hügel, welchen sie im ganzen Kreise den »Barnower Berg« nennen; der mäßige Hügel ist eben in dieser ungeheuren Ebene auf Meilen sichtbar. Auf dem Gipfel stehen die Trümmer einer Burg, des Stammhauses der Grafen Bortynski, der Besitzer von Barnow. Nur die mächtigen Quadern der Ringmauer stehen noch aufrecht und im Schloßhof die Strebepfeiler der Kapelle und der Brunnenrand, sonst liegt alles in Schutt und Staub, und manche unheimliche Sage knüpft sich an die düstere Ruine.

Da wandelt, nicht etwa um Mitternacht, sondern im hellen Sonnenschein, ein Weib im Schlosse herum, ein hohes, schlankes Weib, in der Tracht verschollener Tage und wiegt, leise singend, ein Kind, das sie in den Armen trägt. Das Kind aber hat eine rote Blutspur um den Hals und schlägt nimmer die Augen auf, obwohl die Mutter es innigst herzt und küßt.

Auch ein lustiges Gespenst ist dort zu sehen, gleichfalls am hellen Mittag, ein junger Leibeigener, der aber seinen Kopf statt auf dem Halse unter dem Arm trägt und die Begegnenden gern um etwas bittet. So hat er einmal den alten, reichen Bauer Fedko Czunteliak aus Altbarnow um eine Pfeife Tabak ersucht – ganz freundschaftlich, wie ein Bruder den anderen. Der alte Fedko war damals sehr betrunken, aber als das Gespenst ihn antrat, da erschrak er so heftig, daß er in zehn Sätzen den Berg hinabsprang und unten nüchtern ankam.

Auch kann man oft eine Glocke im Gemäuer hören – bim, bam – es klingt hell und klar, man kann es weithin hören. Aber wer es vernimmt, soll sich schnell die Ohren zustopfen. Denn die Glocke hat einen merkwürdigen Klang; wer ihm lange zuhört, hat keine Freude mehr auf Erden und sehnt sich nach dem Tode. Einer hat auch gesehen, wer die Glocke läutet: ein junger Mönch mit einem bleichen, müden Gesichte...

Um all diesen Spuk zu bannen, haben die Bauern im Schloßhofe ein großes, rotes Kreuz aufgerichtet mit dem Bilde des Erlösers und einem Täfelchen, auf dem in russinischer Sprache geschrieben steht: »Herr, erbarme dich des Sünders!« Aber trotz des Kreuzes meiden sie doch ängstlich die Ruine, und die Juden tun eben wegen des Kreuzes dasselbe.

Auch Sender zuckte zusammen, als er sich plötzlich am Eingang der Ruine fand, und wandte sich eilig zur Flucht. Dann aber schämte er sich, auch trieb ihn die Neugier, doch mindestens einen Blick in den Burghof zu tun. »Der Pojaz fürchtet sich nicht!« murmelte er, um sich Mut zu machen, halblaut vor sich hin.

Er machte sich auf vieles gefaßt, aber beim besten Willen konnte er zuerst nichts Unheimliches gewahren. Über dem verfallenen Gemäuer war tiefste Einsamkeit, und breit und voll legte sich die Sonne auf die Steine und das Gras, das lustig dazwischen emporschoß. Tausend Mücken schwirrten wie ein Goldregen durch die Frühlingsluft, weiße Falter kreisten langsam um das Gesträuch im Hofe und auf den Pfeilern der Kapelle zwitscherten die Sperlinge.

Der Jüngling trat weiter vor, aber als er nun den ganzen Burghof übersehen konnte, unterdrückte er mit Mühe einen Schreckensruf und blieb wie erstarrt stehen: Da saß ja im Winkel hinter der Kapelle das kopflose Gespenst, und neben ihm blitzte ein breites Schwert im Grase!...

»Gott der Heerscharen, laß zerstieben, was nicht auf die Erde gehört«, murmelte er mühsam.

Es war der Stoßseufzer, welcher dem Gläubigen in so sonderbarer Lage vorgeschrieben ist. Aber das Gespenst zerstob nicht, und als er genauer hinblickte, mußte er sich sagen, daß es mindestens nicht gar zu unheimlich gekleidet sei.

Das Gespenst trug einen braungrauen Waffenrock mit blauen Aufschlägen, eine k. k. Reithose und gespornte Stiefel. Auch lag neben dem Schwerte ein Tschako, und das ließ beruhigend den dazu gehörigen Kopf ahnen. Und als Sender nun ermutigt schärfer hinblickte, entdeckte er, daß dieser Kopf in der Tat an der rechten Stelle saß, nur war er so tief gesenkt, daß man ihn kaum gewahrte.

»Ein Furbes«, murmelte Sender erleichtert, »da ist gewiß auch eine Köchin in der Nähe.«

Aber von einem weiblichen Geschöpf war nichts zu gewahren. Der Soldat war allein und saß unbeweglich da, das Haupt tief hinabgeneigt.

Neugierig schlich Sender näher und stieß unwillkürlich einen leisen Schrei der Verwunderung aus, der Mann hielt ein Büchlein im Schoße!

»Der Furbes liest!«

Sender konnte sich vor Erstaunen nicht fassen, bei einem Furbes hätte er solche Kunst und Beschäftigung nimmer vermutet...

Der einsame Leser hatte in seiner Versunkenheit den leisen Ruf überhört, er fuhr fort, Blatt um Blatt hastig zu überfliegen. In dem schmalen, kränklichen Gesicht glühten die Wangen, die Augen leuchteten, und nun erhob er die Stimme und las in seltsamem, ergreifenden Ton, fast wie man ein Gebet spricht:

»Ja, ja, die deutsche Fahne siegt,
Die halbe Aula ist ja dort –
Der Windischgrätz, trotz allem Mord,
Er hat sie doch nicht untergekriegt,
    Die braven Wiener Studenten!

Will's Gott, so wird nun wieder bald
Die teure Fahne aufgerollt
Im Aulahofe: Schwarz-Rot-Gold,
Und lustig bald das Lied erschallt
    Von den braven Wiener Studenten!

Er hatte immer lauter gelesen, immer voller und fester klang die Stimme und die letzten Worte hatte er jubelnd gerufen. Aber nun entsank das Buch seinen Händen, er starrte vor sich hin, dann schlug er jählings die Hände vors Gesicht und begann heftig zu weinen.

Sender ward immer erstaunter – von den Worten des Gedichtes hatte er natürlich nichts verstanden. Aber noch mehr als die Rührung des Mannes interessierte ihn die Tatsache, daß dieser lesen konnte.

Zögernd trat er auf den Schluchzenden zu.

»Verzeihen Sie zur Güte«, sagte er schüchtern, »ich möchte Sie gerne etwas fragen tun!«

Die Wirkung dieser Worte war eine ungeheure und solchen Effekt hatte Sender jedenfalls nicht erwartet. In tödlichem Schreck zuckte der Soldat empor, sein Antlitz ward leichenfahl und die starren Augen drängten fast aus den Höhlen.

»Was wollen Sie?« rief er endlich und die zitternden Hände krampften sich um das Büchlein zusammen, als müßte er es beschützen.

»Gott!« stammelte Sender nun selber erschreckt. »Nur eine Frage möcht' ich Sie fragen!«

»Was? Wer sind Sie?«

Der Mann war noch immer schreckensfahl und schob das Buch mit zitternden Hand in den Stiefelschaft.

Das gab unserem Sender den Mut zurück.

»Warum erschrecken Sie?« fragte er mit überlegenem Lächeln. »Bin ich ein Räuber? Will ich Sie erschlagen? Nur eine Frage –«

»Was wollen Sie?«

Aber Sender zog es vor, zuerst beruhigend zu wirken.

»Gewiß nichts Böses, Herr Furbes! Sie haben einen Säbel, ich nicht – ich bin wirklich froh, wenn Sie mir nichts tun! Sehen Sie, ich bin so spazieren gegangen, weil heute Sabbat ist, und auf einmal habe ich Sie gesehen, wie Sie sitzen und lesen. Da war ich sehr verwundert. Denn was tut gewöhnlich ein Furbes, wenn er keinen Dienst hat? Geht zu Roth-Moschele, dem Lumpen, in die Schenke, weil man ihn anderswo gar nicht hineinläßt, und trinkt, bis er unter den Tisch fällt. Denk' ich mir, der da ist ein merkwürdiger Furbes, den muß ich in der Nähe anschauen.«

»Nun – das haben Sie jetzt getan!«

»Ja – und Sie haben wirklich kein Gesicht, wie die anderen. Ein feines Gesicht haben Sie – ein gutes Gesicht – auf Ehre! Sie werden nicht böse werden, wenn ein armer Jung' Sie etwas fragt! Sie werden mir in Güte antworten!«

Der Soldat hatte sich allmählich beruhigt.

»Fragen Sie!« sagte er milder.

»Gleich!... Aber warum sagen Sie ›Sie‹ zu mir? Sie sind wirklich der erste Mensch, der das tut! Ich bin Fuhrknecht gewesen und jetzt bin ich Lehrling bei einem Uhrmacher, und Sender heiß' ich und ein jüdischer Jung' bin ich – zu mir sagt man ›du‹!«

»Zu mir auch!« erwiderte der Mann und lächelte bitter. »Ich bin ein gemeiner Soldat beim Fuhrwesen!«

»Gott behüte!« wehrte Sender ab. »Sie sind ja ein Mann, welcher lesen kann! Lesen! Und eben deswegen möchte ich Sie ja etwas fragen – nämlich – also – ist es schwer?«

»Was?«

»Nun – in deutschen Büchern zu lesen! Und in welcher Zeit könnte man es erlernen, wenn man sich sehr viele Mühe gibt?«

Wieder lächelte der Mann, aber es war ein anderes, gutmütiges Lächeln.

»In wenigen Wochen«, sagte er. »Wollten Sie es lernen?«

»Ich? Ob ich es will?« rief Sender leidenschaftlich. »Was gibt es auf der Welt, was ich mehr wollte? Nichts! Nichts!«

»Warum?«

»Weil ich ja Komödiant werden muß

»Wa–as?« rief der Soldat erstaunt.

Das Wort war dem armen Sender nur so entfahren. Aber nun blickte er dem Mann ins Gesicht – trotz aller Düsterkeit und Trauer blickten die blauen Augen hell und offen, wie die eines Kindes. Und darum faßte sich nun Sender ein Herz.

»Ja«, sagte er, »Komödiant! Mit einem Menschen wenigstens muß ich davon reden, es drückt mir ja sonst das Herz ab.«

Und er sagte dem wildfremden Menschen alles, alles.

Der Soldat hörte ernst und ruhig zu, nur zuweilen glitt, rasch wie ein Blitz, ein Lächeln über sein bleiches, müdes Antlitz. Aber als Sender endlich fertig war, seufzte er tief auf.

»Gut, mein Junge«, sagte er, »dir ist zum Glück leichter zu helfen als mir!«

Sender wollte fragen, aber er traute sich nicht – auf dem Antlitz des Soldaten lag ein so tiefes Weh.

»Werden Sie mich nicht verraten?« wagte er endlich zu bitten.

»Nein – aber du mich auch nicht?«

»Ich?« fragte Sender, »was kann ich von Ihnen verraten?! Sie sind gesessen und haben gelesen und geweint – Ihre Kameraden sitzen bei Roth-Moschele und treiben es wie die Schweine – das ist ja nur eine Ehre für Sie – wirklich!«

»Und wenn du davon erzählst und mein Rittmeister hört es durch einen Zufall, was meinst du, wie er mich dafür belohnt?«

»Weiß ich? – Er wird Sie dafür beloben...«

»Beloben?«

Der Soldat lachte bitter und sagte dann langsam, zähneknirschend: »Er läßt mich auf die Bank legen und halb tot prügeln!«

»Beschütz uns Gott!« rief Sender erschreckt. »Ich werde schweigen wie das Grab! Aber«, fuhr er zögernd fort, »verzeihen Sie zur Güte – nämlich, ich verstehe das nicht. Bei uns Juden darf man keine deutschen Bücher lesen, weil die Chassidim sagen, daß es eine Sünde gegen Gott ist. Aber Sie sind ja kein Jude – oder ist es auch den Soldaten verboten?«

»Den Soldaten? Nein! Wenigstens den meisten nicht. Aber mir ist es verboten!«

»Ihnen allein?«

»Mir und noch einigen hundert anderen, die derselbe Fluch getroffen hat, wie mich!«

»Ein Fluch?... Wer hat Sie denn verflucht? Bei uns verflucht der Rabbi – hat Sie auch ein Geistlicher verflucht?«

»Nein!«

»Wer sonst?«

»Die Reaktion!«

»Wer ist das?« fragte Sender. »Es scheint – ein Frauenzimmer – Aha! gewiß eine Liebschaft...«

Der Soldat mußte lächeln, trotz seiner tiefen Betrübnis.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein?! Dann müssen Sie es zur Güte entschuldigen«, bemerkte der Jüngling schüchtern, »aber ich hab's wirklich geglaubt.«

»Es war keine Liebschaft«, sagte der Soldat, »und die Reaktion ist kein Weib. Aber wollte man sie so abbilden, man müßte eine häßliche Hexe hinmalen, Schlangen ums Haupt und Torturwerkzeuge in den Händen...«

»Das versteh' ich nicht – verzeihen Sie zur Güte...«

»Und du würdest es auch nicht verstehen, wenn ich es dir auch noch so genau erklären wollte.«

»Hm!« meinte Sender selbstbewußt, »ich bin gar nicht dumm – auf Ehre! – ganz gescheit bin ich. Probieren Sie's nur – ich werd's schon verstehen. Und dann – vielleicht geht es Ihnen so wie mir, Sie müssen wenigstens einen Menschen haben, mit dem Sie so reden können, wie Ihr Herz will...«

Der Soldat nickte traurig.

»Das wäre allerdings ein großes Glück«, sagte er leise, »ein Glück, nach dem ich mich schon lange schmerzlich sehne... Also höre! Hast du nie etwas von der Aula gehört?«

»Es klingt wieder wie der Name von einem christlichen Frauenzimmer«, sagte Sender zögernd. »Nein, ich habe nie etwas von ihr gehört!«

»Und von der Revolution?«

»Natürlich! Das war ja erst vor vier Jahren. Der Kaiser hat die große Revolution gegeben, – alle Leute haben Lichter in die Fenster gestellt.«

»Das war die Konstitution –«

»Kann sein, daß die auch dabei war, bei uns hat man gesagt: ›Die Revolution.‹ Ich bin damals als Kutscher im Lande herumgefahren und hab' mir die Sach' überall angeschaut, ich erinnere mich, als wär's gestern geschehen. So gegen das Frühjahr sind die Leute auf einmal verrückt geworden vor Freude. Warum? Die Studenten in Wien haben dem Kaiser die Fenster eingeworfen, aber er hat ihnen verziehen und ihnen noch obendrein dafür die große Revolution geschenkt. Alle Bauern sollen freie Menschen sein, die Juden sollen gleiche Rechte haben wie die Christen, und jeder Mensch darf Schnaps verkaufen und Tabak bauen! Und die Steuern, hat man erzählt, werden kleiner und hören mit der Zeit ganz auf. Was das für ein Jubel war – nicht zu erzählen! Haben Sie nichts davon gehört?!«

»O doch!«

»Nu also! Auch die Polen sind herumgeritten mit großen Bändern um den Leib und haben geschrieen: ›Jetzt wird Polen wieder einig!‹ Da kommt ein Schreiber vom Kreisamt und bringt den Befehl: Alle müssen sich bewaffnen, damit sie den Kaiser beschützen, und damit sie die Revolution beschützen, denn die Polen wollen vom Kaiser abfallen und der Revolution etwas antun! Was sie ihr antun wollen, hat eigentlich niemand gewußt, aber alle haben sich bewaffnet – mit Säbel, mit Flinten oder mit Heugabeln, und obwohl die Säbel stumpf waren und die Flinten nicht geladen, so hat sich doch jeder vor seiner eigenen Waffe gefürchtet. Aber täglich hat die ganze Gemeinde in der Frühe ausrücken müssen zur Übung, die ›Nazenal‹ hat das geheißen

»Die Nationalgarde?«

»Ja – die ›Nazenal‹. Viel hätten sie nicht gegen die Polen ausgerichtet, aber zum Glück waren die Bauern da, und haben ihre Sensen gerade gehämmert und gesagt: ›Wer sich gegen unseren Kaiser rührt, den schlagen wir tot.‹ Da sind die Polen plötzlich sehr demütig geworden und haben gesagt: ›Es ist alles nur ein Spaß gewesen!‹ Und im Herbste hat sich gezeigt, daß leider auch alles andere ein Spaß gewesen ist – die ganze kaiserliche Revolution, über die man sich so gefreut hat. Der Jud' ist Jud' geblieben, so rechtlos wie früher; die Steuern haben nicht aufgehört, sondern sind im Gegenteil größer geworden als je zuvor; wer Tabak gebaut hat, hat ihn an das kaiserliche Magazin abliefern müssen, und das Recht, Schnaps zu verkaufen, hat den Gutsherren gehört, so wie früher. Nur die Bauern sind frei geblieben und haben die Robot nicht mehr leisten müssen. Man hat erzählt, der Kaiser hat die Revolution wieder zurückgenommen, weil die Studenten noch einmal keck gegen ihn waren. Und dann hat man gehört, die Ungarn schlagen sich mit unseren Soldaten herum, und darauf sind die Russen gekommen, und wie sie zurück sind, ist alles in Ordnung gewesen und ganz still und ganz ruhig...«

»Ja«, sagte der Soldat mit bitterem Lächeln. »Ganz ruhig – die Ruhe eines Friedhofs. Aber wenn ein Gott im Himmel lebt, so wird es einmal wieder laut werden, sehr laut – und dann wirst du wieder von den Wiener Studenten hören...«

»Gut, meinetwegen«, sagte Sender gleichmütig.«Aber was geht das uns beide an?«

»Mich geht die Revolution an! denn sie war der Stolz und die Freude meines Lebens, und sie ist mein Unglück geworden. Höre – ich selbst war unter jenen Wiener Studenten, welche, wie du meinst, ›keck mit dem Kaiser waren‹. Und wegen dieser ›Keckheit‹ haben sie mich anfangs zum Tode verurteilt und dann ›aus Gnade‹ für Lebenszeit als Gemeinen ins Fuhrwesen gesteckt...«

»Für Lebenszeit?!« rief Sender erschreckt. »Das ist eine furchtbare Strafe! Da sind Sie wahrscheinlich – verzeihen Sie – sehr keck gewesen. Haben Sie dem Kaiser vielleicht – verzeihen Sie – noch einmal die Fenster eingeschlagen?!«

»Bewahre!... Niemals!«

»Unserem Bezirksvorsteher ist das dreimal geschehen! Oder haben Sie ihm am Ende gar – aber das wird sich ja niemand trauen – haben Sie ihm die Zunge gezeigt?!«

»Behüte! Mit unserer Ehrfurcht vor dem Kaiser hat die Sache nichts zu tun gehabt. Vielleicht wird sich einst noch zeigen, daß wir die Kaisertreuen gewesen sind, nicht unsere Verfolger! Aber das kannst du nicht verstehen!«

»Nein«, sagte Sender. »Aber Ihre Strafe verstehe ich, – die ist sehr hart. Und warum haben Sie gerade ›Furbes‹ werden müssen? Da dienen ja nur die rohesten Leute!...«

»Eben um die Strafe zu verschärfen!«

»Und warum dürfen Sie kein Buch lesen?«

»Damit ich mit der Zeit ein Tier werde, dumm und stumpf, damit ich gehorche wie eine Maschine!«

Der Mann schlug verzweiflungsvoll die Hände vors Antlitz.

»Sie armer Mensch!« sagte Sender, und die Tränen traten ihm in die Augen. »Sie sind wirklich weit mehr zu bedauern als ich. Denn ich weiß noch nicht, was in den deutschen Büchern steht und möchte es nur gerne wissen, Sie aber haben es schon erlernt und müssen es vergessen. Ich kann mir denken – das muß ein großer Schmerz sein! Und dann – jetzt sind Sie ein Furbes, und sonst wären Sie gewiß ein Doktor geworden – nicht wahr?«

Der Soldat nickte.

»Und hätten Leute kuriert.«

»Nein – Doktor der Philosophie – ich wollte Professor werden – Lehrer an einer Hochschule –«

»Lehrer«, rief Sender, und seine Augen leuchteten. »O wenn Sie –«

Er hielt inne, er wagte es doch nicht zu sagen.

Der Soldat nickte freundlich.

»Ich will dich gerne das Lesen lehren«, sagte er. »Ob dein Zweck vernünftig ist, weiß ich freilich nicht und kann es nicht entscheiden, aber das bißchen Wissen wird dir keinesfalls schaden.«

Sender faltete die Hände.

»Ich danke Ihnen«, stammelte er, und die Tränen rannen ihm über die Wangen.

Der Andere schüttelte den Kopf.

»Nein, mein armer Junge«, sagte er, »vielleicht habe ich dir zu danken. Nun habe ich wieder einen Menschen, mit dem ich sprechen kann, der mich weder quält noch verhöhnt. Und dann – wie oft bin ich da unten auf der Brücke stehen geblieben und habe in die Wellen hinabgesehen, lange – zu lange... Es ist gut, wenn man ein Ziel vor Augen hat und sich sagen kann: Es gibt einen Menschen, der dich erwartet, dem du nützen kannst.«

Sender nickte ernst. Er hatte kaum recht verstanden, was der Soldat meinte, aber er wußte: Das ist ein guter Mensch, und es ist ihm weh ums Herz...

Darum wagte er nicht zu sprechen, auch der Soldat schwieg.

Endlich faßte sich Sender ein Herz und fragte: »Entschuldigen Sie zur Güte – werden Sie mich hier unterrichten?«

»Wo sonst?« war die Antwort. »Es liegt uns beiden daran, nicht gesehen zu werden. Ich habe jeden dritten Tag keinen Dienst, da will ich hierherkommen!«

»Gott lohn' es Ihnen«, sagte Sender. »Brauche ich eine Fibel, wie sie des Doktors Sohn hat?«

»Gut wär's!«

»Im Laden bei Jossef Grün sind sie zu kaufen, dreißig Kreuzer kostet das Buch. Aber ich trau' mich nicht hin. Man wird mich fragen, wozu ich sie brauche.«

»Nun«, meinte der Soldat, »dann muß es ohne Fibel gehen. Die Buchstaben kann ich dich aus meinem Buche hier lehren, dem einzigen, welches ich besitze.«

Er zog es aus dem Stiefel hervor; ein kleines, abgegriffenes Bändchen mit zerrissenem Deckel.

»Ist das ein Gebetbuch?« fragte Sender.

»Nein, aber mir hat es mehr Trost gewährt, als wenn es ein Gebetbuch wäre.«

Der Jude nahm es mit ehrfurchtsvollem Staunen in die Hand und suchte nach dem Titel. Er fand ihn natürlich da, wo bei hebräischen Büchern, in denen der Druck von rechts nach links läuft, das Ende zu stehen pflegt.

»Verkehrt gedruckt!« murmelte er erstaunt.

Aber noch verblüffter ward er, als er im Büchlein blätterte.

»Das ist ja eine Verschwendung«, sagte er, »ein Leichtsinn. Warum sind die Zeilen so kurz, und rechts und links ist doch so viel Raum.«

»Es sind Verse«, belehrte ihn der andere. »Die hat ein edler Mann geschrieben, der mit uns in Wien war. Ich habe das Büchlein auf dem Durchmarsch in Mähren von einem braven Mann bekommen, der Mitleid mit mir hatte. Ein größeres Geschenk hätte er mir nicht machen können! Ich trage das Büchlein beständig bei mir, obwohl das ein großes Wagnis ist. Weh' mir, wenn man dahinter kommt!«

»Warum?«

»Warum?« lächelte der Soldat. »Weil der Mann, der es gedichtet hat, auch zu jenen gehört, welche ›keck mit dem Kaiser‹ waren. Er ist auch nur durch einen Zufall demselben Schicksal entronnen, das mich getroffen hat, dem selben oder einem ähnlichen. Und merke dir's: der Mann ist auch ein Jude!«

»Ah! – wie heißt er?«

»Moritz Hartmann.«

»Auch aus Polen?«

»Nein, aus Böhmen. Auch über deine Glaubensgenossen steht manches gute Wort in dem Büchlein, und du sollst es verstehen lernen!«

»Gut!« nickte Sender. »Aber auf andere Sachen freue ich mich mehr. Denn auf Juden, wissen Sie, verstehe ich mich auch jetzt schon ganz gut! Also übermorgen, Montag – nach dem Essen komm' ich her!«

»Ich werde pünktlich sein!« versprach der Soldat.

Sie schieden und gingen auf verschiedenen Pfaden dem Städtchen zu...


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