Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Die Zitadelle von Besançon.

Ich hatte dies »à la Citadelle« keineswegs erwartet, vielmehr von unmittelbarer Freilassung und Unterbringung in einem Hotel geträumt; nichtsdestoweniger erschreckte mich diese Order nicht geradezu. Ich entsann mich eines Besuches, den ich vor vielen Jahren einmal auf der Spandauer Zitadelle gemacht hatte, und knüpfte an Festungshaft, die für mich ohnehin nur vierundzwanzig Stunden dauern konnte (so wähnte ich), die Vorstellung von Nachmittagskaffee und einer Partie Sechsundsechzig. Welche Illusionen!

Der Berg war wieder sehr hoch. Wir passierten zunächst im Hinaustreten der Stadt ein triumphbogenartiges, höchst pittoreskes Portal, hinter dem sich (schon am Abhange des Zitadellberges) die Kathedrale, eine mächtige Jesuiterkirche, erhob. Ich suchte mir ihr Bild einzuprägen, reckte den Hals und stieg immer höher; alles im Geschwindschritt. In Freiheit – bei attestierter Herz- und Lungenschwäche – hätte ich geglaubt, auf dem Platze bleiben zu müssen; hier ging es. Auf dem niedrigen, aber breiten Mauerwerk, das den Weg einfaßte, streckten sich die dienstfreien Mannschaften der Zitadelle und schliefen in den allerwunderlichsten Positionen. Die meisten lagen auf dem Bauch und hatten ein oder auch beide Beine rechtwinklig in die Höhe. An ihnen vorbei, über eine Zugbrücke hin, mündete der Weg endlich auf einen Vorplatz, den allerhand Bauten unregelmäßig umstanden. An der einen Steinwand, dicht neben einem schmalen Torwege, hing ein Brett mit verwaschener Inschrift: Prison militaire.

Das sah nicht sehr einladend aus; meine Hoffnungen sanken jetzt rapide, wie das Wetterglas bei Erdbeben. Die Ablieferung erfolgte unter den üblichen Formalitäten, und ein alter Sergeant führte mich an ein langgestrecktes Haus mit fünf Türen, deren Inschriften auf Prévenus, Disciplinaires und Condamnés lauteten. Es hatte aber mit diesen Unterschieden nichts auf sich, alles wurde durcheinander geworfen. Nachdem wir in die verschiedenen Türen hineingeguckt, kehrten wir endlich zur ersten zurück, und der Sergeant belehrte mich dahin, daß ich hier zu wohnen haben werde. Es war ein gewölbter Raum von bedeutender Tiefe, in dem damals zwölf Pritschen standen; auf der zwölften befand sich ein Berg von Strohsäcken; ein Dutzend Gefangene gingen im Zimmer auf und ab oder saßen auf den Bettständen umher. Mein Eintreten machte nicht das geringste Aufsehen; man war an solche Erscheinungen gewöhnt. Ich legte mein kleines Bündel (mein Reisegepäck war in Toul geblieben) auf ein Wandbrett und setzte mich, um mich von der Anstrengung des Bergsteigens zu erholen. Die erste Anfrage, die an mich erging, war, ob »ich mich für die ›Abendsuppe‹ einschreiben lassen wolle«, was ich ohne weiteres ablehnte, da ich doch mindestens dieselben Ansprüche wie in Neufchateau und Langres auch an dieser Stelle glaubte erheben zu können. Ich begab mich denn auch in das Bureau des Vorstandes, welcher letztere den Titel »Monsieur le Principal« führte, und stellte ihm mein Anliegen vor, das auf ein Zimmer und selbständige Beköstigung lautete, aber rundweg abgeschlagen wurde. Dies sei unmöglich. In einem prison militaire existiere dergleichen nicht.

Gut. Ich kehrte auf meinen Bettplatz zurück, kreuzte die Hände überm Knie und starrte ins Blaue, soweit dies an diesem Orte möglich war. Nach einer halben Stunde, auf ein Signal, das mir entgangen war, stürzte alles auf den Hof und kehrte nach zwei Minuten mit der schon erwähnten »Abendsuppe« zurück, die ich so stolz abgelehnt hatte. Ich sollte indes nicht zu kurz kommen. Ein junger badischer Gefreiter, mit dem ich mich gleich in den ersten Minuten bekannt gemacht hatte, stellte einen glücklich eroberten Kübel vor mich hin und forderte mich auf, zu kosten. Ich mußte es schon artigkeitshalber. Es war heißes Wasser, mit Brot und Kartoffel, durch etwas Salz und Zwiebel schmackhaft gemacht. Ich aß und nahm von da ab an der allgemeinen Gefangenenkost teil. Sie bestand in einer Fleischsuppe morgens und einem halben Laib Brot. Wein, Käse und die Abendsuppe waren erlaubte Extras, für die aber gezahlt werden mußte. Mir wurde später (als ich leicht erkrankte) Tee bewilligt; aber dabei blieb es. Ich habe dies ohne besonderes Herzeleid ertragen und an mir selber wieder die alte Wahrnehmung gemacht, daß die sogenannten »verwöhnten Leute«, wenn sie nicht absolute Gecken sind, sich in den Wechsel der Glücksumstände am leichtesten finden. Die Bekanntschaft mit den Finessen und Delikatessen des Lebens macht zuletzt ziemlich gleichgültig dagegen; ihr Wert ist ein relativer, oft geradezu imaginärer, und die flüchtigste Erkenntnis davon macht es einem verhältnismäßig leicht, diese Art von Opfern zu bringen.

Es hatte freilich bei dieser Art von Opfern nicht sein Bewenden; Härteres, sehr Hartes wurde mir zugemutet. Indessen es sei drum. Die Dinge liegen hinter mir, und es tut nicht gut, ja es schädigt einen geradezu, die ganze petite misère eines solchen Daseins auf den Tisch zu legen. Misere weckt Mitleid, aber auch dégoût. Es ist, als ob es auch von diesen Dingen hieße: aliquid haeret. Ich lasse Gras darüber wachsen und führe lieber Erlebnisse vor, über die leichter und lachender zu berichten ist. Ich beginne mit Schilderung einzelner Persönlichkeiten, die mir das Schicksal zu Bettgenossen gab. Mit einigen war ich die ganze Zeit über, volle achtzehn Tage, zusammen, andere schieden früher, teils um ihre Freiheit wiederzufinden, teils um in Kriegsgefangenschaft landeinwärts geführt zu werden.

Ich lasse dem deutschen Element, das anfangs ziemlich stark vertreten, zuletzt nur noch in einzelnen Exemplaren vorhanden war, den Vortritt. An der Spitze desselben, nicht seinen Jahren, aber allem anderen nach, stand der junge badische Gefreite, »le caporal badois«, dessen ich schon erwähnt habe. Wir schlossen eine Freundschaft, soweit dies der Altersunterschied zuließ.

Er war aus Pforzheim, eines reichen Fabrikanten Sohn, und würde, frischen, braven Herzens wie er war, nach dem Vorbilde der »400 Pforzheimer« gewiß tapfer gefallen sein, wenn ihn das Schicksal in eine ähnliche Situation gestellt hätte. Aber gleich im ersten Gefecht, das er mitzumachen hatte, war ihm der Auftrag geworden, nicht in Gemeinschaft mit 399 anderen, sondern ganz allein, eine Munitionskolonne aus Saint-Dié, wenn ich nicht irre, herzubeordern; auf diesem Einsamkeitsmarsche war er durch ein Dutzend Franktireure umstellt und gefangengenommen worden. Seine äußere Erscheinung ließ ihn im ersten Augenblick kaum als reicher Leute Kind erkennen. Der badische Waffenrock, den er trug, saß noch schlechter als ein preußischer (was viel sagen will), und infolge dicker Leibbinden und Unterhosen hatte sich das ganze Brust- und Rückenstück des Rockes nach oben geschoben. Der Eindruck davon verschwand aber in demselben Moment, wo er lachte, und er lachte viel. Er präsentierte dann vier Schneidezähne, die, nur an den Rändern leise lädiert, eine feine, kaum haarbreite Goldeinfassung erhalten hatten. Unverkennbar ein zahnärztliches Meisterstück und mutmaßlich enorm teuer. Diese vier Zähne wirkten wie die Visitenkarte eines Bankiersohnes. Wir waren fast vierzehn Tage zusammen und plauderten das Mannigfachste durch. Er schwärmte für Preußen, hielt uns ohne weiteres für ein Heldengeschlecht und hatte bei seinem ersten Verhör dem Kolonel eine Rede in diesem Sinne gehalten, die freundlich aufgenommen und ein paar Tage später in den Lokalblättern von Besançon in nuce gedruckt worden war. Ich muß hinzufügen, daß er geläufig Französisch sprach. Dies alles war gut; aber weitaus am meisten interessierte es mich doch, wenn er leuchtenden Auges über den Juwelenhandel einen kleinen Vortrag hielt. Dann erschloß sich mir eine neue Welt. Gerade auf diesem Gebiet hatte ich wenig Gelegenheit gehabt, mich zu orientieren. So jung er war, so sprach er doch von Smaragden, wie andere junge Leute von schönen Augen sprechen. Er schilderte mir einen Besuch in einem Pariser Juwelenladen, den er im Sommer 1870, kurz vor Ausbruch des Krieges, gemacht hatte, wobei ihm die Sorglosigkeit, mit der die Besitzer ihr Geschäft betrieben, das Imponierendste gewesen war. Auf eine bloße Empfehlungskarte hin, hatte man ihm für 6000 Franken Smaragden mit nach Pforzheim gegeben, alles rasch und sans phrase, während junge und alte Juwelenkäufer (meist Juden) an den anderen Tischen des Lokals standen, die Diamanten aus ihren Baumwollpaketen herausnahmen, nebeneinander auf die flache Hand legten und minutenlang sich in den Anblick dieser Herrlichkeit vertieften; dabei zugleich jede kleinste Wert- und Schönheitsnuance erkennend. »Das Bijouteriegeschäft,« so schloß er wohl, »hat seine Reize, aber es ist klein, ärmlich, prosaisch neben dem Steinhandel

Ein zweiter Deutscher unserer Kolonie führte den Namen: »le cocher de Bismarck«. Er trug ein echt preußisches Kutscherkostüm mit Stulpstiefeln, Wappenknöpfen und breiter Goldborte und war in der Nähe von Epinal auf Spionage hin verhaftet worden. Eine wunderliche Figur, gutmütig und schlau zugleich; bei Fritzlar im Hessischen zu Hause. Was ihn mir interessant machte, war, daß er siebzehn Jahre lang als Kunstreitergroom die Loissets, die Franconis, die Cinisellis begleitet hatte. Ich darf sagen, in jeder Stadt Europas über 50 000 Einwohner war er gewesen; er wußte in Petersburg, Konstantinopel und Lissabon gleich vortrefflich Bescheid, sprach ein gutes Französisch, ein leidliches Englisch und hatte von allen anderen Sprachen wenigstens eine oberflächliche Kenntnis. Ich muß bemerken, daß er niemals den Gesellschaften als solchen, sondern immer nur einem einzelnen hervorragenden Mitgliede derselben als Reitknecht und Pferdepfleger angehört hatte. Die längste Zeit über war er bei einem ungarischen Schärpen- und Reifenspringer gewesen, von dem er mit ungeheuchelter Hochachtung sprach. Er betrachtete dies alles als ernsthafte Kunst, lobte die Ordnungsliebe, die Sauberkeit, die Gewissenhaftigkeit seines Herrn, stellte der Mehrzahl der Damen die glänzendsten Tugendzeugnisse aus und ließ mich wieder recht empfinden, wie sehr wir Draußenstehenden auf diesem wie auf ähnlichen Gebieten mit unseren Vorstellungen in die Irre gehen. Die Welt ist oft schlechter, als wir sie nehmen, aber noch öfter vielleicht ist sie besser.

Der dritte, zu dem ich in Beziehung trat, war »le maître d'école«, ein Deutsch-Franzose. Ich konnte mich anfangs nicht mit ihm befreunden, teils weil er etwas Sonderbares, beinahe Unheimliches in seinem tiefliegenden Auge hatte, teils weil ich das Bild des »Schulmeisters« aus den Geheimnissen von Paris nicht loswerden konnte. Es kam dazu, daß er sich beim Sprechen etwas zierte und durch Korrektheit und obligate Nasaltöne den »maître d'école« beglaubigen wollte. Er war, wie so viele andere, denunziert und verhaftet worden, weil er mit einem preußischen Offizier gesprochen hatte. Endlich kam der ersehnte Tag der Freiheit; daheim in Lothringen saß seine Frau mit sechs Kindern. Aber wie hinkommen? Er fragte mich, ob ich ihm das Reisegeld geben könne. Ich tat es ohne weiteres. In solchen Zeiten empfindet man doppelt: Gib, auf daß dir gegeben werde. Dem Manne traten die Tränen in die Augen, und er dankte mir herzlich, übrigens ohne sich das geringste zu vergeben. Der eigentliche Gewinner war ohnehin ich. Hatte ich dem Manne einen Dienst geleistet und seine Dankbarkeit erworben, so war ich ihm doch ungleich mehr verpflichtet, daß er mir die Gelegenheit dazu gegeben hatte. Die Kunde von dieser Großtat lief wie ein Feuer durch die ganze Zitadelle von Besançon; ich war auf einen Schlag »etabliert«, man gab mir ungesucht eine exzeptionelle Stellung, und der alte Sergeant, auf den ich wohl noch zurückkomme, adressierte sich immer mit den Worten an mich »un homme comme vous«. Ich hatte Ursache, mich alles dessen zu freuen; zugleich empfand ich schmerzlich die furchtbare Macht des Geldes. Wen diese Worte etwas verwunderlich anblicken, der vergesse nicht, daß unter Blinden der Einäugige König ist. Es schlug vielleicht manch gütigeres Herz auf der Zitadelle von Besançon; aber was frommte es, solange sich diese Güte nicht »berechnen« und nicht in Zahlen ausdrücken ließ.

Neben dem Schulmeister schlief »le bon tireur«, schöner Mann, an dem nur auszusetzen war, daß er es zu sehr wußte. Er kam aus Rom, hatte ein Jahr lang der Legion von Antibes angehört und diente jetzt, wie viele andere seiner alten Kameraden, in einem Marschbataillon. Die Geschenke hübscher Frauen, dazu die zahlreichen Prämien, die er sich als brillanter Schütze erworben (er trug immer einen breiten Leibgurt, der in Front die Lederhülsen für mindestens dreißig Patronen aufwies), hatten ihn sichtlich verwöhnt und gaben seinem elastischen Gange, seiner beinahe eleganten Tournüre doch ein Maß von Prätension, das zu seiner Stellung nicht paßte. Er war wegen Hochfahrenheit zahllose Male bestraft und saß jetzt hier, weil er auf den Zuruf seines Kapitäns »vous êtes un lâche« geantwortet hatte »pas plus que vous«. Er machte beständig Vorstellungen an den General, in denen er eine ähnliche kecke Sprache führte und sich auf sein gutes Recht steifte, »weil er zuerst beleidigt worden sei«. Auf meine Bemerkung, daß solche Eingaben, in so selbstbewußtem Tone abgefaßt, in Preußen ganz unmöglich seien, antwortete er nur mit superiorem Lächeln: »Je sais, je sais: vous avez encore le régime du bâton; nous sommes plus libres en France.« Er ließ sich das auch nicht ausreden.

Eine andere Figur war »le raconteur«, der Liebling und das Ferment der ganzen Gesellschaft. Er machte mir das Bett, gab mir sein Strohkissen, deckte mich mit seiner Decke zu, so daß ich eigentlich nicht weiß, wie er sich durch die kalten Nächte durchgeschlagen hat. Er war ein ausgesprochener Humorist und hatte, neben seinem Spaßmachertum, vor allem auch jene Herzensgüte, ja jene Feinheit der Empfindung, die den wirklichen Humoristen allemal charakterisiert. Er erzählte sehr gern; aber im Erzählen beobachtete er beständig, ob er vielleicht Anstoß gäbe oder durch ein Zuviel die Geduld erschöpfe; glaubte er derartiges wahrzunehmen, so schwieg er sofort und wartete ab, bis er ermuntert wurde, den Faden wieder aufzunehmen. Er hatte ein Paar Diensthosen verkauft, um seine Kameraden in Wein freihalten zu können; daraufhin war er, nachdem ihn eben diese Kameraden angezeigt hatten, zu sechs Monaten verurteilt worden. Für mich ein offenbarer Vorteil. Ich liebte ihn förmlich. Bei weiterer Schilderung meiner Tage in Besançon komme ich auf ihn zurück.

Der letzte, von dem ich zu sprechen gedenke, war »le penseur libre«, ein kleiner, kratzbürstiger Kerl, nah an fünfzig, seines Zeichens ein »Kommissionär in Hülsenfrüchten«. Er war eingesperrt worden, weil er den Preußen eine Ladung Mehl verkauft hatte. In einem scharfen Gegensatz zu dieser merkantilen Beschäftigung stand sein geistiges Leben. Er war Philosoph; sein Lieblingsschriftsteller Victor Cousin, dessen gediegene Übersetzungen der klassischen Literatur, griechisch wie lateinisch, er besaß, beziehungsweise auswendig konnte. In einer Anzahl kleiner blauer Notizbücher, die er als Vademekum auch mit ins Gefängnis genommen, hatte er sich die Weisheit des Altertums für den Hausgebrauch zurechtgemacht. Gleich den zweiten Tag fragte er mich, ob es mir recht sei, Senecas Betrachtungen über den Tod, über das Ruhig sich Schicken ins Unvermeidliche zu lesen? Ich hielt es für artig, »ja« zu sagen, und mußte nun zwei Stunden lang meinen Kopf und meine Augen anstrengen, um mich in diesen »Blaubüchern« zurechtzufinden, die für mich wenigstens das Schicksal aller blue books teilten, ziemlich langweilig zu sein. Solche Gedanken aus sich heraus zu gebären, sie selbständig zu haben, kann Trost verleihen und das Gemüt adeln; es zurechtgemacht an sich herantreten sehen, ist mindestens unfruchtbar. Da wirkt ein Gesangbuchvers von Paul Gerhardt doch anders! Es blieb nun aber nicht bloß bei Seneca. Dieser furchtbare penseur libre hatte mit Hilfe seines Victor Cousin eine eminente Kenntnis von Plato, Tacitus, Plutarch und vielen anderen noch, und vielleicht niemals hat ein deutscher homme de lettres vor einem französischen Hülsenfruchthändler eine so kümmerliche Rolle gespielt wie ich. Er wußte alles, ich wußte nichts. Glücklicherweise war ich nicht in der Stimmung, über diese konstanten Niederlagen mich besonders zu grämen. Auch bin ich ihm das Zeugnis schuldig, daß er mich nie ironisch behandelte und sein offenbares Übergewicht keinen Augenblick mißbrauchte.

Ich versuche nun, nachdem ich den Leser mit den »Spitzen der Gesellschaft« bekannt gemacht habe, ihm im weiteren einen Tag zu schildern, wie wir ihn in der Zitadelle zuzubringen pflegten.

Um 6 Uhr rasselte draußen das Schlüsselbund, die schwere Tür wurde geöffnet, der Sergeant trat ein, und das Abzählen begann, um festzustellen, daß über Nacht nichts von der Herde verlorengegangen sei. Wir waren zuletzt zweiundzwanzig in einem ursprünglich für höchstens zwölf Personen bestimmten Raum. Dem Überwerfen der notwendigsten Kleidungsstücke folgte draußen auf dem Hof der Waschprozeß; abgetrocknet wurde an den Bettlaken, die von der Nacht her noch etwas Wärme konservierten. Einige Aristokraten der Gesellschaft, zu denen ich leider nicht gehörte, hatten es bis zu einem Handtuch gebracht. Nur ein Stück »Monstre-Savon« war mir von Langres her geblieben.

Nun begann der Morgenspaziergang, und zwar in einem mit Flußkieseln bestreuten Hofe, der vierzig Schritt lang und fünfzehn Schritt breit sein mochte. Von diesen fünfzehn Schritt in der Breite waren aber wieder fünf Schritt zu einer Art Terrasse abgeschnitten, welch letztere ein Allerheiligstes bildete, das von uns nicht betreten werden durfte. Es war die »Gartenanlage« der Zitadelle, auf deren Beeten etwas Kerbel und Petersilie, an der Wand aber ein wie verkrüppelte Georginen aussehendes Strauchgewächs wuchs. Es trug Tomatenäpfel, die nicht reif werden wollten.

Wie es für etwa achtzig Menschen möglich wurde, auf diesem Stückchen Hof ein oder zwei Stunden lang spazieren zu gehen, weiß ich nicht; gleichviel es geschah. Der blaue Himmel, die Morgenfrische taten meinen Sinnen wohl; nur wurde dies Behagen durch unliebsame Töne aus der Ferne her häufiger unterbrochen, als mir angenehm sein konnte. Es war in der Regel 7 Uhr; eine Salve krachte herüber; das Echo antwortete in den Bergen. Eine Gruppe trat dann zusammen, einer warf den Zigarrenrest in die Luft und sagte ruhig: Heute werden drei erschossen. Ich konnte nicht gleichgültig dabei bleiben; wie ein physischer Schmerz ging es mir oft durch die Brust.

Die Promenade wurde fortgesetzt; die meisten lachten, plauderten; wenige trugen schwer. Zwischen 8 und 9 Uhr hieß es in viertelstündigen Pausen: »à l'eau«, »du pain«, »la commission«, Schlachtrufe, die jedesmal ein halbes Dutzend Personen abriefen, die nun Wasser und Brot für die Gesamtheit herbeizuschaffen oder aber (»la commission«) die Extras in Empfang zu nehmen und zu verteilen hatten. Alle diese Rufe waren aber bedeutungslos neben dem Rufe »à la soupe«, der ungefähr um 9½ Uhr laut wurde. Nun stürzte alles der Küche zu und kam mit Schüsseln und Kübeln zurück, die eine leidlich gute Fleischbrühe enthielten; die einzig warme Mahlzeit, die vorschriftsmäßig und gratis verabreicht wurde. Ein gutes Stück Fleisch war wie ein Gewinn in der Lotterie.

Nach der Suppe begann eigentlich wieder eine mehrstündige Einschließung, die von 10 Uhr früh bis 4 Uhr nachmittags zu dauern hatte. Dies wurde aber nie in voller Strenge innegehalten, einesteils wohl, weil wir ohnehin über alle Gebühr hinaus eingepfercht waren, anderenteils, weil wir tagelang Regenwetter hatten, und die uns dadurch auferlegte totale Einsperrung an den klaren Tagen schon um unserer Gesundheit willen wieder ausgeglichen werden sollte. Ein starker Bruchteil der Gesellschaft zog sich aber um 10 oder 11 Uhr von selbst, aus eigenem Antrieb, in die Kasemattenräume zurück, um sich zu strecken oder Briefe zu schreiben oder Dame zu spielen. Dies letztere geschah in ziemlich ingeniöser Weise. Auf jeder Pritsche befand sich ein mit Bleistift oder Tinte aufgezeichnetes Damenbrett, dessen Steine einerseits aus den leicht beschaffbaren Kieseln des Hofes, andererseits aus rund geschnittener Brotkruste bestanden. Alle Franzosen spielen es gern und mit besonderem Geschick. Mitunter verirrte sich ein Zeitungsblatt in unsere Mitte; hinter dem letzten Bettstand, der mit seinen aufgetürmten Strohsäcken wie ein Schirm wirkte, etablierte sich auch wohl eine geheime Pikettpartie; unbeweglich daneben saß der penseur libre und las Abhandlungen über die Frage: »Wann einer Zeugenaussage zu trauen sei und wann nicht.«

Endlos waren diese Stunden von 10 bis 4 Uhr; sie hatten aber doch ihre Unterbrechungen: einmal, wenn der Kommandant der Zitadelle und der Rondeoffizier ihren Umgang hielten, namentlich aber, wenn »Neue« eintrafen oder die in bloßer Untersuchungshaft gehaltenen aus dem Verhör in der Stadt zurückkamen. Durch diese Elemente hingen wir mit der Welt zusammen und folgten dem Laufe der Politik und des Krieges. Ob das Berichtete wahr war oder nicht, war der Mehrzahl völlig gleichgültig; es unterhielt doch. Den einen Tag war General Moltke erschossen, den nächsten Tag gefangen, den dritten hatte er einem Kriegsrate präsidiert; der König, der Kronprinz, Prinz Friedrich Karl, alle waren sie einige Tage lang tot, um dann wieder unter den Lebenden zu erscheinen. Es fiel keinem ein, sich über diese Widersprüche zu verwundern; man nahm sie als selbstverständlich hin; ja, man war vielleicht dankbar dafür. Der Stoff wuchs auf diese Weise. Etwa in der Mitte des Monats erschien Garibaldi in Besançon; drei, vier Tage später hieß es: »Die Preußen rücken an«; mit beiden Nachrichten hatte es ausnahmsweise seine Richtigkeit. Es wurde viel von »in die Luft sprengen« gesprochen, und im großen und ganzen bemächtigte sich des deutschen Elements ein wenig behagliches Gefühl bei der Aussicht, von den eigenen landsmännischen Granaten totgeschossen zu werden. Ich machte dem liebenswürdigen Kommandanten der Zitadelle, der sich oft halbe Stunden lang mit mir unterhielt, eine halb scherzhafte Vorstellung darüber, worauf er ruhig antwortete: »Ja, diese Obergewölbe sind in fünf Minuten weggeblasen.« Der Trost, der uns daraus erfloß, war begreiflicherweise gering.

Die Preußen (es war die badische Division) hatten sich uns inzwischen mehr und mehr genähert. Am 23. hieß es: »Heute gibt es eine Schlacht; acht Kilometer von hier, bei Chatillon müssen sie zusammenstoßen.« Und in der Tat, es kam zu einem Gefecht. Wir hörten deutlich den Donner der Kanonen, und von dem Tisch unseres Gefängnisses aus, der uns gestattete, durch die obersten Scheiben hindurch über die Festungsmauer fortzusehen, folgten wir einzelnen Bewegungen nachrückender französischer Bataillone. Einige von uns schwuren, den Lichtstreifen fliegender Granaten deutlich an dem schwarzgrauen Regenhimmel gesehen zu haben. Um 5 Uhr abends kam Meldung aus der Stadt: »1200 Badois sont faits captifs; ils arriveront ce soir encore.« Zwei Stunden später trafen auch wirklich die Gefangenen ein. Es waren aber nur fünf. Als ein echter Oberländer gefragt wurde, »wo denn die 1200 seien«, antwortete er ruhig: »'s is halt a Trost, wenn mer mit 500 ins Gefecht geht, kann mer nit 1200 verliere.« Ich übersetzte es, was sofort allgemeine Heiterkeit erweckte. Von Groll keine Spur.

So war es Sonntag den 23. Oktober. Ähnlich an anderen Tagen. Wir lebten von Gerüchten. Erst die »Abendsuppe«, die bei Dunkelwerden serviert wurde, machte regelmäßig der politischen Diskussion und – dem Tage selbst ein Ende. Mit dem Moment, wo die Blechlöffel wieder hinter dem Brett steckten, fiel der Vorhang. Die Nacht begann.

Nun rasselte, wie am Morgen, das Schlüsselbund; der Sergeant, ein alter grognard, passierte abermals unsere Reihen mit hochgehobener Laterne, zählte die Häupter seiner Lieben und verschwand dann mit einem freundlich-bärbeißigen: »Bon soir, messieurs.« Eine halbe Stunde später lag alles ausgestreckt unter den Decken, jeder mit einer Nachtmütze über der Stirn, und nur »le raconteur« hockte noch auf seinem zusammengerollten Zeugbündel und wartete auf das Signal zum Erzählen. Er war die Scheherezade dieses Kreises, dem die Aufgabe oblag, den Sultan »Volk« in Schlaf zu erzählen. Es gab ein halbes Dutzend Lieblingsgeschichten: le dragon vert, le curé est le saint esprit, Mylord à Paris, – alle liefen sie auf Liebesabenteuer, auf Spott gegen die Geistlichkeit und auf Ridikülisierung der Engländer hinaus. Das letztere war meist das wirksamste. Unendliche Heiterkeit begleitete diese Vorträge, und nie hätte ich es für möglich gehalten, in einem Kasemattengefängnis einem solchen Übermaß von guter Laune, von Lachen und Ausgelassenheit zu begegnen. Ich stimmte dann und wann mit ein, ohne recht zu wissen, um was es sich handelte. Das Lachen selbst war so herzlich, daß es mit fortriß.

Diese Erzählungen dauerten oft zwei Stunden. Um 8 Uhr hielten dann mehrere Trommeln und Hörner, eine Art großer Zapfenstreich, ihren Umgang um die Zitadelle, und in dem Moment, wo sie schwiegen, klangen von Besançon die Abendglocken der Kathedrale herauf. Ein paar leidenschaftliche Raucher fuhren manchmal mit dem Streichholz über die Wand hin, um die verglimmende Pfeife neu zu beleben; ein flüchtiges Licht blitzte durch den dunkeln Raum; noch ein paar Züge, dann schliefen auch sie. Alles still. Nacht lag über der Zitadelle von Besançon.

 


 << zurück weiter >>