Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

So trat von all den Schrecknissen, die Fedko vorausgesehen, nur eines ein: mit dem Slibowitz des Ökonomen war es wirklich zu Ende. Im übrigen verzieh ihm der Prior, und Sender entschädigte ihn reichlich. Dem jungen Manne war's, seit er die Entscheidung des Priors erfahren, als wären ihm Flügel gewachsen, und die Welt erschien ihm von ewigem Sonnenglanz überflutet. Nun war er endlich frei, frei – am einunddreißigsten Januar bekam die Mutter die Pacht wieder zugesprochen, am folgenden Tage wollte er nach Lemberg aufbrechen. Freilich bangte es ihm ein wenig vor der großen Stadt, den wildfremden Menschen, indes – das mußte eben überwunden werden.

Aber ein gütiges Schicksal schien ihn auch dieser Sorge überheben zu wollen. Wenige Tage nach jener Überraschung durch den Prior überreichte ihm Fedko einen Brief. Er trug den Poststempel Hermannstadt in Siebenbürgen und Nadlers Handschrift auf der Adresse. Vor Aufregung zitternd las Sender die Zeilen.

Der Direktor schrieb, er habe zwar seit jenem Dankbrief, der ihn sehr erfreut, obwohl da noch der Briefsteller etwas zu ausgiebig benützt gewesen, nichts von Sender gehört, hoffe aber, daß ihn dies Schreiben gesund und seinem Vorsatz getreu finde. Auch habe er hoffentlich die Bücher fleißig studiert. »Da ich im vorigen Jahr in Czernowitz gute Geschäfte gemacht habe – nur hatte ich da viel Verdruß, weil mir einige, gottlob untergeordnete Mitglieder, unter Führung meines zweiten Komikers Stickler, durchbrannten, um sich, wie ich höre, in Galizien herumzutreiben –, so gedenke ich auch dieses Jahr am 1. März dort einzutreffen. Willst Du kommen, so erwarte ich Dich also zu diesem Termin und möchte Dir raten, Dich, falls Du überhaupt noch Schauspieler werden willst, nun durch keine äußeren Hindernisse abhalten zu lassen. Denn da Du nun bald zweiundzwanzig Jahre alt bist, so ist's die höchste Zeit.« Unumwunden – schrieb er ferner und auf die Gefahr hin, in Senders Augen an Autorität einzubüßen – wolle er gestehen, daß ihm Zweifel gekommen, ob sein erster Rat, noch zwei Jahre in Barnow zu verbringen, ein guter gewesen. »Es sprach ja vieles dafür, aber ich bereue es doch, Du wärest, wenn ich Dich damals gleich mitgenommen hätte, wahrscheinlich viel weiter. Denn fast alle Kollegen, denen ich von Dir erzählt habe, waren dieser Meinung, darunter namentlich Dein großer Landsmann Bogumil Dawison, den ich in diesem Sommer in Dresden gesprochen habe. Meine Erzählung Deiner Schicksale hat ihn auf das lebhafteste interessiert und an seine eigene Jugendzeit erinnert. Hoffentlich triffst Du einmal, wenn auch Du ein tüchtiger Schauspieler geworden bist, mit ihm zusammen und Ihr könnt dann beide von Euch sagen, daß Euch die frühen Kämpfe und Entbehrungen nicht gebrochen, sondern gestählt haben. Dawison also war es vornehmlich, der mir sagte: ›Sie kennen das polnische Ghetto nicht, wohl aber ich. Sie hätten den armen Jungen sofort befreien müssen. Auch wird man nur durch Spielen ein Schauspieler, nur auf der Bühne und nicht aus Büchern. Hätte Ihr Schützling, wenn er ein Talent ist‹ – und das bist Du, Sender –, ›auf der letzten Schmiere zwei Jahre lang Bediente gespielt, so würde ihm das mehr genützt haben, als wenn er inzwischen eine ganze Bibliothek durchstudiert hat.‹ Wie gesagt, lieber Sender, ich wollte Dir dies nicht verschwiegen haben, obwohl es gegen mich spricht, weil ich Dich nun wenigstens vor längerem Zögern bewahren möchte.« Der Brief schloß mit dem Rat, Wäsche, aber so wenig Kleider wie möglich mitzunehmen. »Denn Deinen Kaftan wirst Du bei mir nicht tragen. Was Geld betrifft, hast Du keins, so mach' Dir nichts draus. Also auf Wiedersehen am 1. März.«

Sender las und las immer wieder. »Der gute Mensch«, murmelte er gerührt. »Wie er sich nun gar selbst anklagt, und er hat mir doch gewiß geraten, so gut er's verstanden hat. Zum Glück irrt er sich obendrein, er weiß ja nicht, was für einen Lehrer ich inzwischen gehabt habe und was ich schon kann... Freilich, nun reise ich erst gegen Ende Februar, aber an den drei Wochen kann doch mir nichts liegen und dem Herrn Prior hoffentlich auch nicht.... Aber dieser Stickler – prügeln sollt' man ihn, solche Lügen auszusprengen: ›wegen fünfzig Gulden –‹ hahaha!«

Er lachte vergnügt auf. Auch Pater Marian wünschte ihm aufrichtig Glück. »Das scheint ein redlicher und verständiger Mann«, sagte er. »Du bist in guten Händen.... Und daß sich Dawison für dich interessiert, kann dir einmal sehr nützen....«

»Gewiß«, sagte Sender. »Aber wenn er«, fügte er zögernd bei, »nur dabei bleibt, auch wenn ich berühmt geworden bin. Künstler sind oft sehr auf einander neidisch. In meinem Lesebuch steht eine Geschichte von Talma –«

»Nun«, lachte der Pater, »für einige Jahre hat ja wohl Dawison noch keinen Grund dazu...«

Sender errötete. »Natürlich... Aber ich werd' nie neidisch sein...«

Sie lasen heute die Gerichtsszene. Sender hustete so oft, daß ihn der Pater besorgt anblickte.

»Das kommt von dem Brief«, entschuldigte sich Sender. »Sobald mich etwas aufregt, ob es nun traurig oder lustig ist, spür' ich's hier.« Er deutete auf die Brust.

Der Pater schüttelte den Kopf. »Kein Wunder«, sagte er, »du hast ja diesen Winter wieder unvernünftig gelebt, die Nächte gearbeitet, kaum vier Stunden geschlafen.«

»Aber habe ich«, wendete Sender ein, »wissen können, daß der Prior meiner Mutter hilft und Nadler mir? Jetzt freilich bedaure ich es. Übrigens bin ich ja gesund genug.«

Dieser Meinung war der Pater nicht, aber er schwieg. »Wozu ihm bange machen«, dachte er, »halten läßt er sich ja doch nicht.« Laut aber sagte er: »Du mußt dich recht schonen, auf der Reise, aber auch in Czernowitz. Mit deinen dreihundert Gulden reichst du freilich nicht allzuweit!«

»Mit dreihundert Gulden?« rief Sender erstaunt. »Damit würd' ich zehn Jahre auskommen. Aber ich hab' ja nicht einmal so viel und nehm' gar nur einen Teil mit. Von den dreihundert Gulden ist der Zehnte für die Armen abgegangen, macht zweihundertsiebzig, meine Zinsen und Ersparnisse dazu macht zwanzig, zusammen zweihundertneunzig. Davon nehm' ich vierzig mit und zweihundertfünfzig laß' ich der Mutter.«

»Das ist zu viel!« rief der Pater heftig.

»Ich meine nur«, erwiderte Sender zaghaft, »weil er schreibt, ich brauche deutsche Kleider.«

»Zu viel, was du der Mutter hinterläßt. Sie behält ja ihren Erwerb.«

Sender schüttelte den Kopf. »Bedenken Sie, ich muß ja gehen, aber gegen sie ist es schlecht und herzlos. Auf andere Art kann ich ihr nicht beweisen, daß ich doch ein guter Sohn bin.«

Der Kummer, den er der Mutter bereiten würde, war nun wieder wie im Vorjahr die einzige Last, die er empfand. Denn im übrigen gestaltete sich alles gut; die Pacht wurde der Mutter zu den alten Bedingungen zugesprochen, von Nadler kam auf seinen Dankbrief ein zweites Schreiben, das ihn herzlich willkommen hieß.

Mit aller Sorgfalt bereitete er nun seine Reise vor. Am Mittwoch, den 24. Februar, wollte er sie antreten, dann war er Freitag abend in Czernowitz und konnte sich Sonntag bei Nadler melden. Da die Mutter sein Reiseziel nicht ahnen durfte, so wollte er vor Tagesanbruch das Haus verlassen, bis zum Dorfe Miaskowka zu Fuße wandern und dort einen Bauernschlitten mieten, der ihn bis zum Städtchen Tluste brachte. Unter den Leuten des Ghetto wollte er von niemand Abschied nehmen, als von Jütte; sie verriet ihn gewiß nicht, und wenn er sie recht bat, stand sie der Mutter gewiß in den ersten schweren Tagen bei. Die anderen aber, die ihm nahe gestanden, wollte er zum mindesten vor der Reise noch besuchen.

Am letzten Sonnabend, den er im Ghetto verbrachte, lud er sich bei seinem einstigen Lehrherrn, Simche Turteltaub, zu Tische. Außer ihm war noch ein anderer Gast anwesend, ein »Schnorrer«, »Meyer mit dem langen Bart« genannt, der damals seiner Schnurren wegen einen guten Ruf in der Bukowina und Südrußland besaß; Galizien bereiste er zum ersten Male. Simche ehrte ihn durch die besten Bissen, wie es die Sitte gebot, ganz besonders freundlich aber war Sender gegen ihn. Er liebte das abenteuerliche, sorglose Wesen dieser fahrenden Leute und hatte sich immer gut mit ihnen verstanden. Und Meyer sah nicht bloß stattlich und ehrwürdig aus – der Bart floß ihm silbern über die Brust nieder –, sondern war auch ein berühmter Vertreter seiner Zunft.

Dieses Rufes war er sich auch stolz bewußt. »Ich bin ja zum ersten Mal in diesem Land«, sagte er, »aber ich hab' keinen getroffen, der nicht schon meinen Namen gehört hätt'. Kein Wunder! So viel wie unser König, mein armer Freund, Mendele Kowner, mit dem Friede sei, kann ich ja nicht, aber etwas doch! Und so einer wie Mendele kommt ja nie wieder.«

»Ihr habt ihn noch gekannt?« fragte Sender. Mendeles Name war ihm natürlich bekannt wie jedem Juden des Ostens, er hatte auf seinen Fahrten von ihm wiederholt berichten hören, und die berühmteste Geschichte des »Königs der Schnorrer«: wie er mit Napoleon, nach Moskau gezogen, hatte ihn so erlustigt, daß er sie sich genau eingeprägt und oft anderen erzählt. Aber einem, der den merkwürdigen Mann noch persönlich gekannt, war er nie begegnet. »Erzählet doch«, bat er.

Der Wirt wurde unruhig, doch mußte er Meyer gewähren lassen. Und so erzählte dieser mit Begeisterung von dem unübertrefflichen Witz, der stolzen Selbstlosigkeit, der Güte und Liebenswürdigkeit seines Vorbilds. Auch einige seiner Streiche kramte er aus, die Geschichte von der verhexten Henne, vom Bart des Wilnaer Rabbi und welche Schnippchen er den Heiratsvermittlern geschlagen. »Aber schließlich hat er ja doch geheiratet«, schloß er. »Und – jetzt erst fällt mir's ein, hier in der Gegend soll ja auch sein Sohn leben.«

»Davon hab' ich nie gehört«, versicherte Sender, und auch Simche, dem es ganz schwül ums Herz geworden, beeilte sich, dasselbe zu beteuern.

Damit schien das Gespräch denn auch glücklich von dem heiklen Thema abgelenkt. Meyer erzählte nun Schnurren aus dem eigenen Leben, und Sender war nicht zu stolz, mit ihm zu wetteifern. Namentlich die Geschichte, wie er dem geizigen Chaim Burgmann als Geist seiner Schwester erschienen, und dann, wie er der strengen Verwalterstochter die beiden Hebammen ins Haus geschafft, rissen Meyer zu neidloser Bewunderung hin.

»Ein Glück, daß Ihr ein Schreiber seid«, rief er, »denn wäret Ihr ein ›Schnorrer‹ geworden, wir könnten alle einpacken. Seit Mendele Kowner, mit dem Friede sei, hab' ich so was nicht gehört!« Plötzlich aber – Sender strich sich eben mit stillem Lächeln ums Kinn – wurden seine Augen weit und er beugte sich fast erschreckt vor.

»Was ist das?« murmelte er. »Wer seid Ihr?«

»Was habt Ihr?« fragte Sender befremdet. Daß Simche totenblaß geworden, sah er zum Glück nicht.

»Es ist nichts«, murmelte der »Schnorrer«. »Jetzt ist's fast weg. Eine Ähnlichkeit ist freilich noch da, aber früher war sie gar zum Erschrecken. Wenn ich nicht Euren Namen wüßt'... Nämlich, wie Ihr Euch da vorhin übers Kinn gestrichen habt – geschworen hätt' ich, da sitzt Mendele Kowner. Grad' so hat er's gemacht, grad' so gelächelt, nachdem er ein feines Wörtel erzählt hat...«

»Also seh' ich ihm etwas ähnlich?« fragte Sender halb befremdet, halb geschmeichelt. »Wie hat er denn eigentlich –«

Aber weiter kam er nicht. Simche erhob sich und begann das Tischgebet zu sprechen, obwohl sich der fremde Gast eben noch seinen Teller mit köstlicher »Kugel« vollgehäuft.

»Verzeiht«, flüsterte er dann Meyer zu und zog ihn in eine Ecke. »Aber da hättet Ihr fast ein Unglück angerichtet.« Er teilte ihm das Geheimnis mit und schärfte ihm strengste Verschwiegenheit ein.

»Aber das ist ja eine Sünd'«, rief der »Schnorrer«. »Dem armen Mendele raubt Ihr den ›Kadisch‹ und ihm den Ruhm, einen solchen Vater zu haben.«

»Wenn's eine Sünd' wär«', entgegnete der Fuhrmann, »so hätt's uns der Rabbi nicht so aufs Gewissen gebunden.«

»Freilich, wenn's Rabbi Manasse sagt«, lenkte der »Schnorrer« ein, »aber wie fromm muß eure Gemeinde sein!« Und dieser Ausruf war wohl begründet; unter Leuten, die minder sklavisch jedem Gebot ihres Geistlichen gehorchten, wäre die Wahrung des Geheimnisses durch all die Jahre schwerlich denkbar gewesen.

Nach dem Essen wollte Sender das Gespräch wieder auf Mendele Kowner lenken. Aber der Hausherr fuhr dazwischen. »Jetzt laß auch mich was erzählen!« rief er. »Diese Woch' war ich in Sadagóra und hab' auf dem Rückweg in Zalefzczyki übernachtet. Da ist Theater! Dieselben Spieler, die im Frühjahr in Chrostkow waren. Die Sach' vom verliebten Schneider, von der Jütte erzählt hat, hab' ich jetzt selbst gesehen – zum Totlachen! Sehr gute Spieler!«

»Was Euch nicht einfällt!« erwiderte Sender, »schlechte Komödianten!«

»Woher weißt du das? Du hast sie ja nicht gesehen?«

Sender wurde verlegen. Er wußte es ja nur aus Nadlers Brief. »Das läßt sich ja denken. Gute Künstler würden auf der Czernowitzer oder Lemberger Bühne auftreten, statt sich bei einer Schmiere in Chorostkow oder Zalefzczyki herumzutreiben.«

»Immer deutscher redet er«, lachte Frau Surke. »Man versteht ihn kaum mehr.«

Der nächste Dienstag war der letzte Tag, den er in Barnow verbringen sollte. Dennoch erledigte er in der Kollektur alles pünktlich und stellte jeden Kunden zufrieden, sogar den Richter von Miaskowka, indem er ihm hoch und teuer schwor, das nächste Mal, wenn er ihn hier treffe, wolle er ihm alle fünf Nummern verraten. Dovidl sollte ihm nichts nachsagen dürfen. »Und daß ich ihn sitzen lass'«, dachte er, »dafür hat er einen Trost, mein Monatgeld für Februar.«

Des Mittags behob er sein Geld in der Sparkasse und nahm dann Abschied von Pater Marian. Schluchzend beugte er sich auf die welke Hand seines Wohltäters nieder. Auch der Pater war sehr bewegt. »Gott mit dir«, murmelte er, legte ihm die Hand aufs Haupt und sprach den Segen seiner Kirche über ihn.

Sender litt es, aber er zuckte unwillkürlich zusammen.

»Der Segen eines alten Mannes wird dir nicht schaden«, sagte der Greis und lächelte mit feuchten Augen. »Auch wenn es die Worte sind, die ich gewohnt bin.«

Auch Fedko war in seiner Art gerührt.

»Nun ist's auch mit diesem Slibowitz zu Ende«, sagte er. »Und einer wie du kommt nicht wieder. Denn wenn ich noch hundert Jahre lebe, einen so verrückten Juden wird es in Barnow nicht mehr geben. Ach ja, die Verrückten gehen, die Vernünftigen bleiben. Leb' wohl, Senderko! »

In der Dämmerung ging er nach dem Gasthof des Freudenthal und ließ Jütte hinters Haus rufen. Erschreckt kam sie herausgestürzt.

»Was ist geschehen?« fragte sie, fuhr aber gleich fort: »Ich weiß es ja – Ihr geht morgen!«

»Woher wißt Ihr!«

»Ich hab' ja längst davor – ich hab's ja längst geahnt«, verbesserte sie sich hastig. »Und Eure Mutter?«

Er seufzte. »Ihr werdet Euch ihrer annehmen!« sagte er gepreßt. »Auch darum wollt' ich Euch bitten. Lebt wohl!«

Sie schluchzte auf. »O, es ist hart – für die alte Frau – wollt ihr nicht noch einige Tage... Ich meine, bis es schön wird, sollt Ihr hier bleiben. Es ist so furchtbar kalt, das ist nichts für Eure Lungen...«

»Es geht nicht, Jütte. Ich werde erwartet. In Czernowitz.« Es war ihm nur so entfahren. »Aber Ihr verratet mich nicht.«

»Ich! Aber muß es denn sein?« Sie rang die Hände.

»Jütte«, sagte er, »was habt Ihr damals im Schloßhof gesagt? ihr wißt, es ist mein Lebensziel, was macht Ihr mir das Herz schwer?«

»Ihr habt recht«, stieß sie hervor. Dann rührte sie an seine Hand, murmelte etwas Unverständliches und stürzte ins Haus.

»Das gute Mädchen!« dachte er.«Welches Mitleid sie mit meiner Mutter hat. Ach, auch mir fällt's hart.«

Er ging heim. Der Ostwind pfiff über die Ebene und wirbelte den Schnee auf; sein eisiger Hauch ging durch Mark und Bein. Er achtete kaum darauf, seine Gedanken weilten bei der Mutter.

Daheim nahm er alle seine Kraft zusammen, um unbefangen zu scheinen. Es gelang ihm doch nicht ganz. »Was hast du heut'?« fragte Frau Rosel. »Bist du nicht wohl?«

»Nur müd'«, erwiderte er und erhob sich. »Gut' Nacht«, sagte er mit abgewandtem Antlitz und stieg zu seiner Kammer empor.

Dort erst ließ er seine Tränen fließen. »Mutter«, schluchzte er immer wieder, »Mutter!«

So saß er im Dunkeln, bis unten das Glöckchen klang. Das riß ihn empor. Er machte Licht, holte sein Geld hervor, legte zweihundertfünfzig Gulden in einen Umschlag und schrieb den Brief dazu, in hebräischen Lettern, die sie lesen konnte: »Verzeih' mir, Mutter, verzeih', ich kann nicht anders. Alle sagen, daß ich zum Schauspieler tauge, und mein Herz sagt mir, daß ich dazu geboren bin. Darum geh' ich in die weite Welt, es zu werden. Ich bin nicht schutzlos, gute Menschen nehmen sich meiner an. Es braucht dir nicht bang um mich zu sein, auch nicht meiner Gesundheit wegen; ich fühl' mich ganz gesund.

Gott ist mein Zeuge, ich geh' nicht leicht. Und Dich, Mutter, trifft's gar ins Herz. Aber es muß sein, glaub' mir, und mein Trost ist, daß wir einst beide diese Stunde segnen werden. Auch Du, wenn Du mich glücklich siehst, denn Du hast ja immer für mich gelebt. Die Leute sagen, es ist Pflicht der Mutter, für ihr Kind zu sorgen, aber Du hast all die Jahre tausendmal mehr getan als Deine Pflicht. Und wie wenig Freuden hab' ich dir gemacht – und nun diesen Schmerz. Aber ich kann nicht anders, ich kann nicht!

Das Geld da gehört Dir, als Sparpfennig für Deine alten Tage. Ich rat' Dir, leg es in die Sparkasse, das bringt wenig Zinsen, ist aber sicher. Du darfst nicht glauben, daß ich Dir damit Deine Liebe bezahlen oder mich gar von Dir loskaufen will. Ich will Dir oft schreiben und Dich besuchen, so oft es möglich ist, und treu für Dich sorgen.

Mutter, liebe Mutter, verzeih' mir und leb' wohl.«

Die Schrift war etwas undeutlich, weil seine Hand zitterte. Auch war an einer Stelle ein Tropfen aufs Papier gefallen.

Nun packte er seine Wäsche in ein Ränzelchen, das er aus seiner Fuhrmannszeit hatte, und legte die Bücher dazu. Dann griff er zu einer Schere und trat, die Kerze in der Hand, vor sein Spiegelchen. Es war ein bleiches, aber entschlossenes Antlitz, das ihm daraus entgegenblickte. Er legte die Schere an die Schläfen und schnitt sich die Wangenlöckchen ab.

Dann griff er zum Kaftan, den er mitnehmen wollte, um auch ihn »deutsch« zu machen. Er schnitt zwei Spannen ab und nähte den Rand zu, so gut er konnte.

Während dieser Arbeit hielt er oft inne und lauschte bang. Das Glöckchen klang in dieser Nacht nicht wieder, das Wetter war gar zu schlimm geworden. Der Ostwind war zum Sturm angewachsen, umheulte das Haus und wirbelte den Schnee hoch empor. Es war eine böse Nacht.

Gegen die vierte Morgenstunde war er fertig. Nun hatte er nur noch eins zu verrichten: sein Morgengebet. Er schlang den Gebetriemen um Haupt und Arm, schlug sein altes Büchlein auf und betete inbrünstig. Seine Seele lag vor Gott im Staube und flehte um Trost für die Mutter, um Gedeihen auf seinen Wegen. »Du hilfst denen, die reinen Herzens sind und das Gute wollen –« ja, er durfte auf Gottes Hilfe vertrauen....

Als er das Büchlein zuklappen wollte, fielen ihm wieder einmal jene seltsamen Widmungen ins Auge, die er seither so oft gelesen. »Dies Büchlein soll meinem Kinde gehören, es ist das einzige, was ich ihm vermachen kann. Aber da ich nun weiß, wie gnädig der Herr ist, so weiß ich auch, daß dies Büchlein meinem Kind zum Segen sein wird.«

»Armer Mann«, dachte er, »dein Segen gehört nicht mir, aber von deinem Büchlein will ich mich doch nie trennen.« Er steckte es in die Tasche seines Mantels, hob das Ränzel auf die Schultern, griff nach Hut und Stock und kletterte die Treppe hinab.

Im Flur vor der Schlafkammer der Mutter hielt er an und lauschte. Aber er konnte die Atemzüge der alten Frau nicht vernehmen, der Wind heulte zu laut.

Geräuschlos suchte er die Tür zu öffnen. Der eisige Sturm fuhr herein, er mußte alle Kraft aufbieten, sie wieder zu schließen. Wie betäubt stand er einen Augenblick still, so schneidend umschnob ihn der Wind, und die Schneesplitter stachen ihm in die Augen.

Dann aber richtete er sich entschlossen auf und schritt in die Nacht hinaus, einem neuen Leben entgegen.


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