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Einige Wochen darauf kam Sintram in der abendlichen Dämmerungsstunde sehr verstört nach dem Schloßgarten herunter. Wie mild ihn auch Gabrielens Gegenwart in fromme Gedanken einwiegte, so fürchterlich wild ward ihm dagegen zu Muthe, wenn sie irgend auf Augenblicke aus dem geselligen Kreise verschwand. So eben jetzt, nachdem sie lange und freundlich dem Vater Biörn aus einem alten Heldenbuche vorgelesen hatte, und nun in ihre Gemächer zurück geschritten war. Ihr Lautenklang hallte wohl von da in den Garten hinab, aber es war, als triebe gerade das den verwilderten Jüngling noch ungestümer durch die Schatten der hundertjährigen Ulmen dahin. Heftig um eine Laubecke biegend, traf er unerwartet ganz dicht auf etwas, mit dem er beynahe zusammen gerannt wäre, und das ihm auf den ersten Anblick vorkam, wie ein kleiner aufrechtstehender Bär, mit einem langen seltsam gekrümmten Horne auf dem Kopfe. Er fuhr entsetzt zurück, da redete es ihn mit etwas schnarrender Menschenstimme an: »Ritterblut, junges tapferes Ritterblut, woher? Wohin? Warum so erschrocken?« – und er sahe nun erst, daß er einen kleinen, ältlichen Mann vor sich hatte, in rauhe Pelze gehüllt, so daß man wenig von den Gesichtszügen wahrnehmen konnte, eine hohe, wunderliche Feder auf der Mütze. – »Woher du? Und wohin du?« rief Sintram unwillig zurück. »Denn also geziemt es sich zu fragen. Was hast du zu schaffen in unserem Burggarten, du häßlicher, kleiner Mensch?«
»Nun, nun,« lachte jener, »ich denke, wie ich bin, bin ich gerade groß genug. Man kann doch nicht immer ein Riese seyn. Und übrigens, was findet ihr Böses darin, daß ich hier auf die Schneckenjagd gehe? Schnecken gehören ja doch nicht zu dem hohen Wilde, das eure erfahrene Ritterlichkeit sich einzig und allein zum Waidwerke vorbehalten hat? Ich hingegen weiß schöne, würzige Tränklein daraus zu bereiten, und habe schon für heute genügsamen Fang gethan: wundersame, fette Thiere, wie mit klugen Menschengesichtern, lange, unerhört gewundene Hörner auf dem Haupte. Wollt ihr einmahl schauen, Junkherr? Da!«
Und er knöpfte und häkelte an den Pelzgewanden, aber Sintram, von einem gräulichen Abscheu ergriffen, sagte: »pfui, mir widert dergleichen Gezücht! Laß ab, und gib mir dafür kund, wer und was du eigentlich bist.«
»Seyd ihr so sehr auf Nahmen versessen?« erwiderte der Kleine, Laßt es euch genügen, daß ich ein gelahrter Meister bin im allergeheimsten Wissen und an den ältesten und vielverschlungensten Historien überreich. Junkherr, wenn ihr die einmahl hören solltet! Aber ihr fürchtet euch vor mir.«
»Vor dir mich fürchten!« lachte Sintram wild.
»Ist schon Bessern, als euch begegnet,« murmelte der kleine Meister, »nur daß sie es eben so wenig Wort haben wollten.«
»Dir das Widerspiel zu zeigen,« sagte Sintram, »will ich bey dir bleiben, bis der Mond hoch am Himmel steht. Aber du mußt mir deine Geschichte erzählen.«
Der Kleine nickte vergnügt, und während sie beyde einen entlegenen Ulmengang auf und nieder gingen, hob er folgender Maßen zu sprechen an:
»Es hat vor vielen hundert Jahren einen schönen jungen Ritter gegeben, den haben sie Paris von Troja geheißen, und er war in den glühenden Südlanden wohnhaft, wo es die süßesten Lieder, die würzigsten Blumen und die reitzendsten Frauenbilder gibt. Du weißt ja wohl auch ein Liedchen davon zu singen, junger Herr? ›Ey du Land mit den schönen Blumen!‹ Nicht wahr?«
Sintram neigte sein Haupt bejahend, und ein heißer Seufzer quoll aus der Brust.
»Nun,« fuhr der kleine Meister fort, »der Paris hatte es so in der Art, wie man es dorten häufig findet, und sie gar zierliche Reime davon zu singen wissen: er lebte ganze Monden lang in Hirtentracht, und zog in den Wäldern und Feldern flötend und Lämmer weidend umher. Da sind ihm einmahl drey schöne Zauberinnen erschienen, die stritten um einen goldenen Apfel, und wollten von ihm wissen, welche die Schönste von ihnen sey; denn die sollte die Goldfrucht behalten. Und die Eine verstand sich darauf, hohe Thronen und Zepter und Kronen zu verschaffen, die Andere machte die Leute klug, die Dritte konnte Liebestränke brauen und Liebessegen sprechen, daß einem die herrlichsten Weiber hold seyn mußten. Da both jede dem schäferlichen Ritter ihre besten Gaben, damit er ihr den Apfel zuerkenne. Ihm aber gefielen zarte Weiber vor allem in der Welt am besten, und so sagte er, daß die Dritte die Schönste sey, und die nannte sich Venus. Die beyden andern schieden im Zorne von dannen, aber die Venus hieß ihn seinen Ritterharnisch wieder anlegen, und seinen wallenden Federhut aufsetzen, und so geleitete sie ihn nach einer glänzenden Burg, welche Sparta hieß, und daselbst herrschte der reiche Herzog Menelaus mit feiner jungen Herzoginn Helene. Das war die allerschönste Frau der Erden, und die Zauberinn wollte sie dem Paris zum Danke für das Goldkleinod verschaffen. Dem Paris war das ganz recht, und er wünschte nichts Besseres, nur fragte sich, wie man es anfangen sollte.«
»Der Paris mag mir ein schöner Ritter gewesen seyn;« unterbrach Sintram die Geschichte. »Dergleichen macht sich ja leicht. Den Ehemann zum Kampfe gefordert, und wer gewinnt, behält die Frau.«
»Der Herzog Menelaus war ja aber des Ritters Gastfreund;« sagte der Erzähler.
»Hört, Kleinmeister,« rief Sintram aus, »da hätte er die Zauberinn um ein anderes schönes Weib bitten sollen, und gleich den Gaul gesattelt, oder die Anker gelichtet, und fort!«
»Ja, ja, es sagt sich wohl!« entgegnete der Alte. »Aber hättet ihr es nur gesehen, wie reitzend die Herzoginn Helene war. Da tauscht es sich nicht mehr.« – Und mit glühenden Worten hob er an, die Schönheit des wundersamen Weibes zu schildern, aber Zug vor Zug glich das Bild Gabrielen, und Sintram schwankte, daß er sich gegen eine Baumwand lehnen mußte. Da blieb Kleinmeister ihm gegen über lachend stehen, und fragte:
»Wie nun, hättet ihr dem armen Ritter Paris noch immer zur Flucht gerathen?«
»Erzähle nur schnell, wie es ward;« stammelte Sintram.
»Die Zauberinn war ehrlich gegen den Ritter;« fuhr der Alte fort. »Sie sagte ihm gleich voraus, wenn er die reitzende Herzoginn nach seiner Veste Troja entführe, müsse das sein, und seiner Burg, und seines ganzen Stammes Untergang werden, aber zehn Jahre lang könne er sich in Troia vertheidigen, und Helenens süßer Liebe froh seyn.«
»Und er nahm es an, oder er war ein Tropf!« rief der Jüngling
»Freylich,« flüsterte Kleinmeister, »freylich nahm er es an. Und hätte ich es doch wohl selbst gethan! Seht nur, mein junger Held, da kam es beynahe, wie es eben heute gekommen ist. Durch die hoch verschlungenen Zweige des Baumgartens sahe aus den Wolken der eben aufgegangene Mond verschwiegen und dämmernd herein. An einen uralten Stamm gelehnt, so wie eben jetzt ihr, stand der schlanke, glühende Ritter Paris, und ihm zur Seite das Zauberweib Venus, aber verkleidet und verhext, daß sie nicht viel schöner mag ausgesehen haben, als ich. Und in den Silberlichten des Mondes, zwischen den flüsternden Zweigen hindurch kam heran geschwebt im einsamen Wandeln, die Gestalt der ersehnten wunderschönen Herrinn.« –
Er verstummte, und wie im Spiegel seiner bethörenden Worte, schwebte jetzt eben Gabriele wahr und wahrhaftig im einsamen Sinnen den Ulmengang herab.
»Mensch, furchtbarlicher Meister, wie soll ich dich nennen? Was willst du mit mir beginnen?« – so flüsterte der bebende Sintram.
»Kennst du ja deines Vaters gewaltige Steinburg auf dem Mondfelsen!« erwiederte der Alte. »Sind dir ja dorten Voigt und Knechte getreu und ergeben! Eine zehnjährige Belagerung hält sie aus, und das Pförtlein hier nach den Bergen hin steht offen, wie dem Paris das Burgpförtlein in der herzoglichen Veste Sparta.«
Wirklich sahe der Jüngling durch eine auf unbegreifliche Weise offen gelassene Mauerthür das ferne, viel verschlungene Gebirge im Mondglanze herüber leuchten.
»Und,« wiederhohlte Kleinmeister lachend Sintrams vorige Worte, – »und wenn er es nicht annahm, war er ein Tropf!«
Jetzt eben stand Gabriele dicht bey ihm. Er hätte sie mit einer leichten Bewegung seiner Arme umfassen können, und ein plötzlich hervor brechender Mondstrahl beleuchtete verklärend ihren himmlischen Reitz. Schon neigte sich der Jüngling nach vorwärts. –
»Mein Gott und Herr,
Das Weltgezerr
Wend’ ab von seinem Herzen!
Ruf’ ihn hinein
Zum Himmelsschein.
Sey’s auch durch tausend Schmerzen!«
Diese Worte sang der alte Rolf in demselben Augenblicke vom Schloßweiher, an dessen stillen Ufern er einsam bethete, voll ahndender Besorgnisse himmelan, und sie drangen an Sintram’s Ohr, und Sintram stand wie gebannt, und schlug ein Kreuz, und Kleinmeister hüpfte mit seltsam unbehülflicher Schnelligkeit auf einem Beine durch die Pforte, und schlug sie gellend hinter sich zu.
Erschrocken fuhr Gabriele vor dem wilden Klange zusammen; Sintram näherte sich ihr leise, und sagte, ihr den Arm biethend: »erlaubt, daß ich euch in den Burgsaal heimgeleite. Die Nacht ist bisweilen etwas schauerhaft und wild in unsern Nordischen Bergen.«