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Von Neufchateau bis Langres werden zwölf Meilen sein. Wir machten die Fahrt in vier Stunden, im allgemeinen durch Neugier oder Schlimmeres wenig belästigt. Die einzige Klasse von Personen, die sich hier, wie auch späterhin, durch eine gewisse feindselige Zudringlichkeit auszeichnete, waren Beamte niederen Grades, die in noch junger Beziehung zum »roten Bändchen« standen, kleine Karrieremacher, die auf diese Weise ihrer nationalen, aber mehr noch ihrer persönlichen Eitelkeit fröhnen wollten. Sie traten an das Coupéfenster, unterwarfen mich einem Kreuzverhör, musterten mich und verschwanden wieder. Sie waren nicht gerade unhöflich, nur das Verfahren überhaupt bildete eine Unart.
Es war gegen 2 Uhr, als wir Langres erreichten. In halbstündiger Entfernung vom Bahnhof, auf einem Bergrücken, lagen Stadt und Festung; dort mußten wir hinauf. Trotz Oktober war eine glühende Hitze; die Sonne stach. Halben Weges bat ich, einen Augenblick rasten zu dürfen; man war sogleich bereit und stellte mir anheim, diese Bergersteigung in so viel Etappen zu machen, wie mir bequem sei. Endlich waren wir oben; das Festungstor nahm uns auf.
Gefängnisse und Verhörslokale, zu meinem nicht geringen Leidwesen, lagen hier wie an allen anderen Orten, die ich zu passieren hatte, immer am entgegengesetzten Ende der Stadt, so daß ich das Spießrutenlaufen durch eine feindlich gesinnte Bevölkerung gründlich kennen lernte. Ich erweiterte auf die Weise zwar meine Städtekenntnis, aber ich hätte auf diesen Wissenszuwachs gern Verzicht geleistet. Die Straßenjugend, auch hier in Langres, war ziemlich arg hinter mir her, namentlich in den engeren Gassen, und wenn mir von den Zurufen auch vieles entging, so hatte ich doch gerade Ohr genug, um das immer wiederkehrende »pendre« und »fusiller« sehr deutlich herauszuhören.
Endlich standen wir vor dem Verhörslokal; die Militärgerichtsbarkeit der Brigade hatte hier ihren Sitz. Man führte mich in ein niedriges Bureauzimmer, an dessen großem Doppelschreibtisch zwei Kapitäne beschäftigt waren. Der Gendarmeriewachtmeister entlud seine Ledertasche und legte allerhand Papiere, darunter auch die Legitimationskarten, Briefe und Notizbücher, die man mir in Domremy abgenommen hatte, auf den Tisch. Der scharfe Gang bergan (der eingebüßten Nachtruhe ganz zu geschweigen) hatte mich so angestrengt, daß ich einer Ohnmacht nahe war. Da ich aber zugleich empfand, daß es auf die Antworten, die ich hier zu geben haben würde, sehr erheblich ankommen müsse, so bat ich zuvor um ein Glas Wasser. Man brachte mir Wein. Ich stürzte es herunter und war nun wie neu belebt. Die Fragen, die an mich gerichtet wurden, waren dieselben wie in Neufchateau, aber ruhiger, weniger feindselig. Man wollte auch hier einen Offizier aus mir herauspressen, um so mehr, als das vom Gendarmeriekapitän ausgestellte Begleitpapier mich ohne weiteres als einen solchen angemeldet hatte; meine Erscheinung und Sprachweise aber, vor allem die Notizen meines Taschenbuches, die ein Interpret rasch durchfliegen mußte, schienen im ganzen die Situation zu meinen Gunsten zu ändern. Es kam nur darauf an, ob dieser Eindruck dauern oder durch irgend etwas anderes paralysiert werden würde.
Das ganze Verhör hatte kaum zehn Minuten gedauert; ich wurde entlassen und durch meine Begleiter einige Straßen weiter in ein graues schloßartiges Gebäude geführt. Ich betrat es mit einer gewissen Zuversicht, die sich darauf gründen mochte, daß ich am Schluß meines Zwiegesprächs mit den beiden Kapitänen das Wort »Kaserne« gehört zu haben glaubte, ein Wort, das mir in der Lage, in der ich mich befand, schon halb wie Freiheit klingen mußte. Ich sollte indes nicht lange in diesem Irrtum bleiben. Ein kleiner, schwarzäugiger Franzose (Monsieur Bourgaut, wie ich später erfuhr) nahm mich in Empfang, stellte die üblichen Fragen und führte mich dann treppauf über lange Korridore hin in ein geräumiges, in allem übrigen meinen Erwartungen wenig entsprechendes Zimmer. Mr. Bourgaut selbst war ungemein beweglich und geschäftig, plapperte mit halblauter Stimme lange Sätze vor sich hin, die ich nicht verstand, und verschwand dann rasch, nachdem er sich wie ein Kreisel verschiedene Male umgedreht hatte. Das Ganze gefiel mir nicht allzusehr. Mit einer Art Sehnsucht dachte ich an meinen alten Palazot zurück.
Ich war nun allein und suchte mich mit meiner neuen Behausung bekannt zu machen. Die Tür war aufgeblieben; das schien mir ein gutes Zeichen, aber freilich auch das einzige. Das breite Fenster war dicht vergittert, der Deckenkalk in großen Stücken herabgestürzt, die Dielen zernagt oder durchgetreten. An den weißen Wänden war nichts sichtbar als breite, braune Flecke, wo es durchgeregnet, und lange, schmale Streifen, mal grau, mal rot, wo ein Vorbewohner ein Zündholz probiert hatte. Der Kamin war zugemauert; nur ein zweihandgroßes Loch hatte man gelassen, das jetzt durch einen rostigen Eisenschieber geschlossen war. Der Zugwind machte, daß dieser Schieber beständig hin und her klapperte, was mir alsbald unerträglich wurde. Ich wollte also durch ein eingeklemmtes Papier nach Möglichkeit Ruhe schaffen und zog den Schieber in die Höhe. In dem dunkeln Loch dahinter lagen abgenagte Knochen. Es war nichts Ängstliches, nur Überreste eines Mahles, das ein Gefangener von besserem Appetit als ich selber an dieser Stelle eingenommen hatte; aber ich kann doch nicht sagen, daß ich angenehm dadurch berührt worden wäre.
Ich trat nun an das Fenster, und durch die Gitterstäbe hinunterblickend, mußte ich jetzt den letzten Rest der Vorstellung aufgeben, daß ich mich in einer Kaserne befände. Auf dem von allen vier Seiten eingeschlossenen Hofe, zum Teil unter den Säulen, die ihn kolonnadenartig umstanden, saßen zwanzig oder dreißig Graujacken und zupften Wolle. Ich wußte nun, wo ich war. Auch an der allerdirektesten Bestätigung sollte es alsbald nicht fehlen. Monsieur Bourgaut erschien mit einem Tische in der Tür, drehte sich mit demselben wieder einmal herum, schob ihn in eine der Ecken und sagte dann, als er meiner in der Fensternische gewahr wurde: »Retirez-vous; vous ne connaissez pas ces gens là bas; ce sont des condamnés.« Es überlief mich ein wenig. Im Verlaufe meiner Kriegsgefangenschaft bin ich später Tag um Tag mit »Condamnés« zusammengewesen und habe dabei erfahren, daß auch ein wegen Trunkenheit oder Disziplinarvergehen zu drei Tagen Gefängnis Verurteilter diesen für unser Ohr entsetzlichen Namen führt. Damals aber waren mir die Condamnés einfach »Verdammte«, und ich hatte durchaus das Gefühl, mich »tra la perduta gente« zu befinden.
Ich wurde gefragt, welches Nachtessen ich zu nehmen wünsche? Ich bat nur um etwas Tee. Mr. Bourgaut äußerte sich zustimmend (leider wieder in längerer Rede) und empfahl sich. Es begann nun zu dämmern; in ihren schweren Holzschuhen klappten und polterten die Condamnés über alle Treppen und Gänge des ehemaligen Schlosses hin; die Riegel wurden vorgeschoben; nur mein Zimmer blieb zunächst noch offen. Die Tür war leise angelegt. Ich schritt in der Diagonale auf und ab, überlegte, berechnete, balancierte; ein letzter Tagesschimmer leuchtete noch einmal über den Dachfirst gegenüber; dann wurde es dunkel. Ich setzte meine Marschübungen fort. Plötzlich stutzte ich, als ich von der Tür her zwei feurige Punkte auf mich gerichtet sah. Ich erschrak, aber nur, um im nächsten Moment mich desto freier zu fühlen. Eine prächtige Katze hatte ihren halben Körper durch die Türklinse geschoben und folgte unter leisem Spinnen mit dem Ausdruck der Verwunderung meinem endlosen Auf und Ab. Ich rief »Miß, Miß«, besann mich dann aber rasch, daß die französischen Katzen eine andere Anrede verlangen, und legte in das landsübliche »mimi« meinen allerzärtlichsten Ton. Ich hatte wohl Grund dazu. Der Anblick meines liebsten Feundes hätte mir nicht so viel Trost gegeben. Ich wußte jetzt, daß ich die nächste Nacht schlafen würde. Und danach vor allem stand mein Sinn.
Selbst Mr. Bourgaut, der noch einmal wiederkam, um mir meinen Abendtee zu bringen, konnte mich in diesem Vorsatz und dieser Hoffnung nicht stören, so wenig auch die Worte, mit denen er sich mir empfahl, geeignet waren, meiner Nachtruhe Vorschub zu leisten. Er nahm nämlich eine gewisse feierliche Haltung an und erklärte dann um vieles deutlicher und akzentuierter als gewöhnlich: »Demain matin, Mr. le Général, en présence des autorités civiles et militaires, décidera votre sort.«
Dies »décidera votre sort« hatte einen ziemlich finsteren Klang, und ein naheliegendes Reimwort antwortete in mir darauf; aber das Physische war doch in diesem Augenblicke mächtiger als alles andere; ich trank meinen Tee, und fünf Minuten später schlief ich fest.
Ich weiß nicht wie lange. Aber mitten in der Nacht fuhr ich auf. Der Körper hatte sich ein Genüge getan, und die unruhige Seele, die bis dahin vergeblich den wie tot Schlafenden gerüttelt und geschüttelt hatte, hatte ihn jetzt plötzlich ins Leben zurückgeweckt. Es war »demain matin«. Ich hörte nur eins: »décidera votre sort«. Welches? Eine furchtbare Angst ergriff mich, und mit übergeschäftiger Phantasie fing ich an zusammenzuaddieren, was alles gegen mich sprach. Es gab eine hübsche Summe. Lunéville, Nancy, Toul waren die drei Punkte, von woher man die Preußen erwartete. Ich kam von Toul. Der ganze Weg, den ich gemacht, war ein Defilee. Man hatte Waffen bei mir gefunden. Das rote Kreuz, was an meinem Arm prahlte, war ich nicht befugt zu tragen, wenigstens nicht nach Anschauung unserer Feinde. Meine Legitimationspapiere, die alle mehr oder weniger auf Anrufung der preußischen Militärautoritäten zu meinem Schutz und zu meiner Unterstützung hinausliefen, sprachen mehr gegen als für mich. Wie federleicht wogen dagegen die paar Aufzeichnungen meines Notizbuches, die alles waren, was ich direkt und unverzüglich zu meiner Verteidigung beibringen konnte! Ich sah nur schwarze Kugeln in die Urne fallen und – mon sort fut décidé. Eine halbe Stunde lag ich so, oder vielleicht länger, ich weiß es nicht. Dann hatte ich mich mit der Gewißheit meines Schicksals auch wieder gefunden. Eine Fassung kam über mich, deren ich mich nicht für fähig gehalten hätte. Ich war fertig mit allem und bat Gott, mich bei Kraft zu erhalten und mich nicht klein und verächtlich sterben zu lassen. Genug davon. War es Erschöpfung, oder war es die Ruhe vollster Ergebung, – ich schlief wieder ein.
Mit dem Morgengrauen war ich wach. Ob mir's ein Traum eingegeben, gleichviel, es stand plötzlich für mich fest, daß alles davon abhänge, einen wenigstens vorläufigen Beweis zu führen, daß ich nicht preußischer Offizier sei. Von dem Moment ab, wo es mir geglückt sein würde, diese Annahme zu erschüttern, werde man nichts mehr übereilen, und erst über die nächsten vierundzwanzig Stunden hinweg müsse sich bei Nachforschung und ruhiger Überlegung meine absolute Unschuld wie von selbst ergeben. Um 6 Uhr saß ich an dem langen Tisch, den Mr. Bourgaut am Abend vorher zurechtgerückt hatte; um 8 Uhr war ich in Brouillon und Abschrift mit einem langen Memoire fertig, das bereits um 9 Uhr auf dem Bureau des Generals lag. »Donnez-moi du temps et vous me donnez tout«, hieß es darin. Den Beweis meiner Nichtmilitärschaft hatte ich bis zur Evidenz geführt. Woher mir in einer fremden Sprache, die ich stets über Gebühr vernachlässigt hatte, die Möglichkeit kam, ohne Diktionär oder sonstiges Hilfsmittel ein solches Memoire zu schreiben, weiß ich nicht. Oder sag' ich lieber: ich weiß es.
Der Vormittag verging, der Nachmittag, der Abend. Les autorités civiles et militaires waren nicht zusammengetreten. Es fiel mir wie eine Last von der Brust; ich atmete auf, und als mir mein zappelmännischer Mr. Bourgaut, mit dem ich mich trotz seiner schießenden schwarzen Augen mehr und mehr auszusöhnen begann, am Abend den Tee brachte, flüsterte er mir freundlich zu: »Tout va bien; tranquillisez-vous! Tranquillisez-vous.« Das klang besser als »décidera votre sort«. Ich schlief fest. Auch der nächste Tag verging ohne Kriegsgericht. Ich durfte jetzt annehmen, daß ich gerettet sei. Ich fühlte mich dem Leben wiedergegeben.
Ich blieb noch eine kurze Zeit in Langres, während welcher Epoche hin und her verhandelt wurde, was man eigentlich mit mir machen sollte? Meine vollkommenste Unschuld war evident; dennoch konnte man sich nicht entschließen, mir ohne weiteres die Freiheit zurückzugeben. Es geschah, was immer in solchen Fällen zu geschehen pflegt: eine Autorität schob einer andern die Verantwortlichkeit zu. Es wurde beschlossen, mich von der Brigade an die Division zu verweisen. Ehe dies aber ausgeführt wurde oder auch nur bestimmt zu meiner Kenntnis gelangte, vergingen noch drei Tage. Diese waren mein Idyll zu Langres.
An dem ersten dieser drei Tage wurde mir in aller Morgenfrühe »Monsieur Louis«, der Sohn des Hauses, durch Papa Bourgaut vorgestellt, und von diesem Moment an war ich nicht mehr Alleinbewohner meines Gefängnisses, sondern teilte es mit »mon cher Louis«. Es war ein allerliebster Junge, dreizehnjährig, frisch, naiv, voller Begabung, namentlich nach der Seite des Künstlerischen hin. Der Umstand, daß gerade die großen Ferien waren, machte es ihm möglich, zwölf Stunden des Tages mein Gesellschafter zu sein. Ich gewann den Jungen lieb; aber zwölf Stunden war doch fast zu viel.
Wunderbares Leben, das in solchem Gefängnis, wenigstens zeitweilig, an der Tagesordnung ist. Sehr viel anders, als es der Draußenstehende sich ausmalt. Wir begannen in der Regel mit einer Stunde deutschen Unterrichts. Er hatte Lesebücher, darin auch viele deutsche Gedichte eingestreut waren, unter anderem Claudius' »Abendlied«. Und so lasen wir denn:
Der Mond ist aufgegangèn,
Die goldenen Sternlein prangèn,
immer mit dem Akzent auf der letzten Silbe, was einen unendlich komischen Eindruck machte. Nach dem deutschen Unterricht kamen Rätsel und Rebus an die Reihe, worin er mir unendlich überlegen war. Dann schritten wir zu den verschiedensten Gesellschaftsspielen; wir arrangierten mit großen Zweisous-Stücken eine Art Boccia, die darauf hinauslief, das ausgeworfene Zweisous-Stück zu treffen oder ihm möglichst nahe zu kommen; dann gingen wir zum jeu au bouchon über, das, dem eben absolvierten Boccia verwandt, die Pointe verfolgte, einen mit Sousstücken belegten Pfropfen zu treffen, bis zuletzt jenes bekannte Geduldspiel, das im Französischen jonchets, im Englischen und Holländischen »Spilleken«, im Deutschen aber Zitterspiel heißt, alles andere in den Hintergrund drängte. Wir spielten es mit Schwefelhölzern, oft mehrere Stunden lang; an einem dicken Exemplar, das eigentlich aus drei durch Phosphormasse zusammengeklebten Hölzchen bestand, hing in der Regel der Sieg. Es galt als Zehner.
Waren wir dann ermüdet von dem vielen Spielen, so wußte cher Louis durch eine Art ernsteren Sport die Nerven wieder zu beleben. Er hatte ein kleines Pistolet, dessen Lauf nur etwa die Dicke einer Rabenfeder besaß, und gegen welches die rostigen Schlüsselbüchsen meiner Jugend wahre Monstrekanonen waren. Dieses Pistolet handhabte cher Louisnun mit ebensoviel Kühnheit wie Geschick. Er holte eine Schachtel mit Amorces, d. h. also mit Knallpapieren, deren jedes nur die Größe eines kleinen Stückchens englischen Pflasters hatte. Diese Amorces verwendete er doppelt: zunächst als Zündpulver, indem er eins der Stückchen Papiere auf die Pfanne legte, dann aber namentlich auch als eigentliche Explosionsmasse, indem er aus etwa sechs oder acht Amorces die Knallsubstanz sandkorngroß herausschälte und mit diesen sechs oder acht Körnchen die Waffe lud. Ein Schrotkorn, das dem Kaliber entsprach, wurde aufgesetzt. Nun hefteten wir eine Papierscheibe an die Wand, und während Papa Bourgaut unten in seinem entlegenen Bureauzimmer Listen schrieb und revidierte, standen wir hier oben mit unserer Mordwaffe und feuerten auf fünf Schritt ins Schwarze, daß der Kalk von den Wänden flog.
Endlich am Mittag des fünften Tages – ich hatte all die Zeit über von Kaffee und Tee gelebt – erschien mein »Gardien-chef« (Bourgaut), um mir mitzuteilen, daß ich am nächsten Morgen nach Besançon transportiert werden würde. Er hielt eine lange Rede, noch länger als gewöhnlich. Ich konnte nicht völlig folgen und bat ihn, mir den Inhalt aufzuschreiben. Er war bereit. Zum Unglück schrieb er aber ebenso rasch, wie er sprach, und ich war wenig gebessert. In dieser Verlegenheit blieb mir nach dem Verschwinden des Papas nur der Appell an cher Louis. »Louis, dites moi, qu'est ce que ça?« Der Junge las, las wieder, drehte das Papier; endlich schüttelte er den Kopf und sagte ruhig: »Ce n'est pas français.« In naiver Weise, ohne Beimischung von eigentlicher Unbescheidenheit, sprach sich darin das Gefühl jener Überlegenheit aus, das immer die Söhne über den Vater haben. Nach Scheiterung beim Sohne mußte ich am Ende wohl oder übel an die erste Instanz zurück. Papa Bourgaut nahm die Anfrage weiter nicht übel und faßte nunmehr epigrammatisch die Situation dahin zusammen: »Renvoyé dans votre pays par la Suisse, ou autorisation supérieure pour séjourner en France.« In diesen paar Worten lag ein ganzer Himmel. Das »Renvoyé« ergab sich danach als das stärkste Strafmaß, das mir zudiktiert werden konnte, wohl aber war mir die Möglichkeit gegeben, im Lande bleiben und meine Schlachtfelderstudien fortsetzen zu können. Ich war wie genesen, betrachtete mich als frei, und hundert freundliche Bilder des Wiedersehens stürmten auf mich ein. Das Gefühl des Glückes war so groß, daß ich die Frage, »ob ich unter diesen Umständen wohl geneigt sei, ein ordentliches Abendmahl einzunehmen«, sofort mit einem herzlichen »ja« beantwortete. Acht Uhr wurde festgesetzt und seitens der Familie Bourgaut der Wunsch ausgesprochen, daß ich das Mahl in ihrem Familienzimmer einnehmen möchte. Ich rüstete mich also mit aller möglichen Feierlichkeit, klopfte meinen Rock an allen vier Bettpfosten aus, streichelte den hart mitgenommenen Samtkragen und knöpfte die Uhr ein, die bis dahin, ordnungsmäßig deponiert, mir für diese feierliche Gelegenheit wieder eingehändigt worden war.
Punkt 8 Uhr trat ich in den Salon, ein großes Hinterzimmer, das sich bis dahin meinen Blicken verborgen hatte. Es war sehr sauber gehalten; auf der Herdstelle brannten große Scheite Buchenholz, während über dem Kamin in einer Art von Aureole die Photographien aller derer hingen, die dem Hause Bourgaut anverwandt oder zugetan waren. Ich musterte sie alle und versuchte mich in Hypothesen über Charakter und Lebensstellung. Wir nahmen endlich Platz; cher Louis, der etwas neckisch und übermütig war, wurde ein paarmal mit »ce n'est pas poli« zur Ruhe verwiesen; die gute Laune erlitt aber durch solche Zwischenfälle keine Einbuße, und die Riesentaube, die mir endlich durch Madame Bourgaut vorgesetzt wurde und freilich einer ganz anderen Geflügelgattung anzugehören schien als jener furchtbare Sperlingsbraten, der bei uns zulande unter diesem Namen serviert zu werden pflegt, war nur imstande, die gute Laune zu steigern. Das Fest stand auf seiner Höhe, als beim dritten oder vierten Glase Wein eine mittelalterliche Dame eintrat, die den Namen »Tante« führte. Sie war sehr stark, unverheiratet und von heiteren Gesichtszügen. Wir sprachen von »cher Louis«, dessen Pate sie war, und die Bemerkung drängte sich mir auf, ob ihr Liebling, eben unser Freund Louis, nie Geschwister gehabt habe? Als dies verneint wurde, ging ich zur heiklen, übrigens von der Statistik oft aufgeworfenen Frage über, wie es nur komme, daß die Franzosen meist zwei, die Deutschen meist vier und die Engländer meist vierzehn Kinder hätten? Diese letztere Zahl, mit der ich es nicht allzu genau zu nehmen bitte, gab nun das Signal zu allgemeiner Heiterkeit. Die Tante, die zu fühlen schien, daß sie es wohl verdient hätte, in England geboren zu sein, befand sich au comble du bonheur, und ihr Lachen fing an, mich mehr oder weniger zu beunruhigen. Es war nur möglich, durch irgendeine Diversion weiterem Unheil vorzubeugen; ich brachte ein halbes Dutzend Toaste aus, gleichviel was, ließ Frieden, Freiheit, Völkerglück leben, stieß mit allen an, mit der Tante dreimal, und trat dann, etwas abrupt, meinen Rückzug an, ohne das Ende der Festlichkeit abgewartet zu haben.
Oben rollte ich meine paar Sachen in die Reisedecke hinein und warf mich aufs Bett. In zwölf Stunden hoffte ich in Besançon, in vierundzwanzig Stunden in Freiheit zu sein.
Es war anders beschlossen.