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Wust

Das Geburtsdorf
des Hans Hermann von Katte

Und so schreiten
Die Zeiten
In Kriegestanz
Und Ruhmesglanz,
Bis all ihr Stolz und all ihr Mut
In Demut bei den Toten ruht.

Die märkischen Sagen von »heimlich Enthaupteten«: vom General von Weiler in Falkenrehde, vom Grafen Adam von Schwarzenberg in Spandau, vom General von Einsiedel in Potsdam, sind, wie wir es in den beiden voraufgehenden Kapiteln gezeigt haben, von der Geschichte widerlegt worden. Aber Blut, wie überall, floß auch bei uns. Es wurde von Zeit zu Zeit (und nicht eben allzuselten) auch wirklich enthauptet, und das Dorf, dessen Namen dieses Kapitel trägt, erinnert, wie kein anderes, an solche Wirklichkeiten. Wust ist ein alter Sitz der Familie von Katte. Wir führen das Dorf in wechselnden Zeiten und verschiedenen Bildern am Auge unserer Leser vorüber.


Wust 1707

Ein klarer Septembertag. Von Jerichow her, auf breiter Straße, deren junge Ebereschenbäume in roter Pracht stehen, kommen zwei Reiter, beide gut beritten, beide in Küraß und Klapphut, aber doch unverkennbar Herr und Diener. Der Weg führt auf Wust zu, dessen neuaufgesetzter Kirchturm eben sichtbar wird. Tausend Schritt vor dem Dorf hält der rechte Reiter, hebt sich in den Bügeln auf und blickt freudig auf das stille märkische Dorf. Er mag es wohl, er ist hier zu Haus, und da, wo das Doppeldach zwischen den Pappeln sichtbar wird, hat er gespielt. Er ist hier zu Haus; mehr noch, er ist der Herr dieses Dorfes. Seit Knabenjahren war er wenig hier, aber sooft er kam, ging es ihm ans Herz. Nun gibt er seinem Pferde die Sporen, der Diener folgt, und in starkem Trabe geht es bis auf den Vorplatz, die Rampe hinauf. Sie sind erwartet: ein Hausverwalter, in verschossener Livrée, steht im Portal des Herrenhauses, ein Knecht nimmt das Pferd, und ein alter Hühnerhund mit langem Behang, dessen Braun überall schon ins Grau schimmert, richtet sich auf von der sonnigen Stelle, auf der er lag. Er erkennt seinen alten Spielkameraden und wedelt langsam hin und her. Aber er ist zu alt um sich noch lebhaft zu freuen. Er reckt sich, schnappt nach einer Fliege und legt sich wieder.

Der Angekommene ist Hans Heinrich von Katte, Kürassieroberst, ein Liebling des Königs. Er kommt aus den Niederlanden, wo er an den Kämpfen gegen den Marschall Villeroi teilgenommen und in der Schlacht bei Ramillies mit seinem Regimente fünfzehn feindliche Geschütze genommen hat. Er hatte seit jenem Tag auch den Neid entwaffnet. Aber dasselbe Jahr, das ihm so viel der Ehren brachte, hatte ihm sein bestes Glück geraubt. Seine Gemahlin, eine geborne von Wartensleben, war ihm in den Krieg gefolgt und in Brüssel gestorben. Von dort aus war sie nach Wust zurückgeführt worden. Ihr Gemahl kam jetzt, um an ihrem Grabe zu beten und das einzige Kind, das sie ihm zurückgelassen, auf seinen Knien zu schaukeln.

»Wo habt Ihr den Junker?«

»Er spielt im Garten; des Pastors Kinder sind mit ihm.«

»Da laßt uns sehen, ob er den Papa wiedererkennt.«

Der Kürassieroberst schritt durch die ganze Reihe der Zimmer hin, bog dann links in den Gartensalon ein und trat ins Freie. Auf einem Rasenplatze spielte ein halbes Dutzend Kinder. In der Mitte war das Gras ausgerodet und aus dem gelben Sande des Untergrundes eine Burg aufgeführt, mit Kastell und Graben. Inmitten alt der Herrlichkeit stand ein kleiner stubsnasiger Blondkopf, nicht hübsch, aber mit klugen Augen.

»Hans Hermann, Junge, kennst du mich noch?«

Der Junge sah verwundert auf. Endlich schien es in ihm zu dämmern, und er ging ruhig auf den Vater zu.

Dieser hob ihn in die Höh, küßte und streichelte ihn und sagte dann: »Hans Hermann, wir müssen gute Freunde sein, du mußt mir allerhand erzählen. Komm, ich habe dir auch eine Kanone mitgebracht.« Damit gingen sie in die Halle des Hauses zurück, wo der Diener inzwischen ein Kaminfeuer angezündet hatte. Eine Magd trug ein Frühstück auf, während der Vater seinen Blondkopf auf den Knien schaukelte und mit Heiterkeit die Fragen beantwortete, die das Kind unbefangen stellte.

Der Oberst nahm einen Imbiß, ließ den Jungen an dem Sherry nippen, den er in seiner Satteltasche mitgebracht hatte, und sagte dann: »Hans Hermann, nun wollen wir in die Kirche gehen.«

»Ich mag nicht.«

»Wir wollen uns den Stein ansehen, unter dem die liebe Mama schläft.«

»Ich mag nicht.«

Der Papa nahm aber den Jungen bei der Hand, der sich nun willig führen ließ, und so schritten sie auf die Kirche zu, an deren altem Seitenportal der Küster bereits mit seinem Schlüsselbunde stand und wartete. Er war ein Mann von fünfzig.

»Guten Tag, Jerse, wie geht's?«

»Et jeiht jo, gnädige Herr, man en beten to oll

»Man kann nicht immer jung bleiben. Wenn man nur mit Ehren alt geworden ist. Was machen die Kinder?«

»Et jeiht jo, gnädige Herr, man en beten to veel

»Ja, Jerse, das ist Eure Schuld.«

Jerse schmunzelte. Der Oberst streichelte dem Jungen das lockige Haar und fuhr dann fort:

»Ich hoffe, daß alles in Ordnung ist. Wann kam der Steinsarg?«

»Gistern wiern't fief Wochen, un de Steinhauer wier glieks mit dabi un hett allens sülvst moakt. Un denn hebben wi de gnäd'ge Fru mitsamst den höltern'n Sarg insett.«

»Das ist recht, Jerse. Und nun schließt auf. Ich will erst sehen, wie es in der Kirche aussieht.«

Sie traten in das Mittelschiff. Nicht weit von der Kanzel war ein Reliefbild in die Wand eingelassen, ein Reiter in der Tracht des Dreißigjährigen Krieges. Der Oberst blieb stehen. Es war das Bildnis seines Vaters. Daneben war ein zweiter Stein, eine seltsame Rokokoarbeit. Minerva, mit drei Marabouts auf dem Haupte, sah einen vierzehnjährigen Knaben auf sich zuschreiten, der ihr, huldigend, einen Apfel überreichte. Alles bunt bemalt. Die bunte Farbe reizte die Neugier des Kindes.

»Was ist das?«

»Das ist eine Göttin. Weißt du, was eine Göttin ist?«

»Nein. Ich will nur wissen, wer der Junge mit dem Apfel ist.«

»Das ist dein Oheim. Er war sehr fleißig und ist ganz jung gestorben.«

»Ich will nicht fleißig sein.«

»Nun hört, Jerse, wie der Junge aus aller Art ist.«

»Dat wahrd en richtigen Junker, gnäd'ge Herr. Wat brukt so 'n lütt' Junker veel to liernen! Et givt all so veel davun.«

»Nun, Jerse, wollen wir in die neue Gruft.«

Damit traten alle drei durch die kleine Seitentür wieder auf den Kirchhof hinaus und schritten auf einen Neubau zu, der augenscheinlich erst vor Jahresfrist an die Ostseite der Kirche angebaut worden war, eine sehr einfache Architektur mit zwei Gitterpforten und einer Klapptür in Front. Das Äußere war öde, das Innere noch mehr. In dem frisch geweißten Raume stand ein einziger Steinsarg, ein Marmorsarkophag, kunstvoll und reich gearbeitet, dessen prächtige Schönheit in diesem schmucklosen Raume einen seltsamen Eindruck machte.

Der Oberst nahm seinen Knaben an die Hand und trat an den Sarg heran. Er blickte lange auf denselben. Dann beugte er sich zu dem Kinde nieder und küßte es auf die Stirn.

Das Kind sah sich ängstlich um, drängte sich an den Vater und sagte: »Komm, ich mag hier nicht sein.«

Und nun gingen sie über den Kirchhof wieder auf das Herrenhaus zu. Alles war still, wie ausgestorben. Aber ein Sonnenschein lag auf dem Dach, und Küster Jerse, der zurückgeblieben war, läutete Mittag.

Es sollten noch stillere Tage kommen. Ohne Sonnenschein und ohne Läuten.


Wust 1730

Dreiundzwanzig Jahre waren ins Land gegangen. Vieles hatte sich geändert, und nur Wust und sein Herrenhaus waren unverändert geblieben. Der »Dienst« hielt nach wie vor den Gutsherrn in der Ferne fest, jetzt in der Ostprovinz des jungen Landes, in Königsberg, aber der junge Oberst von damals war inzwischen ein alternder Generallieutenant geworden. Und Geschicke bereiteten sich vor, die innerhalb dreier Monate seine Seele völlig beugen und brechen sollten.

Verweilen wir einen Augenblick bei dem Vorspiele zu dieser Tragödie. Am 5. August hatte, unter Mitwissen und Beihilfe verschiedener Personen, darunter der Lieutenant Hans Hermann von Katte, ein Fluchtversuch des Kronprinzen stattgefunden. Die Nachricht davon lief durchs Land. Zwanzig Tage später war sie in Königsberg, und noch am selben Tage schrieb der Generallieutenant an seinen Bruder, den Kammerpräsidenten von Katte in Magdeburg:

 

»Mein lieber Bruder!

Mit was Betrübnis ich diese Feder ansetze, ist Gott bekannt. Ihr werdet von Eurem Sohn aus dem Reich leider erfahren haben, wie unsere gottlosen Kinder sich in das größte Labyrinth gesetzet, und hat Euer Sohn solches dem Major von Rochau geschrieben. Dieser hat mir dessen Brief mit der Ordonnance anhero gesandt, da ich eben anitzo hier in Königsberg sein und bleiben muß. Ich hab es als meine Pflicht erachtet, meinen Sohn zu abandonnieren, meinen Eid und meine Schuldigkeit vorzuziehen und Eures Sohnes Schreiben dem Könige mit einer Estafette zu senden. Hat mein Sohn in seinem Dessein nicht reussieret, so wird ihn der König wohl arretieren lassen. Ich kann nichts weiter tun als seufzen, ihn Gott und des Königs Erbarmung überlassen. Adieu, mein lieber Bruder. Gott stärke uns in unserem Elend. Ich bin Euer treuer Bruder

H. H. Katt.«

 

Dieser Brief trägt das Datum: Königsberg, 25. August. Es ist sehr bemerkenswert, daß der Vater Hans Hermanns von Katte in diesem Schreiben sich ganz auf die Seite des Königs stellt. Die Loyalität ging noch über das Vaterherz. Es darf nicht wundernehmen, da aus spätren Briefen hervorgeht, daß dem Generallieutenant damals noch der Gedanke fernlag, der König werde aus der Affaire ein Kapitalverbrechen machen. Man kannte das cholerische Temperament Friedrich Wilhelms, seine strengen Ansichten über »Dienst«, nichtsdestoweniger rechnete man auf Gnade. Niemand erwartete ein Äußerstes. Aber gerade das Äußerste kam. Das Votum des Kriegsgerichts zu Köpenick hatte auf dauernde Gefängnisstrafe gelautet. Der König, aus souveräner Machtvollkommenheit, stieß das Urteil um und (vielleicht ein einzig dastehender Fall in der Geschichte) schärfte das Urteil und verwandelte die Kerkerstrafe in Tod, unter Anfügung jener berühmt gewordenen Worte: »es wäre besser, daß Katte stürbe, als daß die Justiz aus der Welt käme«.

Das war am 1. November. Am 2. November kannte Hans Hermann von Katte sein Schicksal, am 3. begann seine Überführung nach Küstrin, am 5. mittags traf er ein, und am 6. früh fiel sein Haupt.

Über all dies hab ich in dem Kapitel » Die Katte-Tragdödie«, Band II, Seite 299 bis 339, ausführlich berichtet.

Die letzte Szene der Tragödie, die Beisetzung, führt uns wieder nach Wust.

Ein bleierner Novemberhimmel hing über Dorf und Landschaft, auf Feldern und Wegen standen Wasserlachen, und an den Ebereschenbäumen blinkten einzelne Regentropfen. Es war um die fünfte Stunde, die Sonne, die den ganzen Tag über nicht geschienen hatte, blinzelte im Untergehen über die triste Landschaft hin.

Denselben Ebereschenweg, den damals der Oberst von Katte entlangtrabte, kam jetzt ein schmaler Leiterwagen mit zwei mageren Pferden herauf. Der Kutscher ging nebenher, müd und matt, und tapste durch die Regentümpel, die zu umgehen ihm den Weg verlängert hätte. Der Wagen selbst gab ihm keinen Platz mehr, denn auf dem schmalen Brett stand ein langer Sarg, schwarz gestrichen, schmucklos, ohne Haspen und Beschlag.

Es dunkelte schon, als das Fuhrwerk vor dem Herrenhause hielt. Auf dem Vorplatze standen mehrere Leute aus dem Dorf, in ihrer Mitte der alte Jerse, ein Siebziger jetzt, mit einer Laterne in der Hand. Zwei von den Tagelöhnern nahmen die Pferde vorn am Zügel, und Jerse schritt vorauf. So bogen sie quer über die Straße, nach der gegenübergelegenen Seite des Dorfes ein und fuhren langsam über den holprigen Kirchhof hin, bis sie vor der angebauten Gruft hielten.

Drinnen war alles unverändert geblieben; ein einziger Steinsarkophag in einem weißgetünchten Raume. »Nu droagt em in«, sagte Jerse, und die beiden Männer, die bis dahin die Pferde geführt hatten, suchten jetzt an dem Sarge umher, um einen Handgriff zu finden. Aber nichts der Art war da. So schoben sie denn das Brett, auf dem der Sarg stand, von vorn nach hinten, faßten das Brett oben und unten und trugen es, samt dem Sarge, in den Anbau hinein. Als sie in der Mitte der Gruft standen, fragte der Vorderste: »Wo sall he hen?« Jerse schien unschlüssig und trat an den steinernen Sarkophag: »'t is ehr Söhn. Awer et jeiht nich. Stellt em in de Eck.« Und sie setzten alles nieder, hoben den Sarg einen Augenblick und zogen das Brett fort. Und nun schlossen sich die Torflügel wieder, und über den Kirchhof hin, an den schattenhaft dastehenden Kreuzen vorbei, verschwand das Fuhrwerk im Dunkel. Jerse blieb noch. Er leuchtete außen an der Gruft umher und murmelte, wie greisenhafte Leute tun, Unverständliches vor sich hin, schüttelte dabei den Kopf und tappte zuletzt, wie ein Irrer, zwischen den Gräbern hin in seine Wohnung zurück.

So wurde Hans Hermann von Katte beigesetzt. Ohne Sang und Klang. Seine Familie hatte seinen Leichnam freigebeten, und die Gnade des Königs hatte es gewährt.


Wust 1748

Wieder achtzehn Jahre später. Im Herrenhause zu Wust ist es still geblieben wie vordem, die Zimmer sind leer, und nur die Gruft hat sich gefüllt. Die Mutter Hans Hermanns und er selber sind längst nicht mehr die einzigen Bewohner darin. Die ganze Familie des Feldmarschalls ist in den weißgetünchten Raum eingezogen: er selber, seine zweite Frau, seine zwei Söhne zweiter Ehe. Die Wuster Linie war mit ihnen ausgestorben, und die Linie des anderen Bruders, des Kammerpräsidenten, war jetzt Besitzer von Wust geworden.

Aber auch dieser ältere Bruder hielt sich fern. Es schien, als ob Wust nur noch dazu dienen sollte, Begräbnisplatz der Familie zu sein.


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