Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Vierundzwanzigstes Kapitel

»Ich fahr' aus der Haut... Was hast du da geschrieben?... Ich platz'.«

»So faßt Euch doch, Reb Dovidl!«

»›Fassen‹? Nicht mich, sondern dich werd' ich ›fassen‹ und vor die Tür setzen. Oder ins Irrenhaus stecken. Wenn diese Eingab' abgegangen wär', hätten sie mich ›gefaßt‹. Das war noch nicht da!«

»Aber was ist es denn?«

»Er fragt noch, was es ist! Was schreibst du in der Sach' kontra Schlome Rosental? ›Wenn es aber schon vom hochlöblichen kaiserlich-königlichen Bezirksamt leider angenommen worden ist, daß wir den Bart ausgerissen haben, so erheben wir Gegenklage und zwar ich, Naphtali Ritterstolz, wegen eines verletzten Ohrs, und ich, Chaim Fragezeichen, wegen eines blauen Augs.‹ Dann steht ein großer Tintenfleck da. Dann ›Blaue Augen‹ und hundertunddreizehn Ausrufungszeichen. Dann: ›Allerliebste Träumerin! wie sehr bewundere ich dein sanftes, liebevolles Herz.‹ Dann: ›Wir Endesgefertigten bitten daher um Gerechtigkeit.‹ Das nächste Irrenhaus ist in Lemberg. Es ist die höchste Zeit!«

»Ich hab' mich verschrieben.... Das kann jedem begegnen. Ich will's noch einmal machen.«

»Sehr gnädig! Verschrieben – haha! Seit zwei Wochen tust du nichts als dich verschreiben. ›Allerliebste Träumerin!‹ und dreihundertzweiundvierzig Ausrufungszeichen. Ich sag' dir, das kann nur einem begegnen, der... Aber ich sprech's nicht aus, ich schäm' mich! – Du bist doch auch ein Jude. Das kommt von den deutschen Büchern!«

»Davon kommt es wirklich. Es ist ein Zitat aus einem Stück, das ich eben lese, aus Schillers Räubern.«

»Hahaha! Das soll eine Entschuldigung sein. Wie kommt eins zum anderen? Sind Chaim Fragezeichen und Naphtali Ritterstolz Räuber? Arme ›Melamdim‹ (Lehrer) sind sie, denen durch die Verdrehungen dieses Luiser blutiges Unrecht geschieht. Ich aber sag' dir, du allerliebster Träumer, die Sach' ist anders, und ich kenn' diese Träumerin. Werd' nicht rot – oder nein! werd' rot, dunkelrot und schäm' dich und mach' der Sach' ein End'...«

»Ich schwör' Euch, wir haben bisher immer nur von deutschen Büchern gesprochen.«

»Schlimm genug, daß ihr überhaupt so viel gesprochen habt, dafür spricht man über euch zehnmal mehr! Ich wunder' mich nur, daß mein Vetter, Reb Jossef, es duldet. Er ist doch sonst ein frommer, braver Mann. Mach' ein End', sag' ich, oder ich mach's. Es ist die höchste Zeit. Entweder das Mädel gefällt dir und du paßt ihrem Vater, dann bitt' deine Mutter, daß sie durch den Marschallik bei ihm anfragen läßt. Oder du hast nichts Ernstes vor, dann schreib' mir nicht in meine Eingaben siebenhundertzweiundachtzig Ausrufungszeichen und unsinnige Sachen hinein! Die höchste Zeit, sag' ich, die höchste Zeit!«

Und Herr Morgenstern erhob beide Hände zum Himmel und verschwand in der »Prifat-Agentschaft«.

Sender aber blieb wie vom Donner betäubt auf seinem Platze und starrte regungslos vor sich hin. Allzu klar waren seine Gedanken und Empfindungen in den beiden letzten Wochen ohnehin nicht gewesen; jetzt vollends fühlte er sie toll durcheinander wirbeln, als hätte jedes von ihnen seinen eigenen Willen und nur er selbst keinen mehr. So saß er wohl eine halbe Stunde mit weitgeöffneten Augen und sah und hörte nichts, kaum daß er ab und zu auf das Korpus delikti blickte, das Dovidl erzürnt vor ihn hingeworfen. Es stand alles wirklich da: der Tintenfleck, die Worte, die Ausrufungszeichen. Nur ihre Zahl hatte der Winkelschreiber ein wenig übertrieben, es waren nur ihrer drei. Aber Sender seufzte doch jedesmal tief, tief auf, so oft sie ihm in die Augen fielen.

Endlich raffte er sich auf. »Aber das ist ja alles Unsinn«, murmelte er und preßte die Hand auf die Stirne. »Unsinn«, wiederholte er halblaut. »Ich hab' manchmal mit ihr gesprochen – ja, aber ›solche Sachen‹! Die Leut' reden? Was können wir dafür?« Und: »Unsinn, Unsinn!« rief er nun fast schreiend, als müßte er sich selbst überzeugen, und suchte in rechter Herzensangst alles zusammen, was für diese harmlose Auffassung sprach.

Niemals hatten sie von der Liebe gesprochen, nicht einmal in demselben Sinn wie am ersten Abend. Sie unterhielten sich von dem Leben um sie her, von den Büchern, die er kannte, von anderen, die sie ihm empfahl – und immer war sie die überlegene, aber freundlich herablassende Lehrerin gewesen, er der ehrerbietige, wenn auch nicht immer zustimmende Schüler geblieben.

Alles wußte sie, alles! Da neckte ihn Taube einmal mit seinen schüchternen Versuchen, Kaftan und Wangenlöckchen kurzer zu tragen. Aber damit kam sie bei Malke übel an. »Glaubst du, daß das jüdische Tracht ist? Wir haben sie von den Polen angenommen, als wir hier eingewandert sind. Nun tragen sie eine andere, und uns soll ihre alte heilig sein?« Man sprach von dem Neujahrsfest, das eben gefeiert wurde. »Alles haben wir anders als die Christen«, meinte er. – »Die Zeitrechnung freilich«, erwiderte sie, »aber die meisten Feste nicht. Ostern und Pfingsten zum Beispiel haben sie von uns übernommen.« Es klang unerhört, fast sündhaft, aber sie wußte es zu begründen.

Zuweilen wollte ihm ob solcher Gelehrsamkeit fast bange werden; er begann Scherze auszukramen, wie sie die Leute sonst gern von ihm hörten, aber da blickte sie ihn groß an, und er verstummte. Oder er fragte nach ihrem Leben daheim und nach ihren Jahren in Czernowitz. Darauf gab sie Bescheid, aber nur ganz kurz. Er verübelte es ihr nicht, es mochte traurig sein, nun wieder in dem öden Nest zu leben – »unter Larven die einzig fühlende Brust« – wie sie einmal zitiert hatte, »aus Schillers ›Taucher‹, den müssen Sie lesen!« – und zudem war ja eine Stiefmutter im Hause.

Er selbst enthüllte ihr auch nicht alles. Zwar von Wild erzählte er und von den Büchern, die er gelesen, aber nicht von seinen Plänen. »Taube verrät mich am Ende sonst«, dachte er. Gleichwohl schien es ihm einmal, als ob sie ihn durchschaut hätte. »Es ist merkwürdig«, sagte sie, »daß Sie bisher nur Dramen gelesen haben und mich auch nur nach Dramen fragen. Auch Romane sind schön, und gar Gedichte.« Ihre Augen leuchteten. »›Laura am Klavier‹ oder ›Das Lied an die Freude‹. Goethes Gedichte sind ja auch hübsch, aber nicht wie diese! Aber Sie kümmern sich nur um ›Spiele‹. Warum?« Sie blickte ihn lächelnd an. Er errötete. Dann begann sie vom Czernowitzer Theater zu sprechen und welch großer Künstler Nadler sei.

»Den kenn' ich ja«, rief er, »und ein guter Mensch ist er auch!«

Wieder lächelte sie ganz eigentümlich. »Also Sie kennen ihn?« sagte sie. »Das erklärt mir vieles.« Er war sehr verlegen, sie aber fuhr rasch fort: »Es ist übrigens ein gefährlicher Beruf! Wie leicht gleitet man da in die Tiefe, wie schwer ist's, nach oben zu klimmen! Es kommt nicht auf das Talent allein an, auch auf den Charakter. Da war im Frühling eine Truppe bei uns, erbärmliche Schmierenkomödianten, aber ein Mädchen war wirklich begabt. Ich habe mich für sie interessiert, schon ihres Talents wegen und dann weil die Leute fanden, sie sähe mir ähnlich. Aber sie war nicht mehr zu retten!«

All der Gespräche erinnerte er sich nun. »Nein, Dovidl, du tust mir unrecht!« Aber es war ja auch aus anderen Gründen »Unsinn«. Hätte es sonst der Vorsteher geduldet? Es geschah ja unter seinen Augen. »Und du, Langnasiger«, murmelte er, »weißt nicht, was ich weiß: daß er sie seinem Mosche bestimmt hat. Der Alte würde schön dreingefahren sein, wenn so was zu wittern wäre.«

Er streckte den Kopf aus der Ladentür und atmete tief auf. Aber da fuhr er erschreckt zusammen und wurde bleich. Und warum? Ein Tropfen war ihm auf die Nase gefallen, und als er emporblickte, sah er, daß der Himmel umwölkt war. »Um Gotteswillen, es wird regnen bis zum Abend, wie vorgestern, und ich seh' sie nicht!« Und da schoß ihm auch wieder das Blut in die Wangen. »Warum war ich vorgestern so unglücklich, warum bin ich jetzt so erschrocken? Weil sie mich belehrt? Das mag ich Dovidl erzählen, aber nicht mir selber. Lüg' nicht, Sender! Wenn's dir nur um die Belehrung ist, warum klopft dir das Herz zum Zerspringen, sobald es dämmert? Warum zieht's dich wie mit Ketten zu Jossefs Haus? Warum starrst du ihr immer so ins Gesicht! Du horchst kaum auf das, was sie spricht, und siehst sie nur immer an und denkst: ›O wie schön sie ist!‹ Deine Lehrerin! Hast du je von dem Furbes geträumt oder jetzt vom Pater Marian! Und von ihr allnächtlich! Und du arbeitest ja auch in all der Zeit nichts mehr, und was du machst, ist verkehrt. Du träumst am hellen Tag und denkst ja an nichts, gar nichts mehr als an sie. Du bist verliebt, Sender. Ja, das ist das, was in den Büchern die ›Liebe‹ heißt, und nichts anderes!«

Er sank auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und schlug die Hände vors Gesicht. Um Himmelswillen, das war ja ein Unglück, er konnte sie ja nicht heiraten, er mußte doch nach Lemberg gehen, sobald die Sache mit dem Mautvertrag der Mutter in Ordnung war. Aber wie sollte er fort? Er war vorgestern wie ein Narr im Regen auf dem Marktplatz auf und ab gelaufen, ob sie sich nicht doch blicken lasse, und war dann endlich ebenso durchnäßt wie verzweifelt heimgeschlichen, und heute hatte ihn der eine Tropfen entsetzt – er blickte hinaus, nun regnete es wirklich, o Jammer – wie sollte er sie nun gar für immer entbehren! Sie lassen? Unmöglich! Sein Ziel lassen? Unmöglich! Aber eins von beiden mußte doch sein. Das war ja ein Unglück, ein wirkliches, wahrhaftiges, großes Unglück!

Erregt sprang er auf und begann im Laden auf und nieder zu gehen. Noch einmal suchte er sich zu verteidigen. »Aber von ›solchen Sachen‹ war doch wirklich nie –«

Nein! aber weshalb nicht, lieber Sender? Nur weil du dich nicht getraut hast, davon zu beginnen. Sie ist ja schon bei der geringsten Schmeichelei unwillig geworden! »Da war das mit den Namen«, murmelte er, »und dann mit dem Haar.« Sie hatte der Annahme christlicher Vornamen das Wort geredet, auch Taube, Jütte, Hirsch, Wolf seien ja deutsche Namen.

»Und Sie heißen dann Regina«, meinte er, »Königin bleibt Königin!«

Da wandte sie den Kopf ab und ging bald ins Haus.

Sie sprachen von der grausamen chassidischen Sitte, den Mädchen vor der Trauung das Haupthaar abzuschneiden. »Wenn ich daran denke«, rief er grimmig, »daß Ihr herrliches Haar geopfert werden soll!« – sie lohnte es in gleicher Weise.

Er war natürlich nie darüber erfreut gewesen, hatte sich aber getröstet: »Sie fühlt sich eben schon als Mosches Verlobte und hat sich in ihr Schicksal gefunden.« Erst jetzt fiel's ihm ein, daß diese Ergebung sie nicht hinderte, im Beisein ihrer künftigen Schwägerin so scharf über derlei ungleiche Ehen herzuziehen und von Mosche als von einem verzogenen Knaben zu sprechen. Hatte es einen anderen Grund? Etwa dieser Bernhard, den sie so oft zitierte...? Unmöglich, er mußte ja weit, weit älter sein als sie, sie hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Es war doch wohl nur der Gedanke: »Wenn ich Jossef Grün gefalle, bin ich die Braut seines Sohnes.« Aber es war fast unmöglich, daß er, einer der Frömmsten im Ghetto, eine solche Schwiegertochter wählte. Darum gestattete er wohl auch den Verkehr mit Sender: von Jossef also war kein Einspruch zu befürchten. Und ebensowenig von ihrem Vater, er gab wohl nach, wenn er sah, daß es auch mit Mosche nichts war. Sie selbst aber? »Wenn sie Mosche gewollt hat«, dachte er, »so wird sie doch auch mich nehmen.« Nur an ihm selbst lag das Hindernis! – er mußte ja Schauspieler werden. –

»Ich muß«, murmelte er. »Ich muß«, wiederholte er lauter. »Schon heut' abend geh' ich nicht mehr hin. Das Herz wird mir weh tun, ich kann ihm nicht helfen... Und jetzt wird wieder gearbeitet.« Er schritt an seinen Platz zurück. »Mit aller Kraft!« rief er laut und streckte die Arme.

»Jesus Maria!... O du armer Senderko!«

Er sah sich erschreckt um. An der Tür des Ladens stand Fedko und blickte ihn scheu, aber mitleidsvoll an.

»Du, Fedko? Komm' näher.«

Aber der Alte blieb an der Tür stehen, und als Sender auf ihn zutrat, wich er einen Schritt zurück.

»Also du sprichst jetzt schon immer mit dir selbst?« sagte er bang und musterte ihn scharf. »Ich hab' dir immer gesagt, Senderko, das nimmt kein gutes Ende.... Läßt du dich deshalb nicht mehr blicken?«

»Nein, Fedko, ich bin noch bei Vernunft. Ich bin seit der Wahl ausgeblieben, weil ich nicht gewußt habe, ob Pater Marian wieder Zeit für mich hat.«

»So, so?« Der Pförtner schüttelte den Kopf. »Und Augen macht er heute auch«, murmelte er, »wie ich sie noch nicht an ihm gesehen habe. Aber was geht das mich an? Also«, fuhr er laut fort, »der Hochwürdige läßt dir sagen, daß du von heut' mittag ab wieder in die Bibliothek kommen kannst, obwohl er seit vorgestern nicht mehr daneben wohnt.«

»So? Warum?«

»Weil er kein ganzer Sünder mehr ist, sondern nur noch zur Hälfte, oder zu einem Viertel oder vielleicht gar nicht. Nämlich ein neuer Prior, eine neue Frömmigkeit. Dieser hochwürdige Valerian« – er seufzte tief auf – »stellt alles auf den Kopf. Ein bißchen Trinken ist eine Sünde, aber den Juden Baugründe verkaufen, das darf ein Christ. ›Die Mönche brauchen zu viel‹, sagt er, aber bei einer Malerin in Lemberg ein neues Altarbild für die Klosterkirche bestellen, dazu hat er das Geld. Den Pater Ökonom hat er in eine Nonnenzelle gesetzt, weil er ihm nicht glaubt, daß die Försterin, die Frau Putkowska, seine Nichte ist, und sie ist es doch schon seit acht Jahren. Aber der Pater Marian, der einem Juden eine ›Kommedia‹ lehrt, bekommt ein schönes Zimmer im ersten Stock. Das heißt, das weiß der Prior freilich nicht und soll's auch nicht erfahren. Also kommst du heute an die Tartarenpforte?«

»Ja, und ich lasse dem Pater schön danken.« Da fiel sein Blick auf die Eingabe; die mußte ja sofort geschrieben sein. »Erst morgen, lieber Fedko, da aber gewiß.«

»Gewiß?« fragte der Alte und schüttelte traurig den Kopf. »Was ist in solchen Zeiten gewiß? Am Ende verlier' ich auch diesen Slibowitz. Aber wie Gott will.«

Sender machte sich an die Arbeit. Vorerst besah er sich noch die verhängnisvolle Stelle. Nun fiel ihm bei, wie der Schaden entstanden. Der mächtige Tintenfleck war zuerst auf den Bogen gekommen. Er hatte gewartet, bis er etwas getrocknet sei, um ihn wegradieren zu können. Dabei waren ihm die Gedanken von Chaim Fragezeichens blauem Auge zum Marktplatz gewandert. Dann hatte er den Bogen umschreiben wollen, aber am nächsten Morgen das Blatt gewendet und den Schluß beigefügt.

»Heute soll mir so was nicht passieren«, dachte er. Er faltete einen neuen Foliobogen und begann das Rubrum zu schreiben. »Replik in Sachen«... Dovidl sollte diesmal zufrieden sein, das Wort »Replik« ein Muster kalligraphischer Kunst werden, wie er es liebte. An dem »R« malte er allein einige Minuten.

»Arbeiten«, dachte er dabei. »Und die Sach' muß ein End' nehmen. Aber heut' schon soll ich nicht mehr hingehen?« Er blickte hinaus, der Regen hatte aufgehört. »Was soll sie denn davon denken? Sie wird gekränkt sein. Und einmal mehr oder weniger macht doch keinen Unterschied. Und heut' hat sie mir ja versprochen, das Trauerspiel von Schiller zu erzählen, wo eine Königin die andere köpft. Das liest sie am liebsten, sagt sie, ich glaub's. ›Malke‹ heißt sie, eine Königin ist sie, eine Regina, wie die Christen sagen.... O, wie schön sie ist, o, wie schön!«

Die Tür wurde aufgerissen, Dovidl stürzte herein.

»Die Eingab' – bist du fertig? Noch nicht? Ich fahr' aus der Haut. Was hast du in den zwei Stunden getan?« Er riß das gefaltete Blatt vom Tische. »Was!... Was?« Seine Augen wurden immer größer. » Regina‹ – hahaha! Nach Lemberg – morgen, heute, in diesem Augenblick. Eine Zwangsjacke und nach Lemberg!«

Schreckensbleich starrte Sender auf seine neue Missetat. Wahrhaftig, da stand der Name in so schönen lateinischen Buchstaben, wie er sie irgend leisten konnte.

»Verzeiht...« stammelte er, »ich – ich hab' nur die Feder probieren wollen.«

»Probieren!« lachte Dovidl krampfhaft. »Seit zwei Stunden hat er die Feder probieren wollen und nichts ist ihm dabei eingefallen, als wie ›Malke‹ auf ›christlich‹ heißt.... Hahaha! Aber was lach' ich noch.... Blutige Tränen sollt' ich weinen. Das ist die Arbeit für sechs Gulden monatlich! Du machst mich arm, du reißt mir den Kaftan vom Leibe, die Hosen reißt du mir von den Beinen, die Unterhosen...«

Der erregte Mann hätte sein Elend wohl bis auf die Haut enthüllt, wenn nicht seine Frau in diesem Moment die Tür der »Prifat-Agentschaft« geöffnet und ihm mit den Augen gewinkt hätte. »Wer ist denn da?« rief er, stürzte aber, als sie ihn bedeutungsvoll anblickte, eilig hinaus.

Sender machte sich wieder an die Arbeit. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und der Teil, den er bis zur Mittagsstunde fertig brachte, enthielt keine Fehler. Dann lief er eilig zum Essen heim, er wollte raschestens zurück sein, sein Gewissen drückte ihn.

Er mußte allein essen. Frau Rosel war nicht daheim. Sie war es gewesen, um derentwillen Dovidl abberufen worden.

Rabbi Manasse hatte sie zu sich entbieten lassen und ihr ein gestern an ihn gelangtes Schreiben des Rabbi von Marmaros-Szigeth in Oberungarn vorgelesen. Sein Amtsbruder teilte ihm mit, Froim Kurländer lebe seit einigen Monaten dort. Da er als morscher und verlotterter Mensch der Gemeinde zur Last falle, habe diese mit großem Vergnügen zur Kenntnis genommen, daß jemand nach ihm suche, und dies dem Bettler mitgeteilt. Froim sei auch gern bereit, nach Barnow zu kommen, jedoch nur gegen Erhalt der Reisekosten. Ob die Barnower Gemeinde sie senden wolle? Wo nicht, so wollte die Szigether den alten Lumpen jedenfalls los sein und ihn gleich nach den Feiertagen entfernen, aber ob er dann nach Barnow komme, könnte sie nicht verbergen. »Er lebt also wirklich«, schloß Frau Rosel ihren Bericht an den Winkelschreiber verzweiflungsvoll, »und kommt her, obwohl unsere Gemeinde ihm natürlich kein Geld schickt. Aber wenn die Szigether ihn fortjagen, bettelt er sich doch wohl nach Barnow durch, da er ja hier gesucht wird. Rabbi Manasse sagt, er muß Luiser den Brief geben.«

»Dem Schurken!« rief Dovidl wütend. »Seht Ihr nun ein, welcher Stümper er ist?«

Sie blickte ihn befremdet an. »Ich denke«, erwiderte sie, »diesmal hat er seine Sache nur allzu gut gemacht.«

»Ein Stümper«, wiederholte Dovidl nur umso heftiger. »Er wird den Brief beim Bezirksamt einreichen und den Antrag stellen, dem Froim Eure Klage durch das Szigether Amt zuzustellen. Natürlich ist es nun mit der Todeserklärung nichts, und wir haben einen Prozeß, der jahrelang dauert und weiß Gott wie endet. Aber deshalb ist er doch nur ein elender Stümper. Warum? Weil er sich auf den Zufall verläßt! Wenn dieser Froim nicht zufällig noch leben würde, wie stünde Luiser jetzt da? Ein ›Prifat-Advokat‹, der sich auf den Zufall verläßt – hahaha! Ich tu' das nie.«

Aber das war kein genügender Trost für Frau Rosel, und auch ihre größte Sorge vermochte er nicht zu beseitigen.

»Er wird nicht herkommen!« rief er. »Ganz gewiß nicht! Oder doch wahrscheinlich nicht! Oder es ist doch wenigstens möglich, daß er nicht kommt. Übrigens, wenn er kommt, – ich hab's Euch ja immer gesagt, daß er kommen wird! Nicht? Da irrt Ihr Euch! Ich hab's gesagt, oder ich hab's doch wenigstens immer geglaubt – also, wenn er kommt, so ist's für uns umso besser. Dann will er entweder nicht zu Euch ziehen, und Ihr werdet geschieden, oder er will, dann ist alles in Ordnung, in schönster Ordnung. Und ich hoff', Frau Rosel, daß wir das erreichen. Er ist ja ein alter Bettler, warum sollt' er sich nicht von Euch versorgen lassen?«

»Aber das wär' ja mein größtes Unglück«, schrie sie entsetzt auf. »Und was soll ich dann meinem Sender sagen?«

»Verzeiht«, sagte Dovidl, »das gehört nicht mehr zu der Sach' ›Kurländer kontra Kurländer‹, in Familiengeschichten misch' ich mich nicht. Und da bald ›Jom-Kippur‹ (Versöhnungstag) ist, und ich bis dahin sehr viel zu erledigen hab' –«

Sie ging. »Nun muß er heiraten«, dachte sie. »Binnen zwei Wochen muß es sein. Denn wenn Froim früher da ist, so geht er mir auf und davon.« Und sie eilte zum Marschallik.

Itzig Türkischgelb nickte. »Binnen vierzehn Tagen«, sagte er. Und als sie ihn zweifelnd anblickte: »Frau Rosel, hab' ich je mehr versprochen, als ich halten kann? Heut' ist Montag. Spätestens am Donnerstag sind die beiden verlobt, wenn nicht geradezu ein ›Sched‹ (böser Geist) dazwischen kommt. Am Sonntag, wo wir ›Jom-Kippur‹ haben, könnt Ihr unserem Herrgott nicht bloß Eure Sünden sagen, denn damit werdet ihr arme, gute Frau, bald fertig sein, sondern auch Eure Freuden. Und die werden groß sein. So ein Mädchen!«

»Aber wird er wollen?«

Der Marschallik lächelte. »Er? Er glüht, er brennt, er flammt! Gegen sein Herz ist ein Kalkofen eine Eisgrube.... Da macht mir anderes mehr Sorge, aber das wird sich auch finden. Freilich müssen wir es vernünftig anstellen. Wißt Ihr, wie es unser Kaiser vor drei Jahren gemacht hat, als er mit den Ungarn nicht hat fertig werden können?«

Sie blickte ihn verblüfft an.

»Er hat die Russen gerufen. Kommt zum Telegraphenamt.«

Dort ließ er den Beamten eine Depesche schreiben. Sie erfuhr nicht, was drin stand, obwohl sie einen Gulden Gebühr bezahlen mußte. Aber der Marschallik tröstete sie: »Das Geld ist vernünftig angelegt, verlaßt Euch drauf. Und nun will ich mit Sender reden.«

Vergnügt lächelnd schritt er neben ihr dem Mauthause zu. Da wurde sein Gesicht plötzlich gramvoll und finster. »Schneidet ein bestürztes Gesicht«, flüsterte er ihr hastig zu. Es gelang ihr nur zu gut, als sie in seine jählings verwandelten Züge blickte. »Da ist er ja«, fuhr er leise fort. In der Tat kam Sender rasch des Weges, er wollte in den Laden zurück.

»Frau Rosel«, begann der Marschallik, als der junge Mann in Hörweite war, mit lauter Stimme, »ich hab' Euch gleich gesagt und wiederhol's nun: Euch geb' ich keine Schuld, aber mit Sender bin ich fertig! Fertig!« wiederholte er, »obwohl mir das Herz dabei sehr weh tut.« Seine Stimme brach sich vor Wehmut. »Denn ich hab' ihn lieb gehabt wie einen Sohn und war gegen ihn wie gegen einen Sohn! Und er, er tut mir dafür das an, das, Frau Rosel!«

»Was?« wollte sie fragen.

»Schweigt!« murmelte er hastig und fuhr laut fort: »Ihr schweigt! Recht habt Ihr! Da ist nichts mehr zu sagen. So einen Undank, wie ich von diesem Pojaz –«

»Von mir?« rief Sender bestürzt und trat heran. »Was redet Ihr da, Reb Itzig? Was hab' ich Euch getan?«

Der Marschallik lachte krampfhaft auf. »Was er mir getan hat? Das arme, unschuldige Kind! Soll ich ihm überhaupt noch antworten, Frau Rosel? Verdient er, daß ich ihm antworte? Aber weil Ihr mich drum bittet – meinetwegen.... Komm'!« und er schritt finster dem Mauthaus zu.

»Was ist geschehen?« wandte sich Sender kleinlaut an die Mutter.

Sie zuckte die Achseln. »Geh' nur«, erwiderte sie. »Du wirst ja hören.« Sie selbst trat in die Küche; sie wußte nicht, welches Gesicht sie bei dieser Unterredung machen sollte.

Als sie in der Wohnstube waren, begann der Marschallik: »In mir kocht's, aber ich will ruhig bleiben. Ich will dich nur etwas fragen: Weißt du, daß das Vermitteln von Heiraten mein Erwerb ist: ja oder nein?«

»Natürlich, Ihr lebt davon. Aber –«

»Gut oder schlecht? Bin ich ein reicher Mann?«

»Nein. Aber –«

»Hast du gewußt, daß es mein Geschäft ist, wenn Reb Hirschs Malke heiratet? Und hast du gewußt, wozu Malke in das Haus des Vorstehers gekommen ist? Nun? Werd' nicht rot wie ein Krebs, nicht grün wie eine Gurke, schnapp' nicht nach Luft wie ein Karpfen im Sand, sondern antworte: ja oder nein!«

»Nun – ja!«

»Und woher hast du es gewußt?« donnerte Türkischgelb. »Weil ich es dir anvertraut hab'. Als Geheimnis meinem besten Freund anvertraut! Und wie hast du das Vertrauen benützt? Du hast mein Geschäft zerstört, hast die Partie zerstört!«

Sender konnte nichts erwidern. Schuldbewußt stand er mit bleichen Mienen vor seinem Ankläger.

»Zerstört, zerbrochen«, fuhr der Marschallik fort, »wie ich das zerbreche.« Er riß ein Zweiglein des Lindenbaums ab und zerstückelte es. »Heut' komm' ich ahnungslos zu Reb Jossef und freu' mich schon auf den guten Lohn, den mir Reb Hirsch versprochen hat, da donnert er mich an: ›Ich will nichts mehr von Euch wissen und nichts mehr von dem Mädchen. Eine, die sich jeden Abend von einem Burschen unterhalten läßt und den Hof machen, als ob sie beide Christen wären, ist mir für meinen Mosche zu schlecht. Mit ihr red' ich nicht darüber, aber ihrem Vater hab' ich geschrieben, daß er sie morgen abholen soll‹... Sender«, rief er ausbrechend, »warum hast du mir das getan?«

»Ohne meine Absicht«, stammelte dieser. »Und Taube war ja dabei. Sie kann bezeugen, daß ich ihr nie was Unrechtes gesagt hab'.«

»Lüg' nicht!« rief Türkischgelb heftig. »Denn entweder lügst du oder du bist ein schlechter Mensch. Nur ein solcher Mensch kann es in der Ordnung finden, wenn ein junger Mann der Braut eines anderen sagt, daß sie die Königin über alle Weiber ist, und daß er vor Schmerz vergeht, wenn er daran denkt, daß ihr herrliches Haar abgeschnitten werden soll. Du siehst, ich weiß alles. Die arme Taube, die auch nur Verdruß davon hat, hat es heut' ihrem Schwiegervater gestehen müssen. Und bedenk', Malke war die Braut eines dummen, grünen Jungen, und du bist ein hübscher, kluger Mann, der Deutsch reden kann, da hätte dein Gewissen doppelt auf der Hut sein sollen.«

Sender war zerknirscht, aber dieser Vorwurf schmeichelte ihm doch.

»Ich will mich nicht verteidigen«, sagte er, »Ihr würdet mich doch nicht verstehen, weil Ihr alles nach den hiesigen Sitten beurteilt. Nur eines will ich Euch sagen: wenn Ihr recht hättet, wenn ich diese Partie zerstört hätte, so täte es mir wohl um Euretwillen leid, aber sonst wär's mir eine Freude. Denn ein Mädchen wie Malke ist für einen Mosche zu gut! Aber Ihr gebt mir grundlos die Schuld, sie hätte ihn ohnehin nicht genommen.«

»Da irrst du!« erwiderte der Marschallik nachdrücklich. »Sie hätt's getan, so lang sie an keinen anderen dachte. Jetzt freilich nicht mehr. Schon vor einigen Tagen hat sie Taube gesagt: ›Und wenn mich mein Vater verstößt, ich heirate nur den Mann, den ich mir selbst ausgesucht habe, für den ich passe, der für mich paßt‹... Warum wirst du so rot?«

Sender wandte sich ab.

»Und das«, rief der Marschallik mit donnernder Stimme, »das ist dein schlimmstes Verbrechen. Daß du die Partie zerstört hast, könnt' ich dir verzeihen – ich hab' dir damals selbst gesagt, ich hätt' sie lieber einem anderen gegönnt. Und meinen Verdienst – Gott wird mich auch so nicht verhungern lassen. Aber daß du, sonst ein guter, braver Mensch, so schlecht, so gewissenlos an einem armen Mädchen gehandelt hast, an diesem Mädchen, für das selbst der Beste kaum gut genug wär' – das verzeih' ich dir nicht!... Du willst nicht heiraten, sagst du? – Gut, deine Sache. Aber dann dennoch so tun, als ob's dir Ernst wäre, und dem armen Mädchen den Kopf verdrehen, das Herz brechen – pfui, Sender, ich hab' kein anderes Wort... du heiratest sie nicht, einen anderen nimmt sie nicht – was soll aus ihr werden?«

Schwer atmend, das Haupt auf den Arm gestützt, saß Sender da. Wie bei jeder heftigen Aufregung empfand er auch diesmal ein leichtes Stechen in der Lunge, aber er achtete nicht darauf; in ihm stürmte es wie nie zuvor.

»Ich hab's nicht gewollt«, murmelte er. »Bei Gott im Himmel, ich hab's nicht gewollt.«

»Das glaub' ich dir«, sagte der Marschallik milder. »Ein solches Mädchen absichtlich ins Gerede und für sein ganzes Leben um sein Glück bringen – ich glaub', dazu wär' der Schlechteste nicht schlecht genug.... Aber jetzt ist es einmal so.... Und nun? Was nun? Es geht mir ja nicht bloß um sie, sondern auch um dich, es wird dein Lebenlang auf dein Gewissen drücken.«

»Da habt Ihr recht«, murmelte Sender düster und preßte dann wieder die Lippen zusammen. Auch der Marschallik sagte nichts mehr. Es war ein banges, schwüles Schweigen.

»Ich gehe«, sagte Türkischgelb endlich und griff nach dem Hut. »Bleib' du ruhig hier – bei Dovidl entschuldige ich dich schon – und überleg' dir die Sach'. Ein Mensch wie du tut nichts ohne vernünftigen Grund. Es muß einen Grund haben, daß du nicht heiraten willst. Das also spricht dagegen, aber vielleicht doch nicht so, wie du glaubst. Was du aus dir machen willst, mag Gott wissen, aber doch gewiß keinen Mönch. Bedenke, vielleicht kannst du es auch als verheirateter Mann erreichen.«

Sender machte eine heftige Bewegung, nicht der Abwehr, sondern der Überraschung.

Türkischgelb schien es nicht zu bemerken. »Und ferner«, fuhr er fort, »mußt du dir überlegen, ob es viele solche Mädchen gibt wie Malke, und was dir die Ruhe deines Gewissens und das Glück deiner Mutter wert sind. Ich mach' dir einen Vorschlag: morgen mittag ist Reb Hirsch hier und holt sie ab. Willst du, daß ich mit ihm rede, so sag' es mir bis dahin. Daß er auch jetzt ›nein‹ sagen wird, glaub' ich nicht – der arme Vater, dessen Kind du ins Gered' gebracht hast! Willst du also, so kann morgen abend die Verlobung gefeiert werden. Willst du aber nicht, so versprich mir, dem armen Kind wenigstens das Herz nicht noch schwerer zu machen und heut' abend nicht mehr auf den Marktplatz zu kommen.«

»Das tu' ich keinesfalls«, murmelte Sender.

»Wenn du dich so entschließt, wie ich von Herzen wünsche, so kannst du kommen. Warum nicht? Malke weiß noch nichts davon, daß Jossef Grün sich entschlossen hat, ›nein‹ zu sagen, nicht einmal, daß ihr Vater morgen kommt. Ich weiß nicht, warum es ihr Jossef nicht sagen will. Sie ist also ganz unbefangen und wird dich erwarten und sich kränken, wenn du nicht kommst. Freilich, bleibst du bei deinem ›Nein‹, so ist es gleichgültig, ob sie sich von heut' abend an fürs ganze Leben zu grämen beginnt oder erst von morgen mittag!«

Er reichte ihm die Hand. »Möge dich Gott zum Rechten führen«, sagte er warm und verließ die Stube. Draußen sagte er zu Frau Rosel: »Laßt ihn allein! Fragt ihn nicht... Der arme Junge!«

»Warum bedauert Ihr ihn?« rief sie erschreckt.

»Weil es ihm so hart fällt, glücklich zu werden«, erwiderte der Marschallik, nun wieder lächelnd. »Aber er wird glücklich, verlaßt Euch drauf.«

Je näher er der Stadt kam, desto fröhlicher wurde er. Er hatte eine Komödie gespielt und sich in vielem an der Wahrheit versündigt, aber es war ja notwendig gewesen. »Für ihn ist's das Beste«, dachte er, »und für sie wohl auch. Meine Jütte sieht da zu schwarz. Ein Bursch wie Sender – warum sollte nicht auch Malke mit der Zeit glücklich werden? Sie ist ja sehr verständig und ein jüdisch Kind – das findet sich in alles.«


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