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Die letzten dreimal vierundzwanzig Stunden meiner Gefangenschaft in Besançon hatten, wie zu Eingang des vorigen Kapitels bereits bemerkt, ein heitereres Kleid getragen als die voraufgehenden Wochen; freundlichere Tage bereiteten sich für mich vor, wenngleich ich, in demselben Moment, in dem sie begonnen, die bis dahin immer noch gehegte Hoffnung auf das Bourgautsche »renvoyé dans votre pays« zu Grabe tragen mußte. Meine Freisprechung erfolgte, aber nicht meine Freilassung. Ich habe bei diesen Vorgängen noch einen Augenblick zu verweilen.
Am fünfzehnten Tage meiner Gefangenschaft erschien der Zitadellkommandant, mein besonderer Freund und Fürsprecher, in der großen Kasemattenhalle, um mir mitzuteilen, daß sich das Kriegsgericht inzwischen von der Wahrheit meiner Aussagen, will also sagen von meiner vollständigen Unschuld, überzeugt habe. Der General indessen sei nichtsdestoweniger der Ansicht, daß ich als Kriegsgefangener im Lande verbleiben müsse. Wie aus meinem Notizbuche, meinen Papieren und meinen eigenen Angaben hervorgehe, sei ich nicht nur mit vielen preußischen Offizieren bekannt, sondern habe auch »militärische Augen«, denen die Zustände und Vorgänge im Lande, die Befestigungen und Truppenbewegungen nicht entgangen sein würden. Daraufhin sei es unmöglich, mich in meine Heimat zu entlassen; ich würde vielmehr mit einer Anzahl badischer Gefangener nach der Insel Oléron im Atlantischen Ozean transportiert werden.
So freundlich diese Worte gesprochen wurden, so trafen sie mich doch zunächst sehr hart. Ich hatte mich eben immer noch mit Illusionen getragen. Der Kommandant nahm dies wahr, und gütigen Sinnes fuhr er fort: »Ich bin im übrigen erfreut, die böse Nachricht, die ich Ihnen bringen mußte, durch eine gute einigermaßen balancieren zu können. Seine Eminenz der Kardinal hat sich für Sie verwandt. Sie werden infolge dieser Verwendung als officier supérieur angesehen und bei Ihrem Eintreffen auf île Oléron einer relativen Freiheit teilhaftig werden; Sie werden sich auf der Insel ungehindert bewegen können. Die Bevölkerung des Westdepartements, besonders der Insel, ist liebenswürdig, gastfrei, human. Ich werde Ihnen zudem eine Empfehlung an einen Freund und Verwandten mitgeben. Ihre Abreise wird sich noch einige Tage hinausschieben; bis dahin aber werden Sie bereits all der Vorrechte teilhaftig sein, die Ihnen von diesem Augenblick an zuständig sind. Mr. le Principal (dies war die euphemistische Bezeichnung für den Greffier) wird das Weitere veranlassen.« Ich dankte; ein Soldat nahm mein Bündel, und unter Händeschütteln von meinen Mitgefangenen Abschied nehmend, übersiedelte ich nunmehr unverzüglich in das auf einem anderen Zitadellhofe gelegene aristokratische Viertel.
Ich blieb hier noch drei und einen halben Tag. Das Leben gewann wieder Reiz; ich konnte schreiben, Zeitungen lesen, mich sammeln, ungestört meinen Gedanken nachhängen. Es waren glückliche Tage. Meine besondere Freude war der Kommandant, dem ich, wie schon erwähnt, von Anfang an so viele Freundlichkeit zu verdanken gehabt hatte. »He took a fancy for me.« Freilich hatte ich für diese Freundlichkeit auch meinerseits schwer zu zahlen, denn eine Nachmittagskonversation, die nie unter zwei Stunden, einmal aber volle vier Stunden dauerte, war eine Anstrengung für mich, an die ich mit einem leisen Schauder zurückdenke. Es trat dabei schließlich Mal für Mal ein Zustand völliger Erschöpfung ein, in dem ich schon längst nicht mehr einen Gedanken, aber zuletzt auch kein einziges Wort mehr finden konnte. Wie immer dem sei, es war wohlgemeint, und ich befand mich genau in einer Lage, in der mir das Wohlwollen eines Menschen, noch dazu eines Vorgesetzten, alles bedeuten mußte.
Am 29. Oktober, drei und eine halbe Woche nach meiner Gefangennehmung in Domremy, wurde ich in meine eigentliche Kriegsgefangenschaft »far in the West« abgeführt. Die Reise quer durchs Land, so lehrreich, so anregend, so bedeutungsvoll sie war, war doch ein neues Schrecknis. Wer als Kriegsgefangener durch Frankreich geschleppt worden ist, weiß, was das sagen will. Die Begegnungen und Erlebnisse auf dieser zehntägigen Reise gebe ich nun in diesem zweiten Abschnitt.
6 Uhr früh (am 29.) traten wir auf dem Hofe an, außer mir noch fünf kriegsgefangene Badenser. Im Geschwindschritt ging es den Berg hinunter, an Jesuitenkirche und Kommandantur vorbei, auf den Bahnhof hinaus. Die Bevölkerung ließ uns ruhig ziehen. Der Nebel fiel fast wie ein Regen.
Von Besançon bis Lyon werden noch nah an dreißig Meilen sein. Die Landschaft bot anfangs nichts Besonderes; nur wo wir Flüsse zu passieren hatten, zeigten sich Bilder von eigentümlichem Reiz. An den Ufern hin, oft auf Landzungen, die sich bis in die Mitte des Stromes erstreckten, erhoben sich schloßartige Gehöfte mit Rundturm und Spitzdach; hohe italienische Pappeln, die alle noch ihr herbstlich gelbes Laub trugen, bildeten die Avenuen oder standen in Gruppen um das Gehöft umher; es berührte mich, als wäre ich all diesem auf Galerien in breitem goldenen Rahmen schon mal begegnet.
So ging es fünfzehn oder zwanzig Meilen weit. Da änderte sich das Bild. Wir hatten die Jurakette blau und duftig zur Linken; nach rechts hin dehnte sich ein Flachland, eine fruchtbare Niederung, von Waldstreifen und kleinen Höhenzügen kulissenartig durchzogen. Am fernen Horizont nach eben dieser Seite hin hing der gelbglühende Ball der Sonne und lieh allem ein entzückendes Licht; es war, als sähe man eine der weitgedehnten Veduten Claude Lorrains. Dann kam eine große Stadt, Bourg (Hauptort im Departement Ain), dessen berühmte Kirche Brou, mit den reichen Mausoleen des Hauses Savoyen, umblitzt vom Wiederschein der sich neigenden Sonne, an dem nach Osten hin wolkengrauen Himmel stand.
Von Bourg traten wir ersichtlich in eine mehr südliche Landschaft ein. Namentlich die Architektur, das Aussehen der Dörfer, gewann einen abweichenden Charakter; alle Gotik hörte auf, und das Flachdach, die italienische Vigne, wurde allgemein.
Zwischen vier und fünf gelangten wir in den Bereich der Rhone. Alles Land war überschwemmt, Häuser und Bäume wuchsen wie aus einem großen See heraus, bis wir in der Dämmerstunde die aufgeworfenen Erdbefestigungen und bald darauf auch den ersten, weit vorgeschobenen Bahnhof Lyons erreichten. Als wir in der zweiten Bahnhofshalle hielten, war es dunkel; dazu regnete es. Dies galt immer als ein Glück. Es war gleichbedeutend mit Wegfall jeder Volkseskorte.
Vom Bahnhofe aus ging es zunächst eine Steintreppe hinauf; damit hatten wir das Niveau der Stadt gewonnen, die in gedämpftem, flackerndem Lichterglanze vor uns lag. Wir passierten eine Rhonebrücke (so schien es mir wenigstens); tausend Gasflammen warfen hüben und drüben ihren Schein in den breiten Strom, einige erleuchtete Pfeiler, wie Wahrzeichen für die Schiffahrt, schienen daraus hervorzuragen. Dann kam ein großer Platz; nach links hin schimmerte ein Standbild halb nebelhaft, und in einiger Entfernung an ihm vorbei marschierten wir in eine der langen Straßen hinein, die von verschiedenen Seiten her auf den Platz mündeten. Nach zehn Minuten hielten wir vor dem Gefängnis, pochten und traten in den Hof.
Es goß jetzt in Strömen. Die Gendarmen und einige unliebsame Gestalten, die trotz ihrer Uniformen stark an 1793 erinnerten, sprachen lebhaft hin und her; endlich wurde ich aufgefordert, einzutreten. Die armen Badenser wollten folgen, aber man stieß sie unter Geschrei in den Hof zurück. Ich erachtete jetzt den Augenblick für gekommen, ein Schreiben vorzuzeigen, das mir kurz vor meinem Aufbruch von Besançon unterschrieben und untersiegelt eingehändigt worden war und sozusagen meine französische Ernennung zum »officier supérieur«, zugleich die Aufforderung an alle Militär- und Zivilbehörden enthielt, »mir die meinem Range schuldigen Ehren« (»dû à mon rang«) zu erweisen. Das Papier wurde gelesen; der diensttuende Sergeant indes, ein frecher, verlebter, verliederter Kerl, hatte wenig Lust, Notiz davon zu nehmen, und erklärte, es sei unmöglich. Inzwischen waren andere Beamte erschienen, unter ihnen der eigentliche »gardien-chef«, ein geborener Pariser, an dem nichts auszusetzen war, als daß er für seine Stellung zu sanft und zu gebildet sprach. Auch das kann zu einem Fehler werden. Man denke sich einen Scharfrichter, der seinem Opfer zuflüstert: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht.« Wie immer dem sei, die wohlakzentuierte Rede meines neuen »Prinzipals« hatte wenigstens das Gute, daß Platz für mich geschafft und eine Art »Fremdenstube« zu meiner Aufnahme hergerichtet wurde. In diese trat ich jetzt ein. Im ersten Augenblick erschrak ich, denn sie war nichts als eine vergrößerte Alte-Wäschkiste, auf die ganz und gar die Beschreibung paßte, die Falstaff in den Merry wives of Windsor von einem solchen Wirtschaftsstücke entwirft. Eine unglaubliche Lokalität! Bettlaken, Strümpfe, Chemisen aller Arten und Grade lagen in den Ecken aufgeschichtet, dazwischen halberbrochene Bücherkisten, Koffer von Seehundsfell, die längst die letzte Borste eingebüßt; an den Riegeln aber hingen rote Militärhosen (letzte Garnitur), verstaubte Uniformstücke, ein verrosteter Degen und Spinnweben in langen Fahnen. Besonders bedrohlich erschien mir ein großer aufgeplatzter Sack mit Kalbshaar, der mitten im Zimmer lag und eine Art Gebirgsstock für alles übrige bildete. Einen ähnlich ängstlichen Eindruck machte das Bett; aber der gardien-chef, der selbst empfinden mochte, wie wenig das alles zu den Ansprüchen eines officier supérieur stimmte, half aus eigenen Mitteln nach und erschien mit einem braunkarierten Plumeau, mir dadurch für meinen Lyoneser Aufenthalt einen Komfort und einen Luxus schaffend, den ich während all der Wochen meiner Gefangenschaft, weder vorher noch nachher, gehabt habe. Enfin – ich kauerte mich in meinem Bett zurecht, zog meinen Körper gerade ausreichend zusammen, um unter dem knapp bemessenen Federkissen Platz zu finden, und schlief ein, während die Spinnweben leise über mir wehten.