Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Von Langres bis Besançon.

Besançon, wie schon angedeutet, erschien mir lediglich als Etappe zurück in die Freiheit. Ganz abgesehen von den direkten Zusicherungen Mr. Bourgauts, glaubte ich nach einem gewissen ästhetischen Gesetz, die Lösung des Konfliktes innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden erwarten zu müssen. Mein Leben hatte mir bis dahin immer den Gefallen getan, sich nach künstlerischen Prinzipien abzurunden, derart, daß ich nicht nur Exposition, Schürzung und Lösung des Knotens jederzeit bequem verfolgen, sondern auch in einem gewissen Verwicklungsstadium genau vorhersagen konnte: nun kommt noch das, dann dämmert es wieder, und dann wird es Tag. So, guter Dinge, stand ich auch vor diesem Erlebnis. Der dritte Akt, der tragisch werden wollte, schien mir mit allen Fährlichkeiten überwunden; selbst der vierte Akt (die Tante und der Taubenbraten) lag glorreich hinter mir, und ich blickte auf Besançon wie auf ein bloßes Schlußtableau, in dem, nach dem Vorbilde des Fürsten, der plötzlich seinen Stern zeigt und alles glücklich macht, ein alter wohlwollender General auftreten und mir sagen würde: »Mr. F., wir beklagen die Ungelegenheiten, die wir Ihnen gemacht haben; Sie sind ein lieber Mensch; reisen Sie glücklich.« Es ging aber diesmal alles verquer; von regelrechter Entwicklung keine Rede. Immer neues Wirrsal. Erst als ich ganz resigniert war, wurde es besser.

Ich fahre jetzt in Darstellung meiner Erlebnisse fort. Sechs Uhr früh am anderen Morgen trat ich in den Hof des Gefängnisses; die Gendarmen warteten schon. Ein kurzer Abschied; dann ging es im Geschwindschritt bis an den Bahnhof. Diesmal bergab. Die frühe Morgenstunde sicherte einigermaßen vor der Zudringlichkeit der Bevölkerung.

Es war naßkalt; ein heftiger Regen hatte erst gegen Morgen aufgehört; alle Türen des Wartesaals standen offen. Ich fand hier Gesellschaft, die gleich mir ins Land hineintransportiert werden sollte, aber nicht nach Besançon. Einer von ihnen war ein gefangener Unteroffizier vom 32. Regiment (Meiningen). Wir fröstelten alle, die Gendarmen in ihren Mänteln nicht ausgenommen. Nach etwa halbstündigem Warten setzten wir uns in ein Coupé (immer zweiter Klasse) und fuhren südwärts. Ich fragte, ob ich mich mit meinem Landsmann in deutscher Sprache unterhalten könne, was ohne weiteres zugestanden wurde. In welche Lebensschicksale man in solchen Zeiten Einblick gewinnt! Dieser gefangene Unteroffizier, seines Zeichens eigentlich ein kleiner Kaufmann aus Köslin, war vierundzwanzig Jahre alt und seit zwei Jahren verheiratet. Mit dem Moment seiner Einberufung hatte er seinen Kramladen geschlossen und seine Frau den Schwiegereltern zurückgeschickt; er selbst war zum 32. Regiment beordert worden. Bei Wörth am Knie verwundet, hatte er nach seiner Wiederherstellung sich mit einigen Kameraden durchzuschlagen und die preußischen Marschlinien wiederzugewinnen gesucht, war aber auf diesem Wege »beim Absuchen eines Dorfes« (denn die armen Kerle hatten nichts) von Franktireurs umstellt und nach kurzem Kampfe, wobei ihm die linke Hand zerschmettert wurde, als »Marodeur« eingefangen worden. Da saß er mir nun gegenüber, keinen Pfennig in der Tasche, blaß, rotblond, mager, ein krankes Eichkätzchen, nur weniger warm bekleidet. Er hatte nichts als seinen Waffenrock, seine zerschossene Hand und eine Photographie seiner Frau, die er mir zeigte. Ich gab ihm etwas Geld, was er anfangs nicht nehmen wollte; »er brauche nichts; allabendlich werde er in ein französisches Hospital abgeliefert, wo ihn die ›Schwestern‹ bis diesen Tag gütig gepflegt und verbunden hätten«. Es kam kein Klagelaut über seine Lippen; man transportierte ihn nach Marseille. »Da ist es wärmer,« setzte er hinzu, während ihn die Morgenfrische kalt überlief.

Mein Gespräch mit dem landsmännischen Unteroffizier mochte eine Viertelstunde gedauert haben; es war nun Zeit, mich meinen eigentlichen Begleitern zu widmen. Sie ließen mir auch keine Wahl; namentlich der eine, ein alter Chasseur d'Afrique, der zwanzig Jahre in Algier gewesen war, bemächtigte sich meiner. Wie ein Sturzbach brach es über mich herein. Wer dabei geneigt sein möchte, anzunehmen, daß solche Passivität, solch bloßes Stillhalten, zu dem ich mich verurteilt sah, am Ende nicht als große Anstrengung betrachtet werden könne, der irrt. Ein taubes, teilnahmloses Übersichergehenlassen wird von dem Sprecher sehr bald als solches erkannt und als persönliche Beleidigung empfunden; es handelte sich also für mich darum, immer auf dem qui vive zu sein und jeden Augenblick zu wissen, was obenauf schwamm. Ich wurde ganz erschöpft, und mit eigentümlichen Empfindungen gedachte ich einer Strachwitzschen Douglas-Ballade:

Sie ritten vierzig Meilen fast
Und sprachen Worte nicht vier.

Beneidenswerter Douglas! Wir hatten noch nicht vier Meilen gemacht und waren längst in die Tausende hinein.

Endlich heuchelte ich Schlaf, schloß mit krampfhafter Gewalt die Augen, als vermöcht' ich durch gesteigertes Zudrücken auch eine größere Garantie der Ruhe zu gewinnen, und rasselte nun in wachen Träumen ins Land hinein. Etwa halben Wegs erreichten wir Gray, einen größeren Ort, wo angehalten wurde. Es gab ein wirres Durcheinander, dem ich mich durch Ausharren auf meinem Platze zu entziehen suchte; aber ich sollte nichtsdestoweniger in die bunte Szene als eine Art Mitspieler hineingezogen werden. Das Coupé stand offen, Hunderte, die ein Unterkommen suchten, starrten hinein und verschwanden wieder, sobald sie die Plätze belegt oder besetzt sahen, bis plötzlich aus einer dieser auf und ab wogenden Gruppen ein herzliches Lachen und zugleich die Worte zu mir her klangen: »Bon jour, Monsieur; vous souvenez-vous de Domrémy?« Einen Augenblick, weil ich das Wort »Domremy« nicht deutlich gehört und ohne dies Wort keinen Schlüssel zum Verständnis hatte, starrte ich wie verwirrt in die beständig grüßende und kopfnickende Soldatengruppe hinein, bis es mir endlich wie Schuppen von den Augen fiel. Der vorderste, in roter Schärpe und Hahnenfeder, war einer jener Herren, die meine Verhaftung vor dem Hause der »Pucelle« herbeigeführt, hinterher aber freilich die Rechnung wie quitt machend durch ihren Beistand mich vor den Insulten des Dorfpöbels gerettet halten. Gerade eine Woche war seitdem vergangen. Die ganze Franktireursschaft von Domremy zog jetzt südwärts, um sich dem großen, unter Garibaldi zu bildenden Freikorps anzuschließen. Unser Wiederzusammentreffen, so weit von dem Schauplatz unserer ersten Begegnung entfernt, weckte allgemeine Heiterkeit, auch bei denen, die bloß flüchtig davon hörten, und alles drängte herbei, um die augenblickliche Bahnhofssehenswürdigkeit von Gray wie einen alten Bekannten zu grüßen.

Hier in Gray ging auch der 32er Unteroffizier auf eine andere Bahnlinie über; wir anderen fuhren, unter Beschreibung einer Kurve, zunächst auf Auxonne zu. Dies ist abermals ein Kreuzungspunkt; wir mußten die Wagen wechseln und hatten eine halbe Stunde Zeit, um ein kleines Dejeuner zu bestellen. Ein interessanteres Frühstück habe ich all mein Lebtag nicht eingenommen. Es traf sich, daß wir unter den ersten im Wartesalon waren, also einen guten Platz und einen Imbiß erhalten konnten, ehe der Rest, der von einer Seitenlinie her ziemlich gleichzeitig mit uns eintraf, seinen Sturm auf das Büfett ausführen konnte. Es waren etwa 500 Soldaten, die sich alle auf Dijon, Belfort und Besançon zu dirigierten. Wenn ich sage 500 Soldaten, so gibt dies freilich eine nur sehr unvollkommene Vorstellung von dem »Wallensteins Lager«, das sich auf zehn Minuten hier in Szene setzte. Theaterhaft bunt drängten sich Linie, Gardes mobiles und Legionäre; die Hauptmasse bildeten die Franktireurs. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne immer wieder an einen lesenswerten Aufsatz Hugo v. Blombergs zu denken: »Über das Theatralische im französischen Volkscharakter«. Welche natürliche Begabung, sich zurechtzumachen, sich zu drapieren und zu ornamentieren! Es war nicht einer unter ihnen, von dem man nicht hätte sagen können: seht, welch ein Bild! Bei jedem ein Überschuß von Rot, aber immer kleidsam, als Gürtel, Schärpe, Aufschlag. Viele hatten ein Gefühl davon, wie hübsch sie aussahen, und schritten an dem breiten Pfeilerspiegel des Wartesalons nie vorüber, ohne einen Blick hineinzutun und sich »befriedigend« zu finden. Alle Jahrgänge waren vertreten, und neben rotbäckigen jungen Leuten, die kaum die Kinderschuhe ausgezogen, bewegten sich Weißköpfe, alte Troupiers, die ersichtlich froh waren, aus dem langweiligen Alltagsleben heraus und wieder in frisches Wasser hineinzukommen. An Haß oder Hohn gegen den »Prussien«, als den sie mich natürlich sofort erkannten, war gar nicht zu denken; sie waren zu gutmütig dazu, vielleicht auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Eine Frage aber drängte sich mir beständig auf: Wer regiert diese Truppe? Sie schienen absolut führerlos zu sein.

Nach halbstündigem Aufenthalt ging es weiter auf Besançon zu. Wir kamen bald in seine Nähe und fuhren gegen 2 Uhr in den weiten Kessel hinein, in dem die Stadt gelegen ist. Die Befestigungen derselben umgürten nicht unmittelbar die Stadt, sondern sind auf den einschließenden Bergen gelegen. Bis zum Ausbruch des Krieges, vielleicht bis zur Kapitulation von Sedan war »la Citadelle de Besançon« das eigentlich beherrschende Fort. Von dem Augenblick an aber, wo es feststand, daß der Krieg auch hier seinen Schauplatz suchen werde, mußte man sich wohl oder übel überzeugen, daß die Zitadelle zwar die Straße beherrsche, ihrerseits aber von den nahegelegenen Kuppen höherer Berge beherrscht werde. Man schritt denn auch sofort zur Befestigung und Armierung dieser eigentlich dominierenden Punkte, und in diesem Augenblicke mag Besançon als eine der am besten befestigten Festungen des Landes gelten.

Der Weg vom Bahnhof bis zur Kommandantur war wieder so weit wie möglich; wir mußten durch die ganze Stadt hindurch. Ich habe Besançon nachher noch öfter passiert (beispielsweise wenn die Verhöre stattfanden), und ich fasse gleich an dieser Stelle zusammen, wie es sich mir überhaupt präsentierte. Daß es zur Hälfte aus Uhrmachern besteht (20 000) und als der eigentliche Konkurrenzort von Genf zu betrachten ist, setze ich als bekannt voraus. Die Stadt macht einen sehr guten Eindruck, wohl zumeist deshalb; weil sie einen bestimmten Charakter, ein Gesicht für sich hat. Alle charakteristischen Städte wirken viel anheimelnder als die architektonisch korrekten; ja die malerische Schönheit – ich erinnere nur an Kopenhagen – ist so entschieden siegreich über die bauliche, daß wir zuletzt jede Stadt schön nennen, die wie ein reizendes Bild uns berührt.

Als eine solche präsentiert sich auch Besançon. Seine Quaderhäuser, mit keinem anderen Fassadenschmuck als einem Balkon oder einem Bogen am Fenster, sind freilich weder sonderlich originell noch pittoresk; desto mehr jedoch sind es seine Kirchen. Vor allem die alte Kathedrale. Aber nicht sie allein. In der Mitte der Stadt erhebt sich ein moderner Bau, die Johannis- oder Magdalenenkirche. Ich bin, was den Namen angeht, meiner Sache nicht sicher. Desto sicherer steht das Bild vor meinem Auge. Pfeiler mit korinthischem Kapitäl schaffen eine griechische Front, aus der zugeschrägt ein tumulusartiger Turm aufwächst, der gewiß der Schrecken jedes geschulten Architekten ist. Aber nicht des Malers. Man verweilt mit Interesse bei dieser Baumeisterlaune, und ein goldenes, weithin leuchtendes Kreuz, das aus Stäben reich geflochten wie eine Riesenfiligranarbeit das Ganze bedeutungsvoll abschließt, adelt es und gibt ihm den kirchlichen Charakter.

Wir hatten endlich die Kommandantur, die hier den Namen »la Division « führt, erreicht und nahmen in einem Vorzimmer auf einem Armensünderbänkchen Platz. Ein beständiges Kommen und Gehen von Adjutanten und Ordonnanzen; so vergingen fast zwei Stunden. Die Gendarmen, die nach ihrem Mittagbrot verlangten, wurden ungeduldig. Endlich erschien ein blasser Herr, dessen ausgearbeiteter, beinahe kahler Schädel in einem argen Größenmißverhältnis zu dem kleinen Gesicht stand. Die Augen waren klug und lebhaft. Er musterte mich scharf und rasch mit einem bloßen Streifblick, wie Leute das tun, die für das Beleidigende des Anstarrens eine feine Empfindung haben. Er überreichte dann dem Gendarmeriebrigadier mehrere Papiere; ich hörte meinen Namen und gleich darauf die ruhige Weisung: »à la Citadelle«.

 


 << zurück weiter >>