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Wo nun Gras und Staude beben,
Hat in froher Kraft geblüht, Ist zu Asche bald verglüht Manches reiche Menschenleben.
Die der Tod hinweggenommen,
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Lenau |
So ging das Geplauder. Die wachsende Schwüle des Julinachmittags, wir empfanden sie nicht; ein leiser Luftstrom zog von der Havel her herauf und trug uns die Kühle des Wiesengrundes und den Duft der Resedabeete zu. Es war eine halbe Stunde, wie sie nur an dieser Stelle erlebt werden kann, hier, wo sich Stille und Erinnerung die Hand reichen.
Wir hingen noch den letzten Worten nach, der Schloßdiener öffnete die Läden und lüftete die Zimmer, in die wir einzutreten hatten, als die Szene sich plötzlich änderte. Ein Windstoß, jäh und heftig, fuhr durch den Park, die uns zunächst stehenden hohen Pappeln beugten sich, Blätter, wie Flocken, fielen auf uns nieder, die Chaussee herauf kam eine Wolke von Kies und Staub, und über den ganzen Himmel hin rollte die erste Ankündigung des Gewitters. Es war, als ob wir erleben sollten, daß auch diese Stille täusche. Überall rollen die Donner Gottes und künden, daß kein ewiger Friede sei.
Einen Augenblick schwankten wir, ob wir von der Poesie des Gegensatzes Nutzen ziehen und die sich öffnenden Schloßräume, die verblaßten Zeichen stillen Familienglücks, bei Gewitterschein in Augenschein nehmen sollten, aber das mahnende Wort: »Das kommt schwer herauf«, gab uns doch zu denken, und nachdem erst einmal gezweifelt und der »angebornen Farbe der Entschließung« die bekannte Gedankenblässe angekränkelt war, gaben wir's auf und nahmen die Einladung an, die uns in die Wohnung des Hofgärtners führte. Es war die höchste Zeit; noch trafen uns die ersten großen Tropfen; kaum unter Dach, und das Schauspiel begann: Regen und Feuer fielen vom Himmel nieder. Als es vorüber war, war es zu spät, den Rückweg anzutreten; die Wege waren grundlos, die tiefen Stellen unter Wasser; wir blieben zu Nacht. Wer eingeregnet und eingewittert, mög es immer so gastlich treffen wie wir im Gärtnerhause zu Paretz.
Ein Morgen kam, wie er nur nach solchem Abend kommt. Die Sonne funkelte wie gebadet, und als die Läden des Schlosses sich wieder öffneten, schoß das Licht hinein und lief wie ein Blitz durch alle Räume. Das Dunstige und Trübselige, das sonst in solchen Räumen zu Hause ist, es war wie ausgefegt; Licht macht wohnlich, alles schien bereit; es war, als solle das schöne königliche Paar, das hier vor siebenzig Jahren lebte und lachte, jeden Augenblick wieder seinen Einzug halten.
Und wenn es so wäre, sie würden die Stätte ihres Glücks wenig verändert finden. Da sind noch dieselben Tapeten und Wandgemälde, dieselben kissenreichen, mit Zitz überzogenen Sofas und Ottomanen, dieselben gemalten Papageien und Fasanen, dieselben Büsten und Bilder. Bilder wohl 1 000 an der Zahl, englische Stiche in Nußbaum- und Ehenholzumrahmung, wie sie jeder von uns aus dem Hause der Großeltern oder aus den Gast- und Logierstuben der Landedelleute kennt. Wie diese Gaststuben gemeinhin neben der Rumpelkammer liegen, so sind sie auch, in allem, was Kunst angeht, die Vorbereitung, die Etappe zu ihr. Ein junges Mädchen, mit Kaninchen spielend, ein junges Mädchen mit einem Taubenkorb, die Grotte der Egeria, die Kaskaden von Tivoli, so folgen die Blätter aufeinander, abwechselnd in Schwarz- und in Buntfarbendruck und alle einer Lordship oder Royal Highness respectfully devoted.
1 000 Blätter, aber keines von Bedeutung, mit Ausnahme eines einzigen, das durch seinen Gegenstand und seine Schicksale ein gewisses Interesse einflößt. Es ist dies »Die Zusammenkunft des preußischen Königspaares und des Kaisers von Rußland in Memel, 1802«. Der Stich nach diesem Bilde ist allgemein bekannt; hier befindet sich das Original, eine Arbeit Dählings, in Gouache sauber ausgeführt. Schloß Paretz ist genau der Punkt, wo dieses Bild seine Stelle finden mußte, denn die Personen, die es darstellt, sind recht eigentlich Paretzer Personen, Gestalten, die dem Schloß »Still-im-Land« in der Epoche von 1795 bis 1805 angehörten. Es sind, außer dem Kaiser auf der einen und dem König und der Königin auf der andern Seite, die folgenden: Prinz Wilhelm, Prinz Heinrich, Feldmarschall von Kalckreuth, Hofmarschall von Massow, Gräfin von Voß, General von Köckritz, die Kammerherren von Schilden und von Buch, die Kammerdame von Moltke und der Major von Jagow. Dies Gouachebild Dählings, das auf der Rückseite mit drei verschiedenen Zetteln oder Briefen beklebt ist, denen wir auch diese Notizen entnehmen, war wohl, wenn nicht direkt im Auftrage des Hofes, so doch wenigstens in der Hoffnung angefertigt worden, daß der Hof es erstehen würde; die Katastrophe von Jena fuhr aber dazwischen, und so ging dies Bild, das seinem Gegenstande nach in das Boudoir einer Fürstin oder Oberhofmeisterin gehörte, in kleinbürgerliche Hände über und wechselte mehrfach seine Eigentümer. Bis 1821 besaß es Herr Asner in Berlin, dann kam es nach Schlesien, und der letzte der drei aufgeklebten Briefzettel, womit dann (1850) die Irrfahrten dieses Bildes schließen, lautet wie folgt: »Der gegenwärtige Eigentümer dieses Bildes ist der königliche Kreisgerichtssecretair und Kanzleidirektor Wilhelm Heinrich aus Glatz, zur Zeit in Breslau, bis 17. August in Berlin. Beim Doktor Stoll in der Charité zu erfragen.« Das Weitere ergibt sich leicht. Der Kanzleidirektor, in richtiger Erkenntnis dessen, was er besaß, bot ein Gemälde, das recht eigentlich ein Hohenzollernsches Haus- und Familienbild war, dem König Friedrich Wilhelm IV. zum Kauf an und hatte richtig gerechnet. Der König gab dem Bilde seinen Platz: Paretz.
Die Räume des Schlosses erlitten geringe Umwandlungen seit 1805; ein Zimmer blieb völlig intakt, das Schlafzimmer. Die Himmelbetten stehen noch wie damals; die Tische und Toiletten, das kleine Klavier, das die Königin selbst benutzte, die Kommoden in den Formen des ersten Kaiserreichs – alles behauptet noch die alte Stelle; auch die »Supraporten« blieben, die Genien und Amoretten über der Tür. Noch flattern ihre Bänder, noch streuen sie Rosen, aber die Bänder sind vergilbt, und die Rosen sind verwelkt. Selbst das Bild des Glückes konnte die Jugend nicht wahren.
Wir treten zurück in den Park. Alles Leben und Licht. Das Einzelne fällt, das Ganze bleibt.
Dem Schloß gegenüber, hinter einem uralten Maulbeerbaum halb versteckt, liegt die Kirche, ein weit zurückgehender Bau, dessen Alter bei den vielen Wandlungen, die er durchzumachen hatte, schwer zu bestimmen ist. Dabei stellen wir die letzten Renovierungen, weil diese seinen Stil wenigstens unverändert ließen, nicht einmal mit in Rechnung. Eine letzte gründliche Wandlung erfuhr die Kirche wahrscheinlich verhältnismäßig spät, in Jahren, da der Protestantismus schon die Oberhand im Lande hatte – einige Glasbilder tragen die Zahl 1539. Um ebendiese Zeit, so schließen wir, oder doch nicht viel früher, erfolgte die Gotisierung des Baues, der vorher längst vorhanden und, wie alle die zahlreichen Feldsteinkirchen in der Mark, romanisch war.
Wie jetzt das Kirchlein sich präsentiert, sticht es jedenfalls sehr vorteilhaft von dem gegenübergelegenen Schloßbau ab, mit dem es nur das Alleräußerlichste und Gleichgültigste, die gelbe Tünche, gemein hat. Wieviel Anheimelndes in dieser gotischen Formenfülle, in diesem Reichtum von Details, und wieviel Erkältendes in dieser bloß durchfensterten Fläche, die sich nirgends zu einem Ornament erhebt! Eine indifferente Alltagsschönheit, die den Dünkel hat, keinen Schmuck tragen zu wollen. Erst die Phantasie, die geschichtskundig das Schloß mit Leben und Gestalten füllt, macht es uns lieb und wert, hebt über den ersten Eindruck der Nüchternheit hinweg.
An dem Maulbeerbaum vorbei treten wir jetzt in die Kirche ein. Wir wählen das Westportal. Der Eindruck besonderer Gefälligkeit, den schon das Äußere übt, er wiederholt sich hier; die Restaurierung ist pietätvoll zuwege gegangen. Alles Anmutige und Zierliche, alles, was in Form oder Farbe auch das Laienauge angenehm berühren konnte, man ließ es der Kirche und sorgte nur, wie es sein soll, für Luft und Licht, für Raum und Bequemlichkeit. Die nördliche Hälfte des Querschiffs wurde zum »Königsstuhl«, der Raum hinter dem Altär, also der hohe Chor, zu einer Art Kunstkammer hergerichtet.
Um diese beiden Punkte dreht sich das Interesse der Kirche. Zuerst der Chor. Mannigfach sind die Geschenke, womit königliche Munifizenz ihn bedachte. Auf engem Raum drängen sich hier die Bilder, meist Jugendarbeiten des trefflichen Wach: »Johannes der Täufer«, »Christus mit Johannes und Matthäus«, »Christus auf Gethsemane«. Das größte und bedeutendste aber, das sich hier findet, ist eine »Grablegung« von Schumann; die ohnmächtig niedersinkende Maria gilt als vorzugsweise gelungen. – Reich geschmückt, wie dieser Raum hinter dem Altar, ist vor allem auch der Altar selbst; eine schwere, grüne Damastdecke mit eingestickten goldenen Kreuzen deckt den Abendmahlstisch; Kruzifix und Altarleuchter, größer und reicher, als sie sonst in Dorfkirchen heimisch sind, deuten auf den königlichen Geber; zu Füßen des Kruzifixes aber liegt die sogenannte Kurfürstenbibel, mit vielen Stichen und Bildern, prächtig gebunden. Der breite Goldschnitt zeigt oben und unten, wie auch in Front, drei zierliche Aquarellbilder: die Taufe, das Abendmahl, die Himmelfahrt – eine Art der Ornamentierung, der wir hier zum ersten Male begegneten. Es sind Arbeiten (ihrem Kunstwert nach unsern Porzellanmalereien verwandt), wie sie damals in Dresden nach berühmten Poussins und Carraccis gut und mannigfach ausgeführt wurden.
Durch eine Balustrade vom Kirchenschiff getrennt ist der »Königsstuhl«. Er hat die Dimensionen eines kleinen Zimmers; die Herrichtung ist einfach; an der Westwand erhebt sich, in das Mauerwerk eingelassen, eine durch den Stich mannigfach bekannt gewordene Arbeit Schadows: »Die Apotheose der Königin Luise«. Mehr eigentümlich als schön. In ihrer Mischung von christlicher und heidnischer Symbolik ist uns die Arbeit kaum noch verständlich, jedenfalls unserem Sinne nicht mehr adäquat. Sie gehört, ihrer Grundanschauung nach, jener wirren Kunstepoche an, wo der Große Fritz in Gefahr war, unter die Heiligen versetzt zu werden, wo er im Elysium, mit Sternenkranz und Krückstock angetan, die der Zeitlichkeit entrückten preußischen Helden wie zur Parade empfing. Eine Art Sanssouci auch dort oben.
Schadow, sonst von so gutem Geschmack, vergriff sich in diesem Falle, wie uns scheinen will, und die Inschrift eines von einem Engel gehaltenen Schildes gibt Auskunft darüber, wie er sich vergriff. Diese Inschrift lautet: »Hohenzieritz, den 19. Juli 1810, vertauschte sie die irdische Krone mit der himmlischen, umgeben von Hoffnung, Liebe, Glaube und Treue, und in tiefe Trauer versinken Brennus und Borussia.« Wir haben hier Kunstmengerei und Religionsmengerei, alles beieinander. Die Verdienste der Arbeit sind nichtsdestoweniger bedeutend, aber sie sind mehr technischer Natur und greifen zum Teil auf das Gebiet der Kunstindustrie hinüber.
Die anderweitigen Schätze, die die Paretzer Kirche, weit über diese großen Schildereien hinaus, in ihrer Mitte birgt, sind zwei Erinnerungsstücke, alt und neu, das eine aus der Zeit der kirchlichen, das andere aus der Zeit der politischen Umgestaltung, die dieses Land erfuhr – beinahe dreihundert Jahre liegen dazwischen. Aus dem Jahre 1539, wie die eingebrannte Jahreszahl zeigt, stammt das Bildnis des heiligen Mauritius, das aus dem Spitzbogen des Chorfensters in die Kirche hinein grüßt; zu Füßen des alten Schutzpatrons dieser Lande aber steht ein zierlicher, mit Tapisseriebildern versehener Kasten, in dem ein blauseidenes, silbergesticktes Tuch zusammengefaltet liegt. Es ist das Tuch, das Königin Luise bei ihrem letzten Besuch an dieser Stelle trug. Der König, nach ihrem Tode, breitete es, als das Liebste, was er hatte, über den Altartisch, bis es, halb zerfallend in seinem leichten Gewebe, durch den Damast abgelöst wurde, der, mit goldenen griechischen Kreuzen geschmückt, jetzt dieselbe Stelle ziert.
Aber in dem Kästchen liegen doch, wie verkörpert, die Erinnerungen dieser Stätte.
Die Kirche von Paretz ist ein Platz reicher Erinnerungen, aber Paretz hat der Erinnerungsplätze mehr. Speziell der Erinnerung geweiht ist der »Tempel«. Er befindet sich in einer verschwiegenen Ecke des Parks, wo dieser die Havel berührt, und bildet einen Teil des an dieser Stelle künstlich aufgeworfenen Aussichtshügels, der auf seiner Spitze ein japanisches Häuschen, an seiner westlichen Seite eine Rokokogrotte und nach Süden hin ebendiesen »Tempel« trägt.
Dieser Tempel, eine bloße Façade, die auf halbversunkenen dorischen Säulen ruht und zunächst keinem anderen Zwecke gedient haben mochte, als Schutz gegen Regen und Sonne zu gewähren, scheint von Anfang an ein bevorzugter Platz gewesen zu sein, wie es auch in dem laubenreichsten Garten immer noch eine Lieblingslaube gibt, woran sich Leid und Freud des Hauses knüpft, der erste Kuß, die stille Verlobung, Abschied und Wiedersehen.
Zu solchem Platze wuchs der Tempel heran, und der ziemlich nichtssagende Bau, der bei seiner Anlage nichts gewesen war als eine Gärtnerlaune, ein Schnörkelornament, wurde zu einer Familienstätte, zu einem der Erinnerung geweihten Platz.
Dies geschah zuerst im Sommer 1797. Im Winter vorher, am 28. Dezember, war Prinz Ludwig gestorben, der Bruder, zugleich der Schwager Friedrich Wilhelms III., und an der bevorzugten Plauderstelle wurde in den Stein geschrieben: »Er ist nicht mehr.«
Die Jahre gingen; so kam der Juli 1810. In die Parkgruft zu Charlottenburg senkte sich der Sarg der Königin; in die Tempelwand zu Paretz wurde eine graue Marmortafel eingelassen, die nunmehr die Inschrift empfing: »Gedenke der Abgeschiedenen.« Mehr und mehr erhob sich der Tempel zu einer Stätte des Familienkultus; in seiner Front, an ebender Stelle, wo die heimgegangene Königin so oft geruht hatte, wurde ein Friedensengel mit Kranz und Palmenzweig errichtet; der Tempel von Paretz war zu einem Vereinigungspunkt, fast zu einem Symbol geworden, das jedem Familienmitgliede das Beste bedeutete, was der Mensch hat: Liebe, Treue, Pietät. In diesem Sinne schrieb König Friedrich Wilhelm III. in seinem Testament: »Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott... Wenn dieser mein Letzter Wille meinen innigst geliebten Kindern zu Gesicht kommen wird, bin ich nicht mehr unter ihnen und gehöre zu den Abgeschiedenen. Mögen sie dann bei dem Anblick der ihnen wohlbekannten Inschrift: ›Gedenke der Abgeschiedenen!‹ auch meiner liebevoll gedenken.«
Und sie gedenken seiner. Der 7. Juni, der Sterbetag des Königs, ist zu einem Gedächtnistag geworden, und kein Sohn oder Enkel betritt Paretz, ohne an die graue Marmortafel zu treten und freiwillig zu tun, woran ihn die Inschrift mahnt.
»Gedenke der Abgeschiedenen!« so klingt es überall in Paretz, auch über den Kreis des Schlosses hinaus. Erinnerung und Pietät, die hier ihre Stätte haben, sie haben sie auch in den Herzen der Paretzer; still und unbemerkt üben sie ihren Totendienst: »Gedenke der Abgeschiedenen«, durchklingt es auch sie.
Um die Kirche herum liegt ein Kirchhof, ein sogenannter »toter Kirchhof«; der »lebende«, die Stätte, wo begraben wird, liegt draußen, am Rande des Dorfes.
Die alte Stätte ist nur ein Grasplatz noch, niedergetreten, ohne Kreuz und Stein, aber wer scharf zusieht, der nimmt bald wahr, daß hinter dieser Verwahrlosung noch immer eine Liebe lebt. Hier und dort wächst eine Schwertlilie, ein Hagebuttenstrauch unvermittelt aus dem niedergetretenen Grase auf, und alle diese Stellen kennen die Dörfler wohl, es sind die Gräber ihrer Teuren, die sie verstohlen hegen und pflegen, in heimlicher Liebe. Denn der Kirchhof soll tot sein, der offizielle Platz für Blumen und Tränen liegt draußen.
Aber welchem Herzen ließe sich gebieten!
Paretz ist eine Stätte der Erinnerung und Pietät – auch der »tote Kirchhof«.