Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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12. Fünf vom 14. Jägerbataillon.

Jäger Schönfeldt erzählt:

»Wir lagen zwei Meilen rechts von Corbeil, die ganze 17. Brigade, das Grenadierregiment aus Schwerin, die Rostocker Füsiliere und unser Jägerbataillon. Alles war guter Dinge; unsere Offiziere wetteten: »In vier Wochen ist es vorbei«; nur in einem sah es schlecht aus: wir hatten nichts zu essen. Das ist immer schlimm, aber für einen Mecklenburger doppelt.

Am 16. Oktober erhielt unser Bataillonskommando, Major v. Gaza, einen Brief von guter Hand, in dem zu lesen stand, daß in dem Städtchen Nogent ein deutscher Kaufmann wohne, der noch Vorräte habe und gewillt sei, sie gegen gute Prozente zu verkaufen. Gut so. Das war just, was wir brauchten. Ein Detachement sollte am andern Morgen aufbrechen, um bei besagtem Kaufmann für hundert Taler Brot, Kognak und Tabak zu erhandeln. Mit dem Brot stand es schon seit vierzehn Tagen schlecht. Ein Wagen, ein guter Zweispänner, sollte für die Fahrt beschafft werden. Ich erfuhr erst spät abends, daß ich mit von der Partie sein werde.

Zwei Tage hin, zwei Tage zurück; ich freute mich nicht wenig.

Am 17. früh brachen wir auf; in Mormant sollten wir übernachten und am Nachmittage des zweiten Tages in Nogent eintreffen. Dies war alles. Karten hatten wir nicht. Wir wußten nur dreierlei: Bestimmungsort Nogent, Richtung nach Osten, Entfernung zehn Meilen. So ausgestattet, hofften wir in der Tat, uns durchtappen zu können. Wir waren guter Dinge und ohne Ahnung davon, daß es in Frankreich anderthalb Dutzend Nogents gibt. Das sollte verhängnisvoll für uns werden.

Das Detachement, wenn ich von mir absehe, war gut gewählt. Unteroffizier Ellis, Gefreiter Fritsche, Jäger Lübbe, Jäger Jahn; dazu ich. Ellis, Gutsbesitzer, hatte das Jahr vorher als Freiwilliger beim Bataillon gestanden, Fritsche, Schiffskapitän oder Steuermann, ich weiß nicht genau, war eben aus England zurückgekommen; Lübbe, Apotheker, Jahn, Mediziner. Sie waren all aus gutem Hause und konnten parlieren. Jahn am besten. Fritsche war aus Rostock, Sohn des Professors; Jahn aus Schwerin, Sohn des Hofpredigers. Ich für mein Teil wußte nichts. Es muß auch solche geben.

Der erste Tag verging ohne Störung. Wir fuhren bei guter Zeit in Mormant ein; vier Meilen waren gemacht. Wir befanden uns hier noch im Bereich unserer Armeen; alles war dienstfertig und bereit. So verging die Nacht.

6 Uhr früh saßen wir wieder auf unserem Wagen, die Büchse im Arm, und trabten auf Nogent zu. Wir hatten am Abend vorher Information eingezogen und in Erfahrung gebracht, daß wir über Provins fahren müßten. »Immer ostwärts die Chaussee hinunter; noch drei Meilen bis Provins, noch sechs Meilen bis Nogent.« Das schien zu stimmen; Entfernung und Himmelsgegend waren richtig. Es war aber dennoch falsch. Wir fuhren auf Nogent sur Seine, statt auf Nogent sur Marne; das Marne-Nogent (Eisenbahnstation zwischen Chateau-Thierry und La Ferté) lag unterm Schutz der preußischen Bajonette, das Seine-Nogent unterm Schutz der Franktireurs. Unser Schicksal wollte es, daß wir auf das Franktireur-Nogent zufuhren. Ob uns der Wirt von Mormant (Mormant war Gabelpunkt für beide Wege) absichtlich in die falsche Direktion schickte? Ich glaub' es kaum.

Es war ein kostbarer Tag, dieser 18. Oktober, und heiter wie der Tag ging's in die Landschaft hinein: Fritsche richtete sich hoch auf, schwenkte seine Büchse und rief, als wir das nächste Dorf passierten: »Hoch Deutschland; heut ist der 18. Oktober!« Wir stimmten jubelnd ein; die Chaussee hinauf, hinunter ging es durch die schönen, lachenden Dörfer. So kamen wir nach Provins. Es war gerade Mittag.

Provins ist eine reizend gelegene Stadt am Fuß und Abhang eines Berges. Beinahe einsam, vom Berge herab, grüßt eine alte Kirche; durch die Stadt hin aber schlängelt sich ein Fluß mit Lohmühlen und Gerbereien und dazwischen – Rosengärten. Einzelne Stämme standen noch in Blüte.

Wir fuhren auf den Markt, hielten vor einem Gasthaus, um zu futtern, und begannen eben Fragen zu stellen, wie man wohl tut, wenn man sicher und guter Dinge ist, als wir plötzlich den Markt mit Hunderten von Menschen sich füllen sahen, viele bloß neugierig, aber die meisten ersichtlich feindselig. Die Antworten auf unsere Fragen wurden immer kürzer; ein Murmeln begann, ein Andrängen auf unsern Wagen zu, so daß Ellis, der Order hatte, alle Häkeleien zu vermeiden, uns schnell entschlossen zurief: »Aufsitzen!« Und im nächsten Moment schon rasselte der Wagen wieder über das Pflaster hin, mitten durch die auseinanderstiebende Menschenmenge hindurch, zur andern Seite der Stadt hinaus. Ein Gespräch mit dem Wirt hatte uns schon vorher genau die Richtung angegeben. Die Richtung auf das falsche Nogent. Es war noch drittehalb Meilen.

Das Geschrei der Menge folgte uns, starb aber bald, und der ganze Vorgang, dem wir bis dahin nur wenig Bedeutung beigelegt hatten, da wir uns auf völlig gesichertem Boden glaubten, war schon halb wieder vergessen, als wir, dreiviertel Meilen hinter Provins, in den Forêt de Sordun eintraten, der, mehrere Stunden groß, das halbe Terrain zwischen Provins und Nogent mit seinen Wald- und Bergkulissen ausfüllt. Wir mußten jetzt durch Schluchtenwege hindurch, die zu beiden Seiten sich bald zu beleben anfingen; hinter jedem Baum trat ein Blaukittel hervor, einige bewaffnet, andere nicht; auch Frauen und Kinder. Diese begannen ein Gejohle und Geschrei; alles aber folgte und hing sich wie eine Herde Wölfe, die auf den richtigen Moment wartet, an unser Gefährt.

»Nicht umsehen,« kommandierte Ellis und nahm selber die Leinen in die Hand. Er war ein guter Fahrer, und die beiden dampfenden Pferde, die in Provins ohnehin um ihre volle Ration gekommen waren, griffen jetzt aus mit ihrer letzten Kraft. Das half zunächst; der Wald lag alsbald hinter uns; nur die besten Läufer hatten Schritt mit uns gehalten; Nogent konnte keine Stunde mehr ab sein; wenn die Pferde aushielten . . .?! In diesem Augenblick fuhren wir in ein Dorf hinein; in Mitte desselben standen die beiden Braunen still, sie konnten nicht weiter. Ellis warf die Zügel aus der Hand und sprang vom Wagen; wir andern folgten.

Nur Fritsche blieb oben stehen; er hatte die angeborene Heldennatur und schrie in das Geschrei des andrängenden Menschenhaufens hinein: »Qu'est-ce que c'est-que ça? que voulez-vous?« Sie blieben ihm die Antwort nicht schuldig: »Vos fusils! vous êtes prisonniers!« und im selben Augenblick stürmten sie auf ihn ein; ein Franktireur, ein schöner junger Kerl mit Klapphut und roter Schärpe, an ihrer Spitze. Ich seh ihn noch. Fritsche schlug an, und der Franktireur stürzte zu Boden. Ich habe nie so viel Blut an einem Menschen gesehen. Aber dies Blut kam über uns. Eh uns noch klar war, was geschehen, waren wir entwaffnet. Fritsche, der sich auch jetzt noch zur Wehr setzte, wurde vom Wagen gezerrt und an die Wand des nächsten Hauses gestellt: »Meurs, chien prussien!« Er wußte jetzt, daß er vor dem Tode stand, richtete sich in die Höh, riß Rock und Weste auf und schrie: »Tirez!« Im selben Moment lag er tot am Boden. Ellis, in Verzweiflung, machte sich gewaltsam los, um die Hand des Toten noch einmal zu fassen; aber eh er zehn Schritt gemacht hatte, trafen ihn drei Kugeln in Kinnbacke, Brust und Schenkel; er kroch jetzt heran und umarmte zärtlich die am Boden liegende Leiche des Freundes. Selbst die Feinde hielten einen Augenblick inne und sahen dem grausig-rührenden Schauspiel zu. Aber im nächsten Augenblick war Lübbe auf den Tod getroffen, und Jahn und ich wurden an die Bäume der Chaussee gestellt, um hier das Schicksal Fritsches zu teilen. Ich war fertig und hatte nur noch ein Flimmern vor den Augen; aber Jahn (Gott segne jede französische Privatstunde, die er gehabt) sprang jetzt vor und haranguierte die tobende Volksmasse. Ich weiß nicht mehr, was er sagte; er wird es selber kaum wissen; aber als er schwieg, setzten sie die Gewehre ab und erklärten uns als Gefangene. Wir mußten uns jetzt auf die Bank des Wagens setzen, zwei Franktireurs dicht neben uns; dann wurden die beiden Verwundeten aufgeladen, zwischen ihnen die Leiche Fritsches. So ging es auf Nogent zu.

Ellis litt unsäglich. Er beschwor die Franzosen, seiner Qual ein Ende zu machen. Umsonst. Im Trabe ging es weiter. Als wir Schritt fuhren, eine Berglehne aufwärts, kam ein Bauer uns nachgelaufen, der den anstoßenden Acker pflügte. Er verwünschte uns alle; dann nahm er seinen Peitschenstock und schlug den sterbenden Ellis ins Gesicht. Das war den Franktireurs denn doch zu viel; sie sprangen vom Wagen und stießen das blaukittlige Scheusal in den Chausseegraben hinein.

Um 3 Uhr waren wir in Nogent. Welch Einzug! So hatten wir den »Tag von Leipzig« gefeiert.

Am 2. November kamen wir hier auf der Insel an. Es war Totenfest. Das paßte schon besser.«

 


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